Jack
von Marilynne Robinson
Die Geschichte einer schwarz-weißen Liebesbeziehung im Amerika der Fünfzigerjahre, die alle Klischees auf den Kopf stellt, nirgendwo Akzeptanz findet und einer gesellschaftlichen Zerreißprobe ausgesetzt ist.
Aussichtslos
Im Nirgendwo der Prärien des mittleren Westens der USA liegt der fiktionale Ort Gilead, Missouri, wo sich nichts zu bewegen scheint und doch erschütternde Dramen abspielen, wie etwa die eigenartige, tragische Liebesbeziehung zwischen der ambitionierten Farbigen Della und dem Weißen Jack, der mit seinem zwiespältigen Charakter sein Leben nicht in den Griff bekommt. Die beiden erscheinen kaum kompatibel zueinander, und dennoch lieben sie sich wahrhaftig. Aber einen gemeinsamen Lebensentwurf selbstbestimmt und frei zu gestalten ist für sie undenkbar. Die strikte Rassentrennung in ihrer Zeit – es sind die Fünfzigerjahre – und die strengen Regeln der dominanten christlichen Glaubensgemeinschaften der Gegend stellen ihnen unüberwindbare Hindernisse entgegen.
Beide sind in engagiert protestantischen Elternhäusern großgeworden. Della ist die Tochter eines angesehenen Methodisten-Bischofs aus Memphis. Sie weiß, was sie ist und kann und strebt klare Ziele an. Jetzt arbeitet sie als Lehrerin an einer Highschool.
Jacks Vater ist Presbyterianer-Prediger und ebenfalls hoch geachtet, doch sein jüngster Sohn hat ihm noch nie Ehre gebracht. An Begabungen fehlt es ihm nicht. Er formuliert brillant, ist gebildet, anspruchsvoll belesen und beschäftigt sich gern mit schwierigen existentiellen Grundsatzproblemen. Aber als Student hatte er eine Minderjährige geschwängert und im Stich gelassen, tingelte dann durchs Leben, klaute seine Bücher in Bibliotheken, schlug sich mit Alkohol und Kleinkriminalität durch, landete im Gefängnis, wo man ihn den »Professor« nannte. Dass die Eltern derweil das zurückgelassene Kind in ihre Obhut genommen hatten, dankte er ihnen nicht, sondern ließ sich über zwanzig Jahre nicht mehr zu Hause blicken. Trotz seiner Überheblichkeit, seiner Ecken und Kanten, Widersprüchlichkeiten und Probleme ist er immer der Liebling seines Vaters geblieben.
Jack, eine Art verlorener Sohn, steht im Mittelpunkt des Plots dieses Romans. Kann er trotz aller Widrigkeiten eine Liebesbeziehung mit einer Frau wie Della unterhalten? Wird er eine Chance bekommen, sein verkorkstes Leben zu ordnen – und wird er sie nutzen können? Wer Marilynne Robinsons »Gilead«-Trilogie (»Gilead«, Pulitzer-Preis 2005 – »Zuhause«, 2008 – »Lila«, 2014) bereits gelesen hat, wird viele Ereignisse aus Jacks Vergangenheit schon kennen. Denn »Jack«, im Original 2020 erschienen und jetzt von Uda Strätling übersetzt, ist ein vierter Band des Familienepos, der sich speziell dieser Figur widmet und ihre Entwicklung intensiv, in Zeitsprüngen und Perspektivwechseln beschreibt. Man kann das Buch aber auch ohne Kenntnis der Vorläufer problemlos lesen.
Eine fordernde Lektüre ist der Roman, den auch Ex-Präsident Barack Obama bewundert, allemal. Er sperrt sich gegen jegliche Chronologie, die Struktur ist kunstvoll, und die einzelnen Puzzlesteine fügen sich im zeitlichen Hin und Her nur schwer zu einem Gesamtbild. So wird beispielsweise die Szene, in der sich die beiden Hauptfiguren in einem Lokal kennenlernen, erst nach etwa einhundertfünfzig Seiten erzählt, nachdem wir schon in einer ganzen Reihe von Episoden Einblicke in die befremdlichen Konflikte zwischen den ungewöhnlichen Liebenden erhalten haben.
Die dialogreiche Anfangsszene wirft uns unvorbereitet und ohne Einstiegshilfen in medias res. Wer ist »er«, wer »sie«, die sich da auf dem Heimweg einen eigenartigen Wortwechsel liefern – brüsk, unnachgiebig, schlagfertig, mit intelligenten Repliken und durchaus irgendwie einfühlsam? Sie kennen sich wohl seit kurzem, aber wir erfahren vorerst nichts von ihren Eigenschaften und Hintergründen. Dafür kommen die erbärmlichen Umstände der ganzen Begegnung ans Tageslicht. Jack hatte Della in einem schäbigen Etablissement zum Essen eingeladen, dann tauchten Schläger auf, um Geldschulden von Jack einzutreiben, woraufhin er sich durchs Küchenfenster davonmachte und Della auf der Rechnung sitzenblieb. Niemand, sagt sie, als er sie gegen ihren Willen nach Hause begleitet, habe sie je zuvor im Leben »in eine derart peinliche Lage gebracht«. Ihre Formulierungen sind abweisend, sie will ihn abschütteln, aber ihre Argumentation lässt Spielräume (»Ihre Stimme bleibt selbst im Zorn milde«), und so kann er hartnäckig bleiben und muss die Hoffnung auf ein Wiedersehen trotz der unumwundenen Eingeständnisse seines Versagens nicht ganz begraben.
So robust Jack in seiner Lebensführung oft auftritt, so behutsam und feinfühlig ist er gegenüber Della. Er widersteht selbst der Versuchung, sie zu berühren, aus Sorge, er könnte, wenn er den »Bogen überspannt«, etwas »Zerbrechliches« zerstören, so dass »diese seltsame Nacht verlorenging, zu Scherben der Peinlichkeit, des Misstrauens und Bedauerns zerfiel«.
Natürlich ist der Rassenkonflikt ein wichtiges Thema dieses Romans. Wie beim Romeo-und-Julia-Motiv schlägt die Beziehung zwischen Della und Jack eine Brücke zwischen zwei schwer versöhnbaren Gruppen. Weder die weiße noch die schwarze Gesellschaft kann die schändliche Verbindung tolerieren, zumal die kultivierte, wohlanständige Bildungsbürgerin und der Herumtreiber, Betrüger und Säufer obendrein so gar nicht den gehegten Stereotypen entsprechen. Klingt nicht geradezu Mitleid in Dellas Satz »Mir ist noch nie ein Weißer untergekommen, der so wenig davon hatte, weiß zu sein«?
Bedeutsamer scheinen aber die theologischen und philosophischen Fragen, die in vielen Gesprächen behandelt werden. Man diskutiert über die Unterschiede zwischen Methodisten und Presbyterianern, die Zusammengehörigkeit von Leib und Seele, die Möglichkeiten von Liebe, Vergebung und Erlösung, zieht neben der Bibel Miltons »Paradise Lost« und Shakespeares »Hamlet« zu Rate. Dem ungläubigen Jack kann man nur schwer beikommen. Kokett nennt er sich »Fürst der Finsternis« – und quält sich doch beständig mit Zweifeln, hadert mit seiner Schuld, hofft, dass ihm »Gnade« (das Schlusswort) zuteil werde. Nicht nur Della, im Glauben gefestigt, spendet ihm Trost und Zuversicht, sondern auch eine schwarze Baptistengemeinde, die ihn in einer Art Abendmahl aufnimmt, deren Priester seine innerste Seelenpein erkennt und ihm zur versöhnlichen Heimkehr rät.
Die äußere Handlung verläuft tragisch. Della hält an ihrer Verbindung zwischen »zwei Geistwesen. Unsichtbar« fest und besiegelt mit Jack einen geheimen Bund der Ehe. Die illegitime Liebe kann nicht ohne Folgen bleiben. Als Della harte Sanktionen drohen, möchte Jack ihr diese durch eine nicht minder schmerzliche Entscheidung ersparen, wohl wissend, dass sie seinen seelischen Untergang bedeuten würde.