Über die See
von Mariette Navarro
Ein gigantischer Frachter legt mitten auf dem Atlantik eine Pause ein. Die unerwartete Befreiung von Druck, Verantwortung und Ängsten bewirkt intensive Erfahrungen bei den Seefahrern und bei uns Lesern.
Die lyrische Seele des Containerschiffs
Ein gewaltiges Containerschiff gleitet in beruhigendem Gleichmaß über den Atlantik. Vier Tage ist es schon unterwegs, hat die Azoren passiert, ein letztes Signal zum zurückbleibenden Festland abgesetzt. Auf der Brücke hat eine Kapitänin das Kommando über eine ansonsten reine Männermannschaft. Sie weiß, dass das ungewöhnlich ist. Die Hürde, als kompetent und stark anerkannt zu werden, ist für eine Frau besonders hoch. In früheren Zeiten nahm sie das Getuschel hinter ihrem Rücken durchaus wahr – fünf Jahre Erfahrung haben ihre Selbstsicherheit und ihre Führungsrolle gefestigt, aber beides will bewahrt werden. Sie duldet weder Privilegien noch Laxheit, und für sie selber gibt es keine Ausnahme – im Gegenteil eher besondere Härte. Selbst in ihren wenigen Ruhestunden behält sie ihre Berufskleidung an. Sind die Männer ihr überlegen, wenn es um Muskelkraft geht, so übertrifft sie sie alle mit ihrem fundierten Wissen über die Mechaniken ihres gigantischen Schiffes, das Wetter, die Seekarten.
Nach dem Essen überrascht der Erste Offizier, ansonsten zurückhaltend, seine Vorgesetzte mit einer unerhörten Anregung: »ob man nicht einfach mal die Motoren abschalten, die Rettungsboote zu Wasser lassen und eine Runde schwimmen gehen könne«? Nicht minder unerhört ist, was folgt: Dem Mund der Kapitänin, von der jeder weiß, dass ihr spontanes Entscheiden fremd ist, entweicht gleich zwei Mal ein unkontrolliertes »Einverstanden«. »Eine kurze Stille, natürlich, und dann ein lautes, ungläubiges Lachen.«
Die Motoren werden gestoppt. Das Radar ist ausgeschaltet. Der riesige Frachter dümpelt gelangweilt vor sich hin. Die Männer haben nervös ihre Kleidung abgelegt, sitzen dicht gedrängt im Rettungsboot, das langsam zur Wasseroberfläche hinabgelassen wird. Bald werden sie ihre Beine über den Rand schwingen, abtauchen, vielleicht über den »abyssal plain« laufen, den tiefsten Meeresboden, eine nüchterne Bezeichnung auf der Seekarte und doch mystisch aufgeladen.
Schon nach den ersten zwanzig Seiten finden wir uns in einer ungewöhnlichen Stimmung. Sie hat nichts gemein mit der eines Seeabenteuers, wie man sie von der Beschreibung des anfänglichen Plots erwarten könnte. Es geht nicht um Überlebenskämpfe, nicht um die Macht der Naturgewalten, die äußere Handlung ist geradezu statisch wie das ungeheure Schiff. Die Atmosphäre ist friedlich, poetisch, magisch, ästhetisch, ergebnisoffen.
Die Figuren dieses einzigartigen Romans tragen keine Namen, doch wie die Autorin ihre Sinneseindrücke und Emotionen schildert, erweckt sie sie zu intensivem Leben. Ihre Protagonistin, die Kapitänin, bleibt auf dem schwimmenden Maschinenwesen allein zurück. Mit ihren Beobachtungen, Gedanken und Empfindungen macht sie sie zum Medium unserer Wahrnehmung. Durch sie schauen wir hinab auf die sich im unendlichen Wasser verlierenden Seeleute und hinein in das Innere dieser vermeintlich nüchternen Frau, der ungeahnte Erfahrungen bevorstehen.
Die französische Schriftstellerin Mariette Navarro, 1980 geboren, findet bereits in ihrem Debüt (»Ultramarins«, 2021) zu einem frappierenden, prägnanten, rundum überzeugenden Erzählstil, der alltäglich, vielleicht trivial Erscheinendes zu überhöhen, zu verzaubern vermag. Sophie Beese hat ihn kongenial ins Deutsche übertragen. »Sie tauchen einen Meter oder zwei, hören das Herz in den Schläfen pochen, vernehmen eine andere Form der Stille. Sie haben die Geräusche der Erde und der Wasseroberfläche hinter sich gelassen, sie entdecken die Musik ihres eigenen Blutes, Trommelwirbel bis zur Ekstase, Paukenschläge bis zur Trance. Tiefer Klang des Atemstillstands, Symphonie der Schwerelosigkeit«. So beobachtet der allwissende Erzähler die Menschen minutiös, nähert sich ihnen wie durch ein Mikroskop, entfernt sich dann wieder zu universeller Überschau, zu Erinnerungen an Vergangenes. Es ist die faszinierende Sprache, die uns berauscht wie das Eintauchen ins Wasser die Seeleute, wie die Eindrücke der Bewegungen ihrer Mannschaft und die Details des Schiffskörpers die Kapitänin überwältigen, als hätte sie all dies noch nie wahrgenommen. Die Freiheit der Impressionen, der gern ins Lyrische gleitende Ton, die Harmonie zwischen Form und Inhalt schaffen Leseerfahrungen wie bei einem Gedicht.
Allein an Deck, lässt die Kommandantin ihren Gedanken freien Lauf. Von der Brücke aus blickt sie hinunter ins Meer, wo sie ihre Männer nur als »wuselnde Punkte« ausmachen kann, die »wie Sterne den blauen Kreis bevölkern«. Sie planschen »wie unbeschwerte Kinder in einer Wanne«. Mit ihren Kleidern haben sie Pflichten, Verantwortung, Ordnung und Ängste abgelegt und sich der Freiheit hingegeben.
Die Kapitänin ruht in sich. Sie beherrscht ihren Beruf. »Sie gehört auf das Meer.« Sie spürt, wie sie und ihre Organe eins werden mit dem metallenen Koloss, der ihr anvertraut ist. »Wenn sie die Augen schließt, wird der Frachter ihr eigener Körper, in sich ruhend und aufrecht.« Dann »lässt sie sich vereinnahmen von diesem stinkenden Leben, vom Schweröl, dem schwarzen Blut des Tieres, das sie auf seinem Rücken trägt, dieses zugleich lebendigen und toten Tieres, das keucht wie ein Mensch, wenn sie beschleunigt, und brüllt, wenn es in der Lunge sticht«. Einem merkwürdigen Impuls folgend, begibt sie sich hinein ins Innere ihres Schiffes, dringt in die Kajüten ihrer Matrosen, ihres Ersten Offiziers ein, überschreitet die Grenzen der Privatsphäre.
Als die Badenden zurück an Bord sind, gibt es eine beunruhigende Überraschung: Beim Durchzählen endet man bei »21«. Doch »wir müssten zwanzig sein«. Das Detail verleitet zu der Annahme, das Buch biete einen Hochsee-Krimi, eine Abenteuer-Handlung. Dem ist nicht so. Der Plot des Romans ist ein psychologischer, ein philosophischer, weniger ein faktischer. So geraten auch andere Sicherheiten ins Wanken, unbewältigte Familiengeschichten tauchen auf, es entwickeln sich Krisen zwischen der Kapitänin und ihrer Mannschaft, nicht einmal auf die Natur scheint mehr Verlass. »Die Lebenden, die Toten und die Seefahrer« – sollten auch die drei Kategorien, in die die Kapitänin die Menschen salopp einzusortieren pflegte, verschwimmen können?
Mariette Navarros Text füllt nur etwa hundertfünfzig luftig gelayoutete Seiten, erzeugt aber ungeheuer dichte Leseerlebnisse. Immer wieder hält man inne, muss nachdenken, sucht Antworten, will genau verstehen – und genießt.