Magnifica
von Maria Rosaria Valentini
Mit zartbitterer Poesie erzählt Valentini die drei Generationen umfassende Geschichte dreier Frauen aus einem ärmlichen Dorf in einer weltabgeschiedenen Bergregion im Südwesten Italiens. Magnifica, die Enkelin, nimmt die Spurensuche auf.
Die Geheimnisse der Tinte
Diese Autorin ist eine Entdeckung für alle, die empfänglich sind für den Zauber der Wörter. Die äußere Handlung des Romans entwickelt sich ruhig und unspektakulär (nicht ohne Erschütterungen); es ist die innere Handlung, die uns berührt. Was uns aber immer aufs Neue betört, ist die zarte Kraft der literarischen Sprache. Sanft fließt ein weicher Fluss der Wörter, funkelnder Miniaturen, überraschender Eindrücke, und kein Detail ist zu nebensächlich, um nicht durch Poesie veredelt zu werden. Es ist eine zeitgemäße kristalline Prosa, weitab von süßlichem Kitsch, bisweilen sogar ein wenig spröde.
Die Italienerin Maria Rosaria Valentini, 1963 in Ciociaria (bei Frosinone) geboren, lebt heute in Lugano und hat schon eine Reihe von Büchern veröffentlicht, darunter auch Lyrik, und Preise erhalten. »Magnifica« (2016) ist ihr erster Roman bei dem bedeutenden Verlag Sellerio und als erstes ihrer Werke auf Deutsch erhältlich. Dank der erstklassigen Übersetzerin Monika Köpfer, deren Leistung höchste Anerkennung verdient, können wir das sprachliche Juwel auch auf Deutsch genießen.
»Magnifica« erzählt die Geschichte einer Familie aus der Heimatregion der Autorin, der kargen Berglandschaft westlich der Abruzzen, wo das Leben seit jeher hart und entbehrungsreich ist. Wer Mut hatte und Entschlusskraft aufbrachte, zog weg in den industrialisierten Norden des Landes, Europas oder Amerikas, um Armut und Hoffnungslosigkeit zu entfliehen. Die blieben, brauchten nicht weniger Mut – und träumten im Stillen weiter, dass ihre Chance einmal komme.
Im Mittelpunkt stehen die Frauen aus drei Generationen: Großmutter Eufrasia, Mutter Ada Maria und Tochter Magnifica, deren Perspektive wir einnehmen. Anlass ihres Erzählens ist, dass ihr Sohn Andrea von einem auf den anderen Tag sein Elternhaus verlässt. Was ihn dazu bewogen hat, bleibt unklar (wie auch, ob er jemals zurückkehrt), aber er hinterlässt einen zierlichen goldenen Füllfederhalter als Geschenk mit einem mysteriösen Auftrag. »In dieser Tinte ist alles enthalten. Deine Geschichte, meine. Jene, die kommen wird, derer, die bereits existieren, und jener, die nie existiert haben.« Magnifica nimmt die Verpflichtung an und schreibt.
Magnificas wichtigste Quelle ist, was sie von ihrer gealterten Mutter erfährt. Das sind keine zusammenhängenden Erzählungen, sondern »Verwandtschaftsbeziehungen, Seufzer, Sprünge, Akkorde« – Material, das die Erzählerin zu einem feinen Gewebe aus Szenen, Beobachtungen, Symbolen und Motiven, Naturschilderungen, Rückblenden, Dialogen und Sinneseindrücken verbindet, aus dem sich die Biografie der Familie bis Ende der 1960er Jahre und ein Bild ihrer Heimat fügt. Dann überspringt die Erzählung einige Jahre, um schließlich an die Gegenwart – Magnificas Erwachsenenleben – anzudocken.
Noch zu Friedenszeiten heiraten Eufrasia und Aniceto. Es mag Liebe sein, aus der kaum ein Jahr später ihre Tochter Ada Maria hervorgeht. Aber rasch entfremdet sich Eufrasia von ihrem ungeschlachten Mann, der nicht in den Krieg ziehen muss und bei den Frauen und Kindern im Dorf bleiben kann. Obwohl er ihr längst zum hässlichen »Kröterich« geworden ist, dessen sexuelle Gepflogenheiten sie widerwillig über sich ergehen lässt, wird sie auf sein Drängen hin zehn Jahre später noch einmal schwanger und bringt 1946 ihren Sohn Pietrino zur Welt.
Aniceto hat sich da schon lange mit seiner Geliebten Teresina arrangiert, bei der er mehr Verständnis findet, auch wenn er sie mit anderen Männern teilen muss. Nach Eufrasias Tod entscheidet sie sich ganz für ihn und führt ihm den Haushalt. Zu den beiden Kindern hält sie Distanz – wissend, dass sie niemals den Platz ihrer Mutter einnehmen kann. In der Tat verabscheut Ada Maria, die seit jeher ebenfalls viele Aufgaben im Haus übernimmt, die Rivalin ihrer Mutter. Liebevoll betreut sie ihren kleinen Bruder, der vom ersten Schultag an zum Außenseiter wird und seinen Frieden bei den Toten auf dem Gottesacker findet. Nach ein paar qualvollen Pflichtschuljahren ist er glücklich, die Stelle des Totengräbers übernehmen zu dürfen.
Die Dorfgemeinschaft beobachtet dieses Haus argwöhnisch. Ihre engen Konventionen definieren Denken und Verhalten. Eufrasia hatte zeitlebens die Rolle der »Betrogenen« gespielt – und war doch ihrer Nebenbuhlerin im Grunde ihres Herzens dankbar, dass sie sie »vom Kröterich befreit hatte«. Die beiden Kinder schämen sich für ihren Vater. Ada Maria wird die Nächte des Jammerns und Klagens in ihrer Kindheit nie vergessen; sie weiß, dass es das Leben mit ihrer Mutter Eufrasia nicht gut gemeint hat. »Ihre Geschichte ist für sie eine schmerzende Wurzel.« Aber sie spürt auch die Starrheit und Unfreiheit ihrer Heimat und erträumt sich ein offeneres, freudvolleres Leben irgendwo anders. Ein konkretes Ziel kann sie nicht kennen, aber »klug und still zügelte sie ihre Wünsche und stellte sich vor, sie würde Geduld klöppeln.« Womöglich würde ihr dort sogar die Liebe begegnen, »das, was es nie geben wird und dennoch gläserne Träume erweckt und einen verwirrt, nährt und auf Entdeckung gehen lässt.«
Das reservierte Verhältnis der Tochter zum Vater verbessert sich mit seiner Ambition, Tiere zu jagen und zu präparieren. Darin erkennt sie eine Sensibilität und Fürsorge, die ansonsten unter einer schrundigen Oberfläche verborgen blieben. Sie entdeckt den Buchenwald – für die Dorfbewohner ein unheimlicher Ort, wo bösartige Geister und düstere Gestalten ihr Unwesen treiben und bei jedem Schritt Blindgänger aus dem Krieg explodieren können – als Heimat, wo sie ganz bei sich ist, Früchte sammelt, wildes Gemüse erntet, nachdenkt, träumt.
In dieser vagen Erwartung eines unbestimmten Aufbruchs begegnet das Mädchen einem Wesen, das die Dörfler in Panik versetzen würde: einem versprengten deutschen Soldaten, der sich fast zehn Jahre lang in einer Höhle versteckt gehalten hatte. Wie sich die beiden, stets auf der Hut, das Schlimmste befürchtend, mit winzigen Gesten einander annähern, wie aus Misstrauen Zutrauen und Vertrauen wird, aus Befremden Zuneigung und Liebe entsteht, diese wohl außergewöhnlichste, schönste Liebesgeschichte seit Langem erzählt Maria Rosaria Valentini auf einfühlsame, zärtliche, poetische Weise. Wie die Begegnung Ada Maria verändert, kann sie nur mit Teresina teilen, die mittlerweile zu ihrer Vertrauten geworden ist – und auch sie ist eine Schreibende.
Aus dieser Beziehung intensiver Liebe geht Magnifica, die Großartige, Prächtige, Herrliche, hervor. Sie ist die Repräsentantin des Aufbruchs in eine moderne Zeit, wie auch Nachkriegsitalien in jenen Jahren einen Aufschwung erlebt. Sie verliebt sich in einen etliche Jahre älteren Arzt, heiratet ihn, zieht mit ihm, da das Dorf verfällt und zum Fossil wird, in die Großstadt, wo sie ihre altersschwache Mutter und ihre Erinnerungen pflegt.
Eine leichte Melancholie liegt über dieser Geschichte in Moll, die vom Leben und vom Sterben, von Einsamkeit, Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Liebe erzählt, in der Tiere, Früchte, Blumen und Bäume mitspielen, die durchzogen ist von Gerüchen, Geräuschen und Geschmackseindrücken, von menschlicher Wärme, stillen Sehnsüchten, verborgenen Träumen und unerfüllten Hoffnungen. Der ruhige Sprachstil, die bedachte Wortwahl, die unzähligen verbalen Kostbarkeiten an unverhofften Stellen machen die Lektüre zu einem ästhetischen Genuss – »manchmal sind Worte Brot, Wasser, Fleisch« – und bezeugen Valentinis beachtenswertes literarisches Talent.