Melody
von Martin Suter
Ein todgeweihter alter Herr erzählt seine Lebensgeschichte, auf dass sein Adlatus sie zu einer strahlenden Biographie gestalte. Doch in seinem melancholischen Inneren hängt der bekannte Erfolgsmensch der Liebe zu einer Frau nach, die er in jungen Jahren auf unerklärliche Weise verlor.
Ein geheimnisvolles Verschwinden
Alles spricht dafür, dass Dr. Peter Stotz ungeachtet seiner 84 Lebensjahre ein glücklicher Mann sein muss. Als Geschäftsmann, Unternehmensberater und Nationalrat hatte er große Erfolge, scheffelte Geld und gewann Einfluss, als Königsmacher und Kunstmäzen erwarb er sich einen guten Ruf, und nun kann er einen sorglosen Lebensabend genießen. In seiner Villa nebst gut gefülltem Weinkeller und einer Garage voller Nobelkarossen wird er von der Haushälterin Mariella und dem Faktotum Roberto umsorgt. (Die Details des glamourösen Milieus der Schweizer upper-class sind uns aus früheren Suter-Romanen hinreichend vertraut.)
Allerdings verrinnt auch die Zeit eines Dr. Peter Stotz ihrem unaufhaltsamen Ende entgegen. Vielleicht ein Jahr bleibe ihm noch, hat sein Arzt diagnostiziert. Die kostbaren Monate will er nutzen, um seinen Nachlass zu ordnen, und dazu benötigt er einen qualifizierten Helfer. Die Chiffre-Anzeige in der Zeitung spricht von einem vertrauenswürdigen, gebildeten, jüngeren Mann mit juristischen Vorkenntnissen und bietet eine Vollzeitbeschäftigung bei fairer Entlohnung.
Suters dreiteiliger Roman beginnt mit Tom Elmer, dem Mann, der sich von der Annonce angesprochen fühlt. Er ist um die dreißig, hat Jura-Abschlüsse aus der Schweiz und aus London in der Tasche und wollte ihnen in New York einen weiteren hinzufügen. Doch zu seinem Unglück entfiel die großzügige Unterstützung durch die Eltern unter tragischen Umständen. Jetzt gilt es, sich als Arbeitsloser bei Vorstellungsgesprächen zu bewähren, was bislang noch nicht recht gelingen wollte.
So wartet er vor dem schmiedeeisernen Tor der Villa am Zürichberg auf Einlass. Frisch vergoldete Lettern mahnen vom Giebel der ansonsten verwitterten Fassade: »Tempus fugit, amor manet«. Am Ende des Romans wissen wir, mit welch bitterer Ironie dieser Sinnspruch das Leben des Bewohners überschattet hat: »Die Zeit vergeht, die Liebe bleibt«.
Am Kaminfeuer des Salons ist Dr. Stotz tief im Ledersessel versunken, und der einst elegante Maßanzug umhüllt viel zu weit seinen ausgemergelten Körper. Doch seine Würde ist ungebrochen, als er dem Bewerber die Arbeitsplatzbeschreibung vorträgt. Es gehe darum, »der Nachwelt ein bestimmtes Bild von mir zu vermitteln«. Dazu solle der Kandidat unzählige Kartons sichten, geeignetes Material von unbrauchbarem trennen, das eine shreddern und aus dem anderen eine Vita von Glanz und Gloria erstellen – wobei die Wahrheit durchaus aufgehübscht werden dürfe. Der unkündbare Jahresvertrag umfasst neben großzügigem Salär auch Kost und Logis. Tom unterzeichnet und zieht in die Gästewohnung ein.
Nach des Tages Arbeit sitzen die beiden Männer gern zu einer gepflegten Abendkonversation bei edlen Weinen und kostbaren Armagnacs beisammen. Dabei erfährt Tom nach und nach, was es mit der wunderschönen Frau auf sich hat, deren lebensgroße Ölportraits die Wände zieren. Sie war die unsterbliche Liebe des Dr. Stotz, der sie nach kurzem Glück verlor und die dennoch sein ganzes weiteres Leben bestimmte und ihn – ungeachtet seines äußerlich glanzvollen Auftretens – zu einem tragisch leidenden Melancholiker machte.
Etwa vier Jahrzehnte zuvor hatte Peter die zwanzigjährige Buchhändlerin Tarana (dt. »Melodie«) kennengelernt und sich augenblicklich in die dunkelhäutige Schönheit verliebt. Obwohl ihre Familie marokkanischen Ursprungs bereits eine Verbindung mit einem jungen Muslim arrangiert hatte und sich der Beziehung zu dem doppelt so alten Schweizer widersetzte, zog die junge Frau in Peters Villa ein, und die beiden planten eine große Hochzeitsfeier. Doch als das handgefertigte Brautkleid aus französischer Haute Couture geliefert wurde, war »Melody« spurlos verschwunden.
Die skandalträchtige, mysteriöse Geschichte von der abhanden gekommenen Braut eroberte die feine Zürcher Gesellschaft im Fluge und haftete wie ein Makel an dem prominenten Dr. Stotz. Mehr als am Tratsch litt er an gebrochenem Herzen und konnte den Verlust nie wegstecken. Unermüdlich analysierte er jedes Detail der Umstände des Verschwindens, recherchierte, reiste in viele Länder: alles vergebens.
Wie wird Tom mit diesen Informationen verfahren? Schließlich will der Todgeweihte, dass er eine gute Story daraus macht. Ist das Erzählte reine Fiktion oder bereits teilweise zurechtgebogen? Andererseits wirkt das große Haus, in dem die Angebetete von allen Wänden auf den Betrachter herniederblickt, auf ihn wie ein wahrer Schrein der verlorenen Liebe.
Nach Dr. Stotz’ Ableben bleibt Tom am Ball und beginnt (im zweiten Teil des Romans) eigenständige Nachforschungen. In der Vergangenheit der Liebenden findet er immer mysteriösere und erschreckendere Dinge heraus – und nichts davon ist für uns vorhersehbar! Egal wie stark unsere Verblüffung über die raffinierten Wendungen des Geschehens, wie stark unsere Neugier und Anspannung, was noch alles kommen mag – der bekannte Sutersche Erzählstil plätschert ruhig und gediegen dahin, die Formulierungen sind konventionell, aber elegant, auf den Punkt präzise und differenziert. Einfach meisterlich.
So ist auch »der neue Suter« rundum empfehlenswert. Die ungewöhnliche Mischung atmosphärischer Stimmungen verschaffen großen Lesegenuss: Die mondäne Welt des Protagonisten, den größte Erfolge und bittere Verluste geprägt haben, der kalt entscheiden und unsterblich lieben kann, dessen Wesen in äußeren Glanz und innere Melancholie gespalten ist, dem das Bewusstsein der Todesnähe Stärke und Entschlusskraft verleiht, das sind die Elemente einer zarten Melodie in Moll, die den Grundton des Romans ausmacht.
Als Bonus lässt uns Martin Suter an den kulinarischen Genüssen seiner Figuren teilhaben. Mariella, die sardische Köchin, verwöhnt ihren Arbeitgeber mit den köstlichsten Gerichten aus ihrer Heimat, wie zum Beispiel Coniglio alla sarda. Für alle, die nachkochen möchten, verweist der Autor auf die Rezepte im Kochbuch »La Mia Cucina« von Patrizia Fontana.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2023 aufgenommen.