Rezension zu »Eine Laune Gottes« von Margaret Laurence

Eine Laune Gottes

von


Obwohl Rachel Cameron erst Mitte dreißig ist, scheint der Rest ihres Lebens bereits vorbestimmt – als Tochter einer dominanten, kränklichen Witwe, als alleinstehende Lehrerin in einer Kleinstadt. Eine kurze, aber intensive sommerliche Affäre rüttelt sie auf.
Belletristik · Eisele · · 288 S. · ISBN 9783961611300
Sprache: de · Herkunft: ca

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Spätes Erwachen

Rezension vom 27.03.2023 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

In jeder Hinsicht scheint dieser Roman aus der Zeit gefallen. Je nachdem, welche per­sön­lichen Prä­feren­zen man in seiner Lese­biografie ent­wickelt hat, wird man ihn entweder lieben oder nicht viel damit anfangen können. Litera­risch wurde er hoch­gelobt – Margaret Atwood hat ihn als »ein beinahe voll­komme­nes Buch« gewürdigt –, während das Frauen­bild, das seine Protago­nistin auf den ersten Blick verkör­pert, für fort­schritt­liche Feminis­tinnen unserer Tage eine Art ange­staubtes Feindbild sein muss, ist es doch geprägt von Verzicht auf ein selbst­bestimm­tes Leben, von Unauf­fällig­keit, Unter­würfig­keit und Auf­opfe­rung.

Die literarische Qualität des Romans steckt in der höchst subtilen Zeich­nung seiner Charak­tere mit ihren feinen, wider­sprüch­lichen Zügen und der scharf beobach­teten Mecha­nismen, die hinter den Kulissen das Leben in einer Klein­stadt­gesell­schaft kontrol­lieren. Wer so etwas – und einen sorg­fältig ausge­feilten Stil alter Schule – höher zu schätzen weiß als eine packende Handlung oder aktuelle Program­matik, der wird an diesem Buch seine stille Freude haben.

Geschrieben wurde »A Jest of God« Margaret Laurence: »A Jest of God« bei Amazon schon 1966, und zwar von Margaret Laurence (1926-1987), deren Name außerhalb ihres Her­kunfts­landes Kanada wenig bekannt wurde. Im Er­schei­nungs­jahr erhielt die Autorin dafür den renom­mierten Governor General’s Award, dessen sich neben Margaret Atwood auch Alice Munro, Michael Ondaatje und andere rühmen dürfen und den man ihr 1974 für »The Diviners« (ihren letzten Roman) erneut verlieh. Unter dem Titel »Rachel, Rachel« wurde der Roman 1968 von Paul Newman mit Joanne Woodward in der Haupt­rolle verfilmt (dt. »Die Liebe eines Sommers«), und erst jetzt wurde er in der wunder­baren Über­set­zung von Monika Baark für den Eisele-Verlag auf Deutsch heraus­ge­bracht.

»Eine Laune Gottes« ist – nach »Der steinerne Engel« – der zweite der fünf Manawaka-Romane von Margaret Laurence. Benannt ist die Reihe nach ihrem Schau­platz, einer kanadi­schen Provinz­stadt. Dort führt die vierund­dreißig­jährige Lehrerin Rachel Cameron ein ein­töni­ges Leben zwischen ihrem Berufs­alltag und der eigen­tümlich for­dern­den Aufsicht ihrer fünfund­siebzig­jähri­gen, hilfs­bedürf­tigen Mutter. Mit der teilt sie die Wohnung über dem Bestat­tungs­institut, das der Vater betrieben hatte, bis er uner­wartet verschied, ohne seine Familie finan­ziell abge­sichert zu haben. Rachels ältere Schwester hat sich früh­zeitig aus dem Staub gemacht, gehei­ratet, vier Kinder bekommen und die beiden Ver­wandten seit mehreren Jahren nicht mehr besucht.

Rachel sucht ihre Erfüllung im Lehrberuf, wo sie als stets zuvor­kom­mende Kollegin geachtet und beliebt ist. Mit den ihr anver­trau­ten Schülern identi­fiziert sie sich viel­leicht allzusehr, um auch deren Aner­ken­nung zu gewinnen (»alle einzig­artig … manche einzig­arti­ger als andere«), doch wenn sich die kind­lichen Erst­kläss­ler zu modischen Teenagern (»Venusia­nerin­nen«) weiter­ent­wickelt haben, nimmt die beid­seitige Zuneigung ab. Tuscheln und kichern sie nicht hinter dem Rücken einer Lehrerin, deren alter­tüm­liches Er­schei­nungs­bild ihr selbst un­vor­teil­haft erscheint?

Obwohl Rachel ahnt, dass sie für ihr Leben in den engen Grenzen der mütter­lichen Ansprüche, der Schule und der Klein­stadt­gesell­schaft keine wesent­lichen Ver­ände­rungen mehr erwarten darf, monolo­gisiert sie ohne jede Bitter­keit über ihr Schicksal. Nüchtern und pragma­tisch weint sie keinen verpass­ten Gelegen­heiten hinterher, nährt keine Erwar­tungen oder unerfüll­baren Sehn­süchte. Die brechen sich allen­falls in roman­tischen Träumen unruhiger Nächte Bahn. So bleiben emotio­nale Freiräume, die ihre gebrech­liche, mental und psychisch jedoch robuste Mutter zur Genüge ausfüllen kann.

Rachels Mutter hat sich seit Langem in einem ego­zentri­schen kleinen Universum einge­richtet, das in eigen­willi­gen Maßstäben, Ritualen und Ansichten erstarrt ist. Ihre eheliche Beziehung war schon zu Rachels Geburt erkaltet. Mr Cameron missfiel ihr wohl eher als Stören­fried der häus­lichen Ordnung. Wegen seines Haaröls und der »in Anbe­tracht seiner Arbeit … nie richtig sauberen Hände« muss sie das Mobiliar mit Häkel­deck­chen vor ihm schützen und ihn immer wieder ermahnen, sich nicht anzu­lehnen, denn das Haus muss stets aussehen, als hätte »kein sterb­liches Wesen je einen Fuß hinein­gesetzt«. Ebenso wichtig nimmt sie ihr persön­liches Erschei­nungs­bild. Dabei erwecken das Brillen­gestell (»delfin­blau und elfenhaft«) und wö­chent­lich aufge­frischte »freche steife graue Korken­zieher­locken« den absurd falschen Anschein, sie habe etwas »Necki­sches« an sich. »Unaus­sprech­lich wie der Tod« ist ihr wahres Alter; es ist nicht einmal Tochter Rachel bekannt (»ich soll nicht fragen«).

Margaret Laurences Roman beschreibt eine Mutter-Tochter-Bezie­hung, in der beide vonein­ander abhängig sind, dies aber weder sich selbst noch der anderen einge­stehen wollen. Sie opfern dafür – und um des lieben Friedens willen – die Auf­richtig­keit ihrer Kom­muni­kation.

Obwohl die Mutter kränkelt und auf Rachels Hilfe ange­wiesen ist, will sie ihre Schwäche nicht wahrhaben. Ihre Herz­prob­leme redet sie klein (»Mir fehlt nichts. Ich bin ein bisschen müde viel­leicht, aber das ist doch normal.«), ebenso wie ihre Abhän­gigkeit von Rachels Kraft. Sie kompen­siert ihre Unter­legen­heit mit einer subtilen Mischung aus falscher Freund­lich­keit und Zynismus. Wenn Rachel erschöpft von der Schule nach Hause kommt und sich dennoch als Erstes um die Belange ihrer Mutter kümmert, teilen deren scheinbar wohl­mei­nende Kom­men­tare gleich­zeitig emotio­nale Ohr­feigen aus: »Du bist zu ge­wissen­haft, Rachel, das ist dein Problem. Andere lassen es nicht zu, dass ihnen die Arbeit so aufs Gemüt schlägt. […] Es wird dir doch ohnehin nicht gedankt.«

Unterschwellig fordert die alte Dame die Arbeits­leistun­gen der Tochter ein, aber vorgeb­lich stellt sie sie frei (»Mir ist es gleich, Liebling, wie du möchtest.«). So sind für »ihre einzige Unter­haltung«, den monat­lichen Bridge-Abend mit drei verblie­benen Freun­dinnen, Häppchen vorzu­berei­ten und auf Silber­tablett zu servieren, später Knabbe­reien in Schälchen und edlen Por­zellan­täss­chen zu reichen, schließ­lich muss alles gespült und wegge­räumt werden, worauf­hin Rachel todmüde und aufge­kratzt vom Geschnat­ter ins Bett sinkt. Der Mutter ihren »Hexen­sabbat« abzu­schlagen, fände Rachel aller­dings »unan­ständig«, also fügt sie sich dem morali­schen Gebot. Äußerlich steckt Rachel ein und kuscht, doch innerlich lehnt sie sich durchaus gegen die Dominanz der Mutter auf – wie eine brav Puber­tie­rende.

Eine unerwartete Wendung bringt Rachels Begegnung mit Nick, einem ein Jahr älteren Schul­kame­raden, der einst als Rabauke geächtet wurde. Jetzt ist er ebenfalls Lehrer und für die Sommer­ferien zurück in Manawaka, um sich um seine Eltern zu kümmern. Die harmlosen gemein­samen Unter­nehmun­gen segnet Rachels Mutter in ihrer üblichen zwie­spältig vergif­teten Weise ab (»Der Sohn vom Milchmann. Die Tochter vom Bestatter. [,,,] Es ist deine Sache, Liebes. Geh ruhig und mach dir einen netten Abend.«), doch Rachel verliebt sich auf­richtig und stärker, als Nick seine Liebe zurück­geben kann. Am Ende des Sommers ist Nick abgereist. Ihm nachzu­folgen ist ausge­schlossen, aber Rachel hat sich mit bislang unge­kann­ten Erfah­rungen frei ge­schwom­men. Sie ist eigent­lich erst jetzt erwachsen geworden und erkennt, dass sie sich und ihren Weg selbst definie­ren muss, anstatt sich gängeln zu lassen. Sie schmiedet eigene Pläne, die auch ihre Mutter einbe­ziehen, und nimmt damit eine emanzi­pierte Rolle an: »Ich bin jetzt die Mutter. […] Still, es wird alles gut.«


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