Vom Leben, Lieben, Sterben
Wer nach einem modernen, warmherzigen, lebensklugen, tiefsinnigen Märchen sucht, ist bei Mariana Lekys Roman »Was man von hier aus sehen kann« richtig aufgehoben. Die phänomenale Erzählerin versetzt uns in ein ungewöhnliches kleines Dorf im Westerwald der frühen Achtzigerjahre, wo lauter skurrile, liebenswerte Menschen wohnen. Was sie treiben und was sie umtreibt, beobachtet und berichtet Luise, deren Kindheit, Jugend und frühes Erwachsenendasein wir auf wunderbare Weise miterleben dürfen.
Luises Eltern sind guten Mutes und Willens, sich um ihre Tochter zu kümmern, haben aber leider einfach keine Zeit für sie, so sehr sind sie mit sich selbst beschäftigt. Mutter Astrid betreibt mit viel Engagement einen Blumenladen, blockiert ihr Hirn jedoch überdies seit fünf Jahren mit der allgegenwärtigen, nie entschiedenen Frage, ob sie sich von ihrem Ehemann Peter trennen sollte.
Peter ist der örtliche Landarzt. Verzweifelt über den tristen Zustand seiner Beziehung vertraut er sich dem Psychoanalytiker Doktor Maschke an. Die Koryphäe rät ihm, seinen »eingekapselten Schmerz« zu »externalisieren«, woraufhin Peter aus medizinischen Gründen umgehend einen Mischlingshund kauft. Da er sich persönlich nicht um das Tier wird kümmern können, überlässt er die »Metapher für den Schmerz« Großmutter Selma und dem beglückten Töchterchen Luise. Er selbst will »mehr Welt« in sein Leben hereinlassen, soll alles – auch seine Lieben – an den Nagel hängen, auf Reisen gehen.
Der hagere Martin ist Luises bester Freund – ihn will sie später heiraten. Martin will einmal Gewichtheber werden. Dazu trainiert er ab und an, wenn es gerade gelegen ist, mit einem leichten Ast, oder er hebt Luise hoch, die auch gleich das Beifall klatschende Publikum gibt. Später, da ist Martin sicher, wird er »glatte 185 kg« reißen wie einst Blagoj Blagoew, der »Kran von Schachty«.
Luises wichtigste Bezugsperson ist ihre Großmutter Selma. Dass sie von allen Mitbürgern respektiert wird, liegt nicht zuletzt an ihren merkwürdigen Träumen. Schon drei Mal in ihrem Leben ist ihr nämlich im Schlaf ein Okapi erschienen, und jedes Mal verstarb danach jemand. Während Rationalist Peter dies für nichts als hanebüchenen Unfug hält, glauben alle anderen im Dorf fest an den Zusammenhang zwischen dem exotischen Paarhufer und dem Tod.
Kein Wunder also, dass Selma alarmiert ist, als ihr die sanftmütige Waldgiraffe erneut begegnet. Wen wird der Tod jetzt aus ihrer Mitte holen? Obwohl Selma sich alle Mühe gibt, durch auffallend fröhliches Verhalten keinen Verdacht aufkommen zu lassen, kann sie ihr Geheimnis nicht bewahren. Luise erfährt es ebenso wie der Optiker, der Selma heimlich liebt, aber nie weiß, wie er ihr das erklären soll. Ein Lauffeuer erfasst das Dorf.
Der Einzige, den die Schreckensnachricht erfreut, ist Bauer Häubel. Nach einem langen, erfüllten Leben wartet er aufgeregt wie ein Geburtstagskind darauf, dass der freundliche Tod vorsichtig an seine Tür klopfen, um Einlass bitten und ihm behutsam das Leben aus der Hand nehmen wird. Alle anderen versuchen, jeder auf seine Weise, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen.
Der kleinen dicken Elsbeth rennt man die Bude ein. Schließlich haben ihre Hausmittelchen gegen Gicht, ausbleibende Liebe und dergleichen immer geholfen. Als die Frau Bürgermeisterin einst von Kopfschmerzen gequält wurde, riet sie ihr, die Stirn gegen einen Pferdekopf zu lehnen. Aber gegen den Tod kann auch Elsbeth nichts anbieten.
Mariana Leky hat in ihrem Roman einen ganzen Reigen wundersamer Figuren erschaffen, die alle ein bescheidenes Glück leben, oft mit der Tragik verpasster Momente beschwert und teils absurden Situationen ausgesetzt. Alle vereint die Empathie und die Toleranz der Andersartigkeit. Jeder nimmt auf seine Weise die Gefühle der anderen wahr, jeder nimmt aufrichtig Anteil an der Sehnsucht nach Liebe, an erlittenem Schmerz, an untröstlicher Trauer.
Die Zeit vergeht, Selmas Traum scheint seine Zwangsläufigkeit zu verlieren, die Dörfler beginnen sich in Sicherheit zu wiegen, da schlägt das Schicksal doch noch zu. Wie lakonisch, bildstark und ergreifend die Autorin den Schmerz und die Trauer beschreibt, die nun das gesamte Dorf erschüttern, hat man selten gelesen. Luise fällt in eine Art Dornröschenschlaf. Selma trägt ihre Enkelin drei Tage lang auf den Armen, auf den Schultern, ohne sie je abzulegen. Elsbeth versucht mit dem Laubbläser den Frühling in ihrem Garten in einen Herbst zu verwandeln.
Doch das Leben geht weiter, Luise wird erwachsen, verliebt sich neu. Aber das ist eine weitere Geschichte dieses wunderbaren, episodenreichen Romans, den ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2017 aufgenommen habe.