Die Herren der Zeit
In einer Wohngegend aus den Sechziger Jahren – dreistöckige Wohnblocks, deren Fassaden mit Waschbeton verkleidet sind – lebt Peter Taler, 42. Vor genau einem Jahr hat man seine Frau Laura vor der Haustür hinterrücks erschossen. Seitdem ist Taler nicht mehr der alte. Hätte er das Verbrechen womöglich verhindern können? Die Frage nach seiner möglichen Mitschuld verstärkt noch die Besessenheit, mit der er fortan sein einziges Lebensziel verfolgt: den brutalen Mörder zu stellen. Die Bemühungen der Polizei sind seiner Meinung nicht sonderlich engagiert gewesen.
Die meiste Zeit verbringt Taler am Fenster, starrt hinaus, beobachtet, vergleicht die Bilder von früher und heute vor seinem inneren Auge. Irgend etwas ist anders … Noch ist es nur ein Gefühl, aber er wird Fotos machen und recherchieren.
In dem Bauunternehmen, wo Taler als Buchhalter arbeitet, hat man bisher Verständnis für ihn aufgebracht, doch langsam läuft die Schonfrist ab; wenn er nicht zur Normalität zurückfindet, wird er die Konsequenzen zu spüren bekommen.
Die Nachbarn aus dem Gustav-Rautner-Weg meiden den Einzelgänger, der sich zurückgezogen hat in seine Wohnung, in der er nichts verändert, in der ihn alles an Laura erinnert. Jeden Tag kocht er, deckt den Tisch für zwei, legt eine angezündete Marlboro in den Aschenbecher und wartet auf seine Geliebte.
Im Haus gegenüber wohnt ein anderer Kauz: der 82-jährige pensionierte Lehrer Albert Knupp. Meistens wirkt er in seinem Garten, ohne irgend jemanden zu beachten oder zu grüßen. Wie Taler hat auch er seine Frau verloren; sie verstarb vor zwanzig Jahren nach einer Kenia-Reise an der Malaria, und auch er quält sich mit Selbstvorwürfen. Taler und Knupp scheinen füreinander bestimmt zu sein.
Zunächst geht Taler seiner Vermutung nach, dass Knupp etwas mit Lauras Tod zu tun habe. Er fühlt sich von Knupp beobachtet, glaubt, er mache von seinem Dachfenster aus Fotos von ihm. Forsch klingelt er an Knupps Tür, hält ihm Fotos vor, die er seinerseits von Knupp gemacht hat, und wird überraschenderweise ins Haus gebeten. Schnell kommt Knupp zur Sache: Er brauche Hilfe für ein Experiment, und Taler sei genau der Richtige, um ihm aktiv zur Seite zu stehen.
Knupps Ziel ist, die Zeit zu überlisten. "Die Zeit vergeht nicht, alles andere vergeht." Inspiriert durch Theorien und Experimente, von denen er in dem (fiktiven) Buch "Der Irrtum Zeit" von Walter W. Kerbeler gelesen hatte, möchte er einen Tag in der Vergangenheit in allen Details wiederaufleben lassen, ihn erneut durchleben und könnte dadurch seinen Lebensweg von jenem Zeitpunkt an in eine andere Richtung lenken. Damit wäre bewiesen, dass Zeit nicht existent, sondern reine Illusion ist: "Wenn es Ihnen gelingt, die Momentaufnahme eines beliebigen Tages exakt zu rekonstruieren, dann haben Sie die Zeit für diesen Moment aufgehoben und befinden sich in diesem."
Am besten geeignet für das Experiment ist der 11. Oktober 1991, denn davon hat Knupp besonders viele Fotos. Obsessiv getrieben, arbeitet Knupp mit antiquarischen Hilfsmitteln – einem Theodoliten und einer Camera obscura -, um die damaligen Zustände präzise zu erkunden. Taler ist fasziniert, macht mit, gibt damit seinem leeren Leben noch einen Sinn. Für das aufwändige Projekt sind gigantische Summen aufzubringen, wofür Taler seine Ersparnisse auflöst und später die Bücher seines Arbeitgebers manipuliert. Dass er sich damit seiner Existenzgrundlage beraubt, schert ihn nicht – er hat andere Pläne …
Nach dem packenden Start kommt Suter jetzt erst richtig in Fahrt, entfaltet seine von so vielen Lesern geschätzte Erzählkunst. Was er detailliert schildert, ist perfekt und haarsträubend zugleich. Knupp und Taler beauftragen ein Filmunternehmen, das die Wohnumgebung in ihren Urzustand zurückversetzt. Bäume müssen gefällt werden, um durch kleine aus ihrer eigenen Jugend ersetzt zu werden; inzwischen verschwundene Gehölze müssen wieder an ihren alten Platz gepflanzt werden; Hausfassaden werden auf alt getrimmt, Autos von damals aufgetrieben, umlackiert und exakt so geparkt wie an jenem Tag. Gewaltige Anstrengungen müssen unternommen werden, um den alten Teerbelag inklusive der Flickstellen aufzubringen und die Müllcontainer längst ausgemusterter Bauart aufzufinden. Natürlich müssen auch die Zimmer in Knupps Wohnung rekonstruiert werden und alles unverrückt an seiner Stelle stehen. Knupp hat sich schon seit Längerem mit Botox verjüngt.
Alles ist bereit, der Tag kann kommen. Was ist mit den Stecknadelköpfen, die waren doch damals nicht bunt? Und wird sich auch das Wetter auf dieses unerhörte Experiment einlassen?
Martin Suters neuester Roman "Die Zeit, die Zeit" spinnt einen Krimi-Plot aus und ist literarisch perlende, niveauvolle Unterhaltung. Zugleich ist er ein leichtes Spiel mit philosophischen und surrealen Motiven, das anregungsreich anknüpft an die jahrhundertelange Beschäftigung großer Denker und Künstler mit der Frage, was Zeit ist und für uns bedeutet – von Platon über Kant und Einstein bis zu Michael Endes Roman "Momo" (1973).
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Herbst 2012 aufgenommen.
Abschließend ein Tipp zum Weiterlesen: Marc Wittmann: Gefühlte Zeit. Kleine Psychologie des Zeitempfindens. In seinem kurz vor Suters Roman bei C.H. Beck erschienenen Buch untersucht der Autor die oben angeschnittenen Fragen auf populärwissenschaftliche, aber solide Weise und stellt gut verständlich an Hand vieler Beispiele dar, wie unser Verhältnis zur Zeit entsteht, was unser Zeitgefühl beeinflusst, ja sogar, wie wir selbst wieder etwas mehr zu Herren unserer Zeit werden können.