Eine Laune Gottes
von Margaret Laurence
Obwohl Rachel Cameron erst Mitte dreißig ist, scheint der Rest ihres Lebens bereits vorbestimmt – als Tochter einer dominanten, kränklichen Witwe, als alleinstehende Lehrerin in einer Kleinstadt. Eine kurze, aber intensive sommerliche Affäre rüttelt sie auf.
Spätes Erwachen
In jeder Hinsicht scheint dieser Roman aus der Zeit gefallen. Je nachdem, welche persönlichen Präferenzen man in seiner Lesebiografie entwickelt hat, wird man ihn entweder lieben oder nicht viel damit anfangen können. Literarisch wurde er hochgelobt – Margaret Atwood hat ihn als »ein beinahe vollkommenes Buch« gewürdigt –, während das Frauenbild, das seine Protagonistin auf den ersten Blick verkörpert, für fortschrittliche Feministinnen unserer Tage eine Art angestaubtes Feindbild sein muss, ist es doch geprägt von Verzicht auf ein selbstbestimmtes Leben, von Unauffälligkeit, Unterwürfigkeit und Aufopferung.
Die literarische Qualität des Romans steckt in der höchst subtilen Zeichnung seiner Charaktere mit ihren feinen, widersprüchlichen Zügen und der scharf beobachteten Mechanismen, die hinter den Kulissen das Leben in einer Kleinstadtgesellschaft kontrollieren. Wer so etwas – und einen sorgfältig ausgefeilten Stil alter Schule – höher zu schätzen weiß als eine packende Handlung oder aktuelle Programmatik, der wird an diesem Buch seine stille Freude haben.
Geschrieben wurde »A Jest of God« schon 1966, und zwar von Margaret Laurence (1926-1987), deren Name außerhalb ihres Herkunftslandes Kanada wenig bekannt wurde. Im Erscheinungsjahr erhielt die Autorin dafür den renommierten Governor General’s Award, dessen sich neben Margaret Atwood auch Alice Munro, Michael Ondaatje und andere rühmen dürfen und den man ihr 1974 für »The Diviners« (ihren letzten Roman) erneut verlieh. Unter dem Titel »Rachel, Rachel« wurde der Roman 1968 von Paul Newman mit Joanne Woodward in der Hauptrolle verfilmt (dt. »Die Liebe eines Sommers«), und erst jetzt wurde er in der wunderbaren Übersetzung von Monika Baark für den Eisele-Verlag auf Deutsch herausgebracht.
»Eine Laune Gottes« ist – nach »Der steinerne Engel« – der zweite der fünf Manawaka-Romane von Margaret Laurence. Benannt ist die Reihe nach ihrem Schauplatz, einer kanadischen Provinzstadt. Dort führt die vierunddreißigjährige Lehrerin Rachel Cameron ein eintöniges Leben zwischen ihrem Berufsalltag und der eigentümlich fordernden Aufsicht ihrer fünfundsiebzigjährigen, hilfsbedürftigen Mutter. Mit der teilt sie die Wohnung über dem Bestattungsinstitut, das der Vater betrieben hatte, bis er unerwartet verschied, ohne seine Familie finanziell abgesichert zu haben. Rachels ältere Schwester hat sich frühzeitig aus dem Staub gemacht, geheiratet, vier Kinder bekommen und die beiden Verwandten seit mehreren Jahren nicht mehr besucht.
Rachel sucht ihre Erfüllung im Lehrberuf, wo sie als stets zuvorkommende Kollegin geachtet und beliebt ist. Mit den ihr anvertrauten Schülern identifiziert sie sich vielleicht allzusehr, um auch deren Anerkennung zu gewinnen (»alle einzigartig … manche einzigartiger als andere«), doch wenn sich die kindlichen Erstklässler zu modischen Teenagern (»Venusianerinnen«) weiterentwickelt haben, nimmt die beidseitige Zuneigung ab. Tuscheln und kichern sie nicht hinter dem Rücken einer Lehrerin, deren altertümliches Erscheinungsbild ihr selbst unvorteilhaft erscheint?
Obwohl Rachel ahnt, dass sie für ihr Leben in den engen Grenzen der mütterlichen Ansprüche, der Schule und der Kleinstadtgesellschaft keine wesentlichen Veränderungen mehr erwarten darf, monologisiert sie ohne jede Bitterkeit über ihr Schicksal. Nüchtern und pragmatisch weint sie keinen verpassten Gelegenheiten hinterher, nährt keine Erwartungen oder unerfüllbaren Sehnsüchte. Die brechen sich allenfalls in romantischen Träumen unruhiger Nächte Bahn. So bleiben emotionale Freiräume, die ihre gebrechliche, mental und psychisch jedoch robuste Mutter zur Genüge ausfüllen kann.
Rachels Mutter hat sich seit Langem in einem egozentrischen kleinen Universum eingerichtet, das in eigenwilligen Maßstäben, Ritualen und Ansichten erstarrt ist. Ihre eheliche Beziehung war schon zu Rachels Geburt erkaltet. Mr Cameron missfiel ihr wohl eher als Störenfried der häuslichen Ordnung. Wegen seines Haaröls und der »in Anbetracht seiner Arbeit … nie richtig sauberen Hände« muss sie das Mobiliar mit Häkeldeckchen vor ihm schützen und ihn immer wieder ermahnen, sich nicht anzulehnen, denn das Haus muss stets aussehen, als hätte »kein sterbliches Wesen je einen Fuß hineingesetzt«. Ebenso wichtig nimmt sie ihr persönliches Erscheinungsbild. Dabei erwecken das Brillengestell (»delfinblau und elfenhaft«) und wöchentlich aufgefrischte »freche steife graue Korkenzieherlocken« den absurd falschen Anschein, sie habe etwas »Neckisches« an sich. »Unaussprechlich wie der Tod« ist ihr wahres Alter; es ist nicht einmal Tochter Rachel bekannt (»ich soll nicht fragen«).
Margaret Laurences Roman beschreibt eine Mutter-Tochter-Beziehung, in der beide voneinander abhängig sind, dies aber weder sich selbst noch der anderen eingestehen wollen. Sie opfern dafür – und um des lieben Friedens willen – die Aufrichtigkeit ihrer Kommunikation.
Obwohl die Mutter kränkelt und auf Rachels Hilfe angewiesen ist, will sie ihre Schwäche nicht wahrhaben. Ihre Herzprobleme redet sie klein (»Mir fehlt nichts. Ich bin ein bisschen müde vielleicht, aber das ist doch normal.«), ebenso wie ihre Abhängigkeit von Rachels Kraft. Sie kompensiert ihre Unterlegenheit mit einer subtilen Mischung aus falscher Freundlichkeit und Zynismus. Wenn Rachel erschöpft von der Schule nach Hause kommt und sich dennoch als Erstes um die Belange ihrer Mutter kümmert, teilen deren scheinbar wohlmeinende Kommentare gleichzeitig emotionale Ohrfeigen aus: »Du bist zu gewissenhaft, Rachel, das ist dein Problem. Andere lassen es nicht zu, dass ihnen die Arbeit so aufs Gemüt schlägt. […] Es wird dir doch ohnehin nicht gedankt.«
Unterschwellig fordert die alte Dame die Arbeitsleistungen der Tochter ein, aber vorgeblich stellt sie sie frei (»Mir ist es gleich, Liebling, wie du möchtest.«). So sind für »ihre einzige Unterhaltung«, den monatlichen Bridge-Abend mit drei verbliebenen Freundinnen, Häppchen vorzubereiten und auf Silbertablett zu servieren, später Knabbereien in Schälchen und edlen Porzellantässchen zu reichen, schließlich muss alles gespült und weggeräumt werden, woraufhin Rachel todmüde und aufgekratzt vom Geschnatter ins Bett sinkt. Der Mutter ihren »Hexensabbat« abzuschlagen, fände Rachel allerdings »unanständig«, also fügt sie sich dem moralischen Gebot. Äußerlich steckt Rachel ein und kuscht, doch innerlich lehnt sie sich durchaus gegen die Dominanz der Mutter auf – wie eine brav Pubertierende.
Eine unerwartete Wendung bringt Rachels Begegnung mit Nick, einem ein Jahr älteren Schulkameraden, der einst als Rabauke geächtet wurde. Jetzt ist er ebenfalls Lehrer und für die Sommerferien zurück in Manawaka, um sich um seine Eltern zu kümmern. Die harmlosen gemeinsamen Unternehmungen segnet Rachels Mutter in ihrer üblichen zwiespältig vergifteten Weise ab (»Der Sohn vom Milchmann. Die Tochter vom Bestatter. [,,,] Es ist deine Sache, Liebes. Geh ruhig und mach dir einen netten Abend.«), doch Rachel verliebt sich aufrichtig und stärker, als Nick seine Liebe zurückgeben kann. Am Ende des Sommers ist Nick abgereist. Ihm nachzufolgen ist ausgeschlossen, aber Rachel hat sich mit bislang ungekannten Erfahrungen frei geschwommen. Sie ist eigentlich erst jetzt erwachsen geworden und erkennt, dass sie sich und ihren Weg selbst definieren muss, anstatt sich gängeln zu lassen. Sie schmiedet eigene Pläne, die auch ihre Mutter einbeziehen, und nimmt damit eine emanzipierte Rolle an: »Ich bin jetzt die Mutter. […] Still, es wird alles gut.«