Das Mädchen am Fenster
Margherita Oggero erzählt in diesem Roman die Geschichte einer Dreizehnjährigen aus dem Camorra-Gürtel um Neapel, die es nach Norditalien verschlägt, wo sie in der Wohnung einer Tante eingesperrt leben muss. Was hat sie durchgemacht, dass sie in diese Falle geriet? Wie kann man so leben? Wie kommt sie damit zurecht?
Die Autorin lässt das Mädchen, Imma (Immacolata), selber sprechen. Die ist einsichtig, bewundernswert vernünftig, fügt sich, ist aber auch neugierig und fantasievoll, wenn sie die Welt da draußen durchs Fenster betrachtet und zu Stein erstarren lässt - nell'ora di pietra. Dabei will sie es nicht belassen, sie wird sie auch erkunden.
Ihre eigene harte Vergangenheit ist selbst für sie, die das doch alles selbst erlebt hat, schwer zu fassen. Das wird in gelegentlichen Rätseln und Widersprüchen spürbar, die wir beim Lesen bemerken. Es stellen sich uns Fragen, denen wir gespannt auf der Spur bleiben, und dabei ahnen wir, dass es mehrere Ebenen der Wahrheit gibt, auf denen Imma turnt.
Die Struktur des Romans ist nicht streng chronologisch, und auch die Tante trägt ihre Sicht und ihre Erlebnisse aus den vergangenen schweren Jahren bei. So fügen sich immer mehr Mosaiksteinchen zusammen - aus echten, erhofften, enttäuschten Liebesbeziehungen, aus dem Treiben der Camorrabosse, aus dem italienischen Familienleben, von gesellschaftlichem Aufstieg und Fall -, bis sich am Ende (und erst dann) alle Stränge und Rätsel dieser feinen, melancholischen, anrührenden Geschichte klären.
Man gewinnt Imma schnell lieb, ist sie doch einfühlsam, verständnisvoll, aufgeweckt - und geheimnisvoll.
Also: ein empfehlenswertes Buch, in unprätenziösem Italienisch verfasst und daher angenehm zu lesen.
Nachtrag: Bei DVA ist im Mai 2012 die deutsche Übersetzung dieses Buches erschienen. Lesen Sie hier die ausführliche Rezension zu Margherita Oggero: 'Der Duft von Erde und Zitronen' auf Bücher Rezensionen.