Dinner for six
Das Verfallsdatum von Ferienbekanntschaften folgt dem Rückflugtermin meist auf dem Fuße. Der proppenvolle Alltag drängt die Fremden schnell wieder in die Ferne, aus der sie uns für ein paar gemeinsam verbrachte schöne Stunden im Urlaubsparadies kurz nahegerückt waren.
Angie Finnegan fände es allerdings schade, wenn die netten Beziehungen aus ihrem Florida-Urlaub der Vergänglichkeit anheim fallen würden. Nicht dass sich daraus eine Freundschaft entwickeln sollte – bitte nicht! Aber wo doch alle drei Ehepaare in London wohnen, könnte man sich nach zwei Monaten mal zwanglos treffen und in Erinnerungen schwelgen. Die dreizehn Tage im Pelican Palms Resort, Sarasota, waren schließlich perfekt: all inclusive und unbeschwert, genüssliche Stunden zusammen am Pool, in der Bar, im Restaurant. Nur der letzte Tag brachte Aufregung, als eine geistig leicht behinderte Dreizehnjährige spurlos aus der Clubanlage verschwand.
Ehemann Barry ist zwar nicht gerade begeistert, aber Angie schreibt ihre Mail trotzdem: Einladung zum Dinner bei Finnegans in Crawley am 4. Juni. Und alle sechs erscheinen.
Der britische Bestsellerautor Mark Billingham entwickelt in seinem neuesten Kriminalroman »Rush of Blood« (übersetzt von Peter Torberg) ein Psychogramm dreier unterschiedlicher Paare. Wie der Titel suggeriert, erweisen sich ihre Beziehungen und ihre Verhaltensweisen als verlogen. Die Aura von Rechtschaffenheit, Aufrichtigkeit, Anstand und Harmlosigkeit, die jede einzelne Person schon im Urlaub kultivierte und nun fortführen möchte, zerbröselt im Verlauf dieses Dreiakters (auf die Einladung der Finnegans folgen zwei Gegeneinladungen). Der Autor hat diese bühnenreife Farce bis ins kleinste Detail durchkonstruiert, und die Lektüre ist das pure Vergnügen: amüsant, makaber, fesselnd.
Das Salz in der Suppe dieser Milieustudie aus abstiegsgefährdeten Mittelklassekreisen, denen es gut geht, die aber die Preisschilder im Supermarkt genau studieren müssen, ist der Kriminalfall um das im Pelican Palms Resort verschwundene Mädchen und seine spätere Schicksalsgenossin in London, gleich alt und ebenfalls leicht behindert. Der Verdacht, eine der sechs Personen an den drei Dinner-Tafeln könnte der Täter sein, schleicht unaufhaltsam in die abendlichen Runden und unterminiert die schwer aufrecht zu erhaltende harmonische Atmosphäre. Da wird der Leser gern zum Lauscher, zumal Billingham den Verdacht geschickt in alle Richtungen lenkt. Bis zum Schluss ist es fast unmöglich, den tatsächlichen Täter und seine Motivation auszumachen.
Die sechs Akteure werden hingegen immer transparenter. Hinter dem schönen Schein ihrer Fassaden kommen Scheinheiligkeit, Boshaftigkeit und Niedertracht ans Licht wie die subkutanen Geheimnisse der plastinierten Körper aus den »Körperwelten«. Bei den Abendmenüs plaudert man heiter lächelnd über Urlaubserlebnisse und Rezepte, über Einrichtung und Stil des Heims, über Aussehen und Erscheinungsbild, über Erfolg und Hürden im Beruf – und streut wie beiläufig winzige Nadelstiche, bissige Randbemerkungen, vage Verdachtsmomente ein, die nicht ohne vergiftende Wirkung bleiben. Ob im trauten Heim mit dem Ehepartner oder beim spontan mit der Freundin ausgeheckten Cocktail in einer Bar (ohne die Dritte im Bunde zu fragen), auch in Zwiegesprächen zieht man über die anderen her, lästert, hetzt, reißt Witze und tauscht Geheimnisse aus, die nicht lang geheim bleiben – peinlich mal für den Ausstreuer, mal für den Verräter, mal für den Empfänger. Die nach außen glänzenden Partnerschaften entpuppen sich als Zweckgemeinschaften. Jeder spielt dem andern eine Rolle vor, die der längst durchschaut hat und mehr oder weniger hinnimmt, um die subtilen Strukturen aufrecht zu erhalten.
Das gebrechliche Beziehungsgebilde gerät in größte Gefahr durch die emsige Arbeit von Jenny Quinlan, noch frisch im Polizeidienst und überengagiert. Mit ihr betritt eine ungeladene Fremde die gereizte Privatsphäre. Sie stellt Fragen, beharrt auf Antworten, kommt wieder, wenn sie auf Ungereimtheiten zwischen den Aussagen stößt. Sie befördert, dass Geheimnisse platzen, dass sorgsam gedeckelte Spannungen innerhalb der Paare und zwischen ihnen bis zur Zerreißprobe zunehmen und sich am Schluss entladen.
Die perfekt konstruierte Erzählstruktur trägt nicht wenig zum Gelingen dieses ungewöhnlichen, unterhaltsamen und packenden Krimis bei. Scheinbar willkürlich springt die Handlung zwischen den drei Abendeinladungen und den Perspektiven der einzelnen Personen hin und her. Wir kehren auch zum Tatort nach Florida zurück, um die dort ermittelnden Detektive und ihre Recherchearbeit kennenzulernen. Schließlich kommt der Täter selbst zu Wort (in der Ich-Perspektive): »Wenn ich so darüber nachdenke [...], dann frage ich mich, ob das, was passiert ist, nicht ... vermeidbar gewesen wäre, wenn sie nur aufgehört hätte zu lächeln.«
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2015 aufgenommen.