Alles auf Rosarot
Wie könnte man wohl Barron, der als Zehnjähriger eine eigene Etage in den Trump Towers bewohnt, ein Lächeln ins gelangweilte, müde Gesicht zaubern? Worüber mag ein Kind, das wie Amerikas First Kid in materiellem Überfluss und Protz aufgewachsen ist, noch wahre Freude empfinden? Für solch hyperreiche Kreise hat ein Wissenschaftler jetzt das ultimative Spielzeug entwickelt. Echtes Leben, auf der Basis eines von Mutter Natur über Jahrmillionen entwickelten Geschöpfes inklusive all seiner Sinne, Regungen und Empfindungen, aber ganz nach (gutem oder gruseligem) Geschmack des Käufers gepimpt – exklusiver geht's kaum.
Und es ist ein Win-Win-Projekt. Der Besteller darf sich wie Gott als allmächtiger Schöpfer allein durch das Wort fühlen, während dem ausführenden Genmanipulator durch seine Patente ein todsicheres Geschäftsmodell mit exorbitanten Erträgen und unerschöpflichem Zukunftspotenzial offensteht. Seine Zielgruppe ist überschaubar, aber für maßlose Verschwendung ausgestattet.
Dieser makabre Auswuchs modernster Genforschung ist die Grundlage von Martin Suters Roman »Elefant«. Da fällt einem ahnungslosen Zürcher, der das keineswegs geordert hat, tatsächlich so ein runzliges rosafarbenes Rüsseltierchen, gerade einmal 40 cm lang und 30 cm hoch, vor die Füße. Science-Fiction muss man dazu nicht bemühen. Längst sind Schweine, Schildkröten und Chihuahuas erfolgreich geschrumpft worden. Und für Biolumineszenz hat uns die Natur mit den Glühwürmchen eine Steilvorlage geliefert, die wir nur noch abzukupfern und mit einer Installationsroutine für alle Farben des Regenbogens zu bereichern brauchen, um den Markt der Eitelkeiten mit putzigen kitschfarbigen Winzlingen, die im Dunklen strahlen wie Leuchtreklame, in begierige Erregung zu versetzen. Während wir uns beim Lesen der Geschichte der kleinen Elefantenkuh Sabu Barisha noch staunend die Augen reiben, mag irgendwo auf der Welt, wahrscheinlich in den Ländern der entfesselten Möglichkeiten jenseits des Atlantiks oder im fernen Osten, längst eine reale Kollegin von ihr durchs Labor tröten. So kann Suter seinen Plot, der im April 2013 einsetzt, schon im April 2018 wieder enden lassen.
Schoch, der Zürcher, war einmal Investmentbanker, stürzte aber nach dem Scheitern seiner Ehe aus der Wohlstandsgesellschaft (War er womöglich auch in die Machenschaften des letzten Suter-Hits »Montecristo« verwickelt?) und haust nun als gemäßigter Obdachloser am Uferrand der Limmat in einer Erdhöhle, seinem »Fluss-Bett«. Diszipliniert hält er Relikte seines Vorlebens aufrecht (trinkt vor zehn Uhr keinen Alkohol, wäscht sich, putzt sich die Zähne), und mit den Nebenwirkungen seines alltäglichen Getränkequantums, Halluzinationen zum Beispiel (»seeing pink elephants« umschreibt das Englische das Phänomen), hat er sich arrangiert.
Als Schoch am Morgen des 12. Juni 2016 tief in seiner Höhle ein verschüchtertes Elefäntchen erblickt, dauert es dennoch ein Weilchen, bis er akzeptieren kann, dass das kleine Etwas weder ein Plüschtier noch ein unförmiges Marzipanschweinchen ist, sondern unverkennbare Lebenszeichen von sich gibt. Es bewegt die Ohren, hebt den Rüssel, hinterlässt winzige Dungknollen und hat sichtlich Hunger. Schoch fasst Zutrauen zu dem hilflosen Wesen, das, warum und von welcher Macht auch immer, ausgerechnet in seine Hände gegeben wurde, und muss nun Verantwortung dafür übernehmen.
Das geht leider schief. Von dem Grünzeug am Uferrand und dem Limmat-Wasser, mit dem er das Tierchen versorgt, bekommt es ungebremsten Durchfall. Er wendet sich an Tierärztin Valerie Sommer, die für die vierbeinigen Kameraden der Obdachlosen Gratissprechstunden anbietet. Die Diarrhö hat sie schnell im Griff, vor allem aber begreift sie sofort die ungeheuerlichen Dimensionen ihres Patienten (eine nobelpreiswürdige Weltsensation) und was für Risiken im Spiel sein könnten. Umgehend bringt sie Schoch und sein Höhlentier in einem sicheren Versteck unter.
Dies ist der eine Handlungsfaden dieses rosaroten Romans. Im zweiten kommen Wissenschaft und Big business ins Spiel.
Der Gentech-Experte Dr. Roux forscht, von einem chinesischen Unternehmen tatkräftig unterstützt, seit Jahren an minimierten Versuchstieren mit Leuchteffekten und schafft den Durchbruch, nachdem er in einem abgehalfterten Wanderzirkus eine geeignete Elefantenkuh als Leihmutter für sein Zielprodukt gefunden hat. Doch er hat seine Rechnung ohne Kaung, den Zirkus-Mahout, gemacht. Für diesen zutiefst religiösen Elefantenflüsterer aus Myanmar ist das neugeborene Kind seiner tierischen Partnerin ein einmaliges, anbetungswürdiges Wunder der Schöpfung, und er erkennt, dass er es vor geldgierigen Geschäftemachern schützen muss. So nimmt eine globale Verfolgungsjagd ihren Lauf.
Damit hat Erfolgsautor Martin Suter eine aktuelle und relevante Thematik als Sujet für einen hübschen Roman mit märchenhaften Zügen gewählt. Dass er dafür die Gentechnologie – ein unendlich komplexes Minenfeld voller ethischer und moralischer Grundsatzfragen – auf wenige plakative Aspekte reduziert, ist legitim, denn ihm geht es in erster Linie um gefällige Unterhaltung vor ernstem Hintergrund. Suters typischer lakonischer, sanft ironischer Ton, das unprätenziöse Vokabular, die Strukturierung in übersichtliche Lesehäppchen mit locker zu bewältigenden Zeit- und Ortssprüngen sowie ein rundes Happyend auf einigen (nicht auf allen) Ebenen prädestinieren das Buch zum Bestseller, aber es ist handwerklich auch perfekt gemacht. Der Plot läuft in allen Facetten stimmig ab, und die Erzählung eröffnet anschaulich die unterschiedlichsten Perspektiven (von den höchsten Gipfeln der Naturwissenschaftler und der Finanzmogule über ehemals schillerndes Zirkusleben bis zum tristen Alltag der Zürcher Obdachlosenszene). Im Nachwort dankt der Autor den namentlich genannten Experten, die ihn über Genetik, Hirnforschung, Elefanten und »Randständige« sachkundig informiert und beraten haben.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2017 aufgenommen.