Die Muse der Literaten
Da denkt man an nichts Böses, schlägt die Zeitung auf, liest eine Schlagzeile, blickt auf das abgedruckte Foto – und plötzlich holt einen die verdrängte Vergangenheit wieder ein wie ein schlechter Film. So ergeht es Lukas Moskowicz (32) im April 2010: »Philipp Bach, German Poet and Novelist, Dies at 59« springt ihm ins Auge, als er am Tresen von »Fanelli’s Café« in Manhattan die New York Times durchblättert. Vor Erregung kann er sich kaum mehr auf seinem Barhocker halten.
Lukas und Philipp kannten sich. Immer mal wieder war man sich schicksalhaft über den Weg gelaufen, und man war sich nicht grün.
Der ostdeutsche Schriftsteller Bach hatte 1976 – kurz nach Rolf Biermann – nach West-Berlin rübergemacht, 1977 in der BRD seinen Debütroman »Miss Bohemia« veröffentlicht und damit einen kometenhaften Durchbruch hingelegt. Er wurde als der neudeutsche Literat gerühmt.
Da hatte der Journalist Moskowicz schon ein paar Romane mehr geschrieben. Doch Bach schmähte ihn zeitlebens als Schreiberling der Unterhaltungsbranche.
In Mathias Noltes Roman »Miss Bohemia« schwelen, köcheln, brodeln und blubbern ganz herrlich die schwer zu beherrschenden Animositäten unter Literaten. Keiner der beiden Protagonisten Moskowicz und Bach würde je zugeben, wie quälend er von Neid und Missgunst zerfressen wird, wie ihn die Angst umtreibt, der Rivale könne ahnen, woran er gerade schreibt, seine Ideen klauen oder vorab schlechtreden.
Jetzt ist Philipp Bach also tot. Man hat ihn »in der Nähe der Glienicker Brücke am Ufer der Havel« gefunden. Für Moskowicz steht sofort fest: ein natürlicher Tod wird es nicht gewesen sein. Vielleicht hatte sich der ewige Säufer und Kettenraucher ja die Kante gegeben, sich selber umgebracht, oder jemand hat ihn aus dem Weg geräumt, warum auch immer. Diesen Gedanken nachhängend, wendet Moskowicz sich wieder dem Artikel und den beigefügten Fotografien zu – und blickt neben Philipp Bachs Gesicht in ein anderes, das er mit größter Mühe aus seinem Gedächtnis verbannt hatte: Tara heißt seine Trägerin, inzwischen 29 Jahre alt.
Moskowicz hat sie 2005 kennengelernt, zwei Tage vor Heiligabend. Er hatte sich ein Häuschen an einem Strand der Florida Keys gemietet, wo er abtauchen, sich auf sein Manuskript konzentrieren, seinen neuesten Roman endlich zu Ende bringen wollte. Da kommt Country-Musik herangedröhnt, und ein hellblauer 78er Lincoln Continental rauscht dreist in seine Einfahrt. Dem immer noch noblen Straßenkreuzer entsteigt eine junge Dame in Cowboystiefeln, weißen Shorts und einem durchgeschwitzten T-Shirt mit dem Aufdruck »It’s better to be a pirate than to join the navy«. Auf der Beifahrerseite zeigt sich zunächst nur ein ebenfalls cowboybestiefeltes Bein, dann eine Hand, deren Finger eine Flasche umschließen, schließlich der dazugehörige Mann und ein allzu bekanntes Gesicht: Philipp Bach.
Die Begrüßung ist überschwänglich, und wie immer triefen Spott und Verachtung, kaum verkleidet, auf Lukas hernieder. Zwei Jahre auf den Keys, um Kraft zum Schreiben zu haben? »Was erzählst du da für einen Schwachsinn, du Tucke?« Vorbei ist es mit weihnachtlicher Ruhe und Besinnung; es werden heiße, stürmische Tage. Die schöne, leicht durchgeknallte Tara macht Moskowicz völlig kirre, verführt ihn bei Sonnenaufgang am Strand. Er will es nicht wahrhaben, Liebe nicht zulassen, aber es ist schon um ihn geschehen.
Eine heimliche Ménage-à-trois nimmt ihren Anfang, von der Bach allerdings auf keinen Fall erfahren darf – der athletisch gebaute Boxer könnte gewalttätig werden. Moskowicz belässt es also bei genüsslich empfundener Genugtuung und gepflegten Rachegelüsten gegenüber dem sich arrogant gebenden Bach, dem vermeintlich intellektuell Überlegenen.
Der Roman? Für so eine Arbeit ist Moskowicz zu sehr von der Rolle; er muss das Projekt erst einmal aufschieben. Er kehrt nach Berlin zurück, wo Tara mit Bach zusammenlebt, und trifft sich immer wieder mit ihr. Tara will Bach aber auf keinen Fall verlassen; sie ist seine Muse und hat ihm ganz offensichtlich Modell gestanden für Sabrina, die zentrale Figur seines Erstlings »Miss Bohemia«. Jetzt steckt Bach aber schon seit Jahren fest in seinem Projekt »Roman des Jahrhunderts« und kommt kein Stück voran damit. Ein paar Manuskriptseiten stehen bereits – ein Nichts angesichts der tausend Seiten, die er für dieses Lebenswerk anberaumt hat. Wenn es vollendet ist, soll es sich auf Augenhöhe mit Dantes »Göttlicher Komödie« oder Vergils »Aeneis« befinden …
Tara ist ein Wesen, bei dem man nicht recht weiß, wie man dran ist. Das Tattoo auf ihrem Hinterteil ist Symbol und Markenzeichen: Es verbindet die Schnelligkeit eines Delphins mit der Beharrlichkeit eines Ankers, und so wie sich jener im Bild um diesen windet, hat Tara dank ihres zielorientierten Handelns alles im Griff. Dabei ist sie mit allen Wassern gewaschen, gaukelt Moskowicz zum Beispiel vor, ihre Beziehung mit Bach sei beendet, und dirigiert ihn damit in die Fremdbestimmung.
Bis 2008 alles vorbei ist. Ohne Vorbereitung und ohne nähere Begründung überrumpelt Tara den sprachlosen Moskowicz mit ein paar Wörtern: »Tut mir leid, Lukas. Es geht nicht, wirklich nicht. Ich kann dich nicht mehr sehen …« So unspektakulär beendet sie die glücklichste Zeit in seinem bisherigen Leben.
Mathias Noltes Roman »Miss Bohemia« spielt auf verschiedenen Zeitebenen und an wechselnden Orten, wobei Berlin mit seinen typischen Wohngegenden, Hinterhöfen, Kneipen, Künstlervierteln vor und nach der Wende die Hauptbühne stellt. Mit Philipp Bach tauchen wir in die Vergangenheit ein. Als Kind lebt er auf Rügen, zieht dann mit den Eltern nach Berlin und lernt den jungen Schriftsteller Franz Krohn kennen, der dem achtjährigen Schlüsselkind aus Kästners Kinderbüchern vorliest. Krohn, Philipps Vertrauter und Vorbild, reüssiert später als erfolgreicher Autor in der DDR und bleibt dort, als Bach sich gen Westen aufmacht.
Franz Krohn, ein aktuelles Manuskript, Bachs plötzliche Flucht und die geheimnisvolle Tara – dies sind die Eckpunkte des Romans. Am Ende sind sie durch ein kunstvolles, kompliziert eingefädeltes Konstrukt verknüpft, das nicht einfach zu durchschauen ist. Allzu viele Identitäten schwirren einem durch den Kopf, und man glaubt es kaum, welche Verbindungen sie miteinander hatten, welche Bedeutung Verrat und Rache einnehmen. Wenn zu Beginn Bachs Leiche entdeckt wird, spekuliert man darauf, dass ein Verbrechen, seine Hintergründe oder seine Aufklärung eine vorrangige Rolle spielen könnten; im Mittelpunkt steht jedoch die in kühlem Ton erzählte Liebesgeschichte. Erst am Schluss kehrt das Krimi-Motiv zurück.
Fazit: Ein geistreicher, anspruchsvoller, vielleicht etwas zu artifiziell konzipierter Roman über eine verführerische, rätselhafte, Männer manipulierende junge Frau. Ihr duales Liebesabenteuer erzählt Mathias Nolte zart-sinnlich und kommt dabei erfreulicherweise ohne jegliche Obszönität aus. Ein thematisches Anliegen ist die kritische Auseinandersetzung mit dem Literaturbetrieb, die in feiner Ironie geführt wird.