Rezension zu »Über die See« von Mariette Navarro

Über die See

von


Ein gigantischer Frachter legt mitten auf dem Atlantik eine Pause ein. Die unerwartete Befreiung von Druck, Verantwortung und Ängsten bewirkt intensive Erfahrungen bei den Seefahrern und bei uns Lesern.
Belletristik · Kunstmann · · 160 S. · ISBN 9783956145100
Sprache: de · Herkunft: fr

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Die lyrische Seele des Containerschiffs

Rezension vom 29.12.2022 · 18 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Ein gewaltiges Containerschiff gleitet in beruhigendem Gleichmaß über den Atlantik. Vier Tage ist es schon unterwegs, hat die Azoren passiert, ein letztes Signal zum zurück­bleiben­den Festland abgesetzt. Auf der Brücke hat eine Kapitänin das Kommando über eine ansonsten reine Männer­mann­schaft. Sie weiß, dass das unge­wöhnlich ist. Die Hürde, als kompetent und stark anerkannt zu werden, ist für eine Frau besonders hoch. In früheren Zeiten nahm sie das Getuschel hinter ihrem Rücken durchaus wahr – fünf Jahre Erfahrung haben ihre Selbst­sicher­heit und ihre Führungs­rolle gefestigt, aber beides will bewahrt werden. Sie duldet weder Privile­gien noch Laxheit, und für sie selber gibt es keine Ausnahme – im Gegenteil eher besondere Härte. Selbst in ihren wenigen Ruhe­stunden behält sie ihre Berufs­kleidung an. Sind die Männer ihr überlegen, wenn es um Muskel­kraft geht, so über­trifft sie sie alle mit ihrem fun­dierten Wissen über die Mecha­niken ihres gigan­tischen Schiffes, das Wetter, die Seekarten.

Nach dem Essen überrascht der Erste Offizier, ansonsten zurück­haltend, seine Vorge­setzte mit einer uner­hörten Anregung: »ob man nicht einfach mal die Motoren ab­schalten, die Rettungs­boote zu Wasser lassen und eine Runde schwimmen gehen könne«? Nicht minder unerhört ist, was folgt: Dem Mund der Kapitänin, von der jeder weiß, dass ihr spontanes Ent­scheiden fremd ist, entweicht gleich zwei Mal ein unkon­trol­liertes »Einver­standen«. »Eine kurze Stille, natürlich, und dann ein lautes, ungläu­biges Lachen.«

Die Motoren werden gestoppt. Das Radar ist ausge­schaltet. Der riesige Frachter dümpelt gelang­weilt vor sich hin. Die Männer haben nervös ihre Kleidung abgelegt, sitzen dicht gedrängt im Rettungs­boot, das langsam zur Wasser­ober­fläche hinab­gelassen wird. Bald werden sie ihre Beine über den Rand schwingen, abtauchen, viel­leicht über den »abyssal plain« laufen, den tiefsten Meeres­boden, eine nüchterne Bezeich­nung auf der Seekarte und doch mystisch aufge­laden.

Schon nach den ersten zwanzig Seiten finden wir uns in einer unge­wöhn­lichen Stimmung. Sie hat nichts gemein mit der eines See­aben­teuers, wie man sie von der Beschrei­bung des anfäng­lichen Plots erwarten könnte. Es geht nicht um Über­lebens­kämpfe, nicht um die Macht der Natur­ge­walten, die äußere Handlung ist geradezu statisch wie das ungeheure Schiff. Die Atmos­phäre ist friedlich, poetisch, magisch, ästhe­tisch, ergebnis­offen.

Die Figuren dieses einzigartigen Romans tragen keine Namen, doch wie die Autorin ihre Sinnes­ein­drücke und Emotionen schildert, erweckt sie sie zu inten­sivem Leben. Ihre Protago­nistin, die Kapitänin, bleibt auf dem schwim­menden Maschinen­wesen allein zurück. Mit ihren Beobach­tungen, Gedanken und Empfin­dungen macht sie sie zum Medium unserer Wahr­nehmung. Durch sie schauen wir hinab auf die sich im unend­lichen Wasser verlie­renden Seeleute und hinein in das Innere dieser ver­meint­lich nüch­ternen Frau, der unge­ahnte Erfah­rungen bevor­stehen.

Die französische Schriftstellerin Mariette Navarro, 1980 geboren, findet bereits in ihrem Debüt (»Ultra­marins«, 2021) zu einem frappie­renden, präg­nanten, rundum über­zeugen­den Erzähl­stil, der alltäg­lich, viel­leicht trivial Erschei­nendes zu über­höhen, zu verzau­bern vermag. Sophie Beese hat ihn kongenial ins Deutsche über­tragen. »Sie tauchen einen Meter oder zwei, hören das Herz in den Schläfen pochen, vernehmen eine andere Form der Stille. Sie haben die Geräusche der Erde und der Wasser­ober­fläche hinter sich gelassen, sie entdecken die Musik ihres eigenen Blutes, Trommel­wirbel bis zur Ekstase, Pauken­schläge bis zur Trance. Tiefer Klang des Atem­still­stands, Symphonie der Schwere­losig­keit«. So beob­achtet der all­wissen­de Erzähler die Menschen minutiös, nähert sich ihnen wie durch ein Mikroskop, entfernt sich dann wieder zu univer­seller Überschau, zu Erinne­rungen an Vergan­genes. Es ist die faszinie­rende Sprache, die uns berauscht wie das Eintau­chen ins Wasser die Seeleute, wie die Eindrücke der Bewe­gungen ihrer Mann­schaft und die Details des Schiffs­körpers die Kapitänin über­wälti­gen, als hätte sie all dies noch nie wahrge­nommen. Die Freiheit der Impres­sionen, der gern ins Lyrische gleitende Ton, die Harmonie zwischen Form und Inhalt schaffen Lese­erfah­rungen wie bei einem Gedicht.

Allein an Deck, lässt die Komman­dantin ihren Gedanken freien Lauf. Von der Brücke aus blickt sie hinunter ins Meer, wo sie ihre Männer nur als »wuselnde Punkte« ausmachen kann, die »wie Sterne den blauen Kreis bevölkern«. Sie planschen »wie unbe­schwerte Kinder in einer Wanne«. Mit ihren Kleidern haben sie Pflichten, Verant­wortung, Ordnung und Ängste abgelegt und sich der Freiheit hinge­geben.

Die Kapitänin ruht in sich. Sie beherrscht ihren Beruf. »Sie gehört auf das Meer.« Sie spürt, wie sie und ihre Organe eins werden mit dem metal­lenen Koloss, der ihr anver­traut ist. »Wenn sie die Augen schließt, wird der Frachter ihr eigener Körper, in sich ruhend und aufrecht.« Dann »lässt sie sich verein­nahmen von diesem stinken­den Leben, vom Schweröl, dem schwarzen Blut des Tieres, das sie auf seinem Rücken trägt, dieses zugleich leben­digen und toten Tieres, das keucht wie ein Mensch, wenn sie be­schleu­nigt, und brüllt, wenn es in der Lunge sticht«. Einem merk­würdi­gen Impuls folgend, begibt sie sich hinein ins Innere ihres Schiffes, dringt in die Kajüten ihrer Matrosen, ihres Ersten Offiziers ein, über­schrei­tet die Grenzen der Privat­sphäre.

Als die Badenden zurück an Bord sind, gibt es eine beun­ruhi­gende Über­raschung: Beim Durch­zählen endet man bei »21«. Doch »wir müssten zwanzig sein«. Das Detail verleitet zu der Annahme, das Buch biete einen Hochsee-Krimi, eine Abenteuer-Handlung. Dem ist nicht so. Der Plot des Romans ist ein psycholo­gischer, ein philoso­phischer, weniger ein fakti­scher. So geraten auch andere Sicher­heiten ins Wanken, unbe­wältigte Familien­geschich­ten tauchen auf, es ent­wickeln sich Krisen zwischen der Kapitänin und ihrer Mann­schaft, nicht einmal auf die Natur scheint mehr Verlass. »Die Lebenden, die Toten und die Seefahrer« – sollten auch die drei Kate­gorien, in die die Kapitänin die Menschen salopp ein­zusor­tieren pflegte, ver­schwim­men können?

Mariette Navarros Text füllt nur etwa hundert­fünfzig luftig gelay­outete Seiten, erzeugt aber ungeheuer dichte Lese­erleb­nisse. Immer wieder hält man inne, muss nach­denken, sucht Antworten, will genau verstehen – und genießt.


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