Getrennte Wege, geteilte Orte
Ernesto Cappello ist verstorben. Er hinterlässt zwei Töchter, die Zwillinge Alessandra und Marinella. Um genau zu sein, hat er sie schon ›hinterlassen‹, als er sich vor vierzig Jahren auf und davon machte, ohne Angabe von Gründen. Da waren die beiden Mädchen acht, eine von ihnen todkrank, und seither hatte er keinerlei Kontakt mehr zu ihnen oder ihrer Mutter gesucht.
Nun steht seine kleine Wohnung leer. Die beiden Schwestern sind gerade hereingekommen. Der Geruch nach kaltem, abgestandenem Tabak ist ihnen noch vertraut, erinnert sie an den nahen Verwandten, mit dem sie hier die ersten acht Jahre ihrer fernen Kindheit gemeinsam verbrachten. Später trennten sich ihre Wege, und jetzt stehen die beiden Frauen einander nicht näher als ihrem Vater.
Alessandra wollte gar nicht erst hierher kommen. Ihre Eventagentur lässt ihr keine Zeit für so etwas. Sie hat jede Menge Aufträge abzuarbeiten, ist eigentlich unabkömmlich, was sich darin manifestiert, dass ihr Handy permanent klingelt. Sie hat sich von Marinellas Drängen, sie möge sie hierher begleiten, erweichen lassen – ein unverzeihlicher Fehler. Dass sie im Vorfeld wenigstens »ihre Bedingungen genannt [hat], um sich nicht kampflos zu ergeben«, ist ihr ein schwacher Trost.
Bevor sie hier eintrat, hatte sich Alessandra eine Atemmaske umgebunden, damit die Tristesse dieses Ortes voller altem Kram und billiger Möbel sie nicht erreichen, die im erkalteten Zigarrenrauch lauernde »obszöne Wollust« eines fremden Lebens sie nicht aufspüren könne.
Damit sie ihrer Schwester nicht zum Opfer falle, hat Alessandra sich ein »Schweigegelübde« auferlegt (»kein Kommentar, kein Irgendwas, stumm wie ein Fisch«). Doch durchzuhalten ist das nicht, denn Marinella verfügt ihrerseits über ein von Kindesbeinen an erprobtes und bewährtes Repertoire erfolgreicher Taktiken, wie zum Beispiel gezielt »einen versöhnlichen Tonfall« anzuschlagen.
Warum nur sind die beiden Schwestern, die Rivalität, Missgunst und Hass zeitlebens stärker verbunden hat als geschwisterliche Liebe, hier zusammengekommen? Um ihr Erbe zu begutachten, weil ihnen »wenigstens irgendetwas zusteht« von diesem »Widerling von Vater«? Um den Grund herauszufinden, warum er die Familie verlassen hat? Oder gar, um an diesem Ort endlich aufeinander zuzugehen, sich zu umarmen, Frieden miteinander zu schließen? Letzteres scheint hoffnungslos. Die Fronten sind gefestigt und klar abgesteckt. Alessandra wusste, »dass sie niemals jemanden so geliebt hatte, wie sie ihre Schwester geliebt hatte, weil sie niemals jemanden so sehr gehasst hatte, wie sie ihre Schwester gehasst hatte ... mit Leib und Seele«.
Die Schwestern führen ihren Kampf mit Spitzfindigkeiten und Wortklaubereien, Auslassungen und Lügen, subtilen Gesten und Blicken, auf einer breiten Klaviatur an Tönen und Untertönen. Daraus entspinnt sich ein bissiger, spitzer Dialog, bei dem es darum geht, permanent en garde zu sein oder die andere blitzschnell zu touchieren. Selbst die Pausen, Momente der Stille vor der nächsten Attacke, sind wohlgesetzt. Schweigen ist im Raum »ein zu Kristall erstarrtes Unwetter am Rande der Milchstraße«, im Inneren aber ein »ohrenbetäubendes Pochen des Blutes in den Schläfen«. In dieser Form von unaufrichtiger Vergangenheitsbewältigung und leidenschaftlicher Verschleierung kommt dennoch Unerwartetes ans Licht; Façetten unterschiedlicher Wahrheiten leuchten auf.
Das düster-modrige Ambiente des Esszimmers, in dem sich die beiden Frauen befinden, erhitzt die Atmosphäre des Gefechts, das ein Erzähler sparsam kommentiert, noch weiter. Umringt von einer dunklen Pflanzenmuster-Tapete, als wären sie im »Herz eines Mangrovendickichts«, vernehmen beide Kontrahentinnen »das Geschrei von Makaken und das Flüstern zischelnder Schlangen«. Im Reich der Tiere fühlt sich Alessandra als »Löwin«. Immer schon wütend, aggressiv, nachtragend, reißt das stolze »Raubtier« die hilflose Antilope, versenkt »ihre Eckzähne präzise in der Halsschlagader«, um sich an ihrem »Kadaver« zu laben.
Löwin und Antilope – sind die beiden Zwillingsschwestern so ungleich? Alessandra hat alles erreicht, was man sich unter einem perfekten Leben vorstellt – sie ist selbstständig und erfolgreich im Beruf, verheiratet, hat zwei Kinder. Um mit der »Ungewissheit« des Daseins fertig zu werden, sah sie stets nur den Ausweg, »immer auf alles vorbereitet zu sein«, »keine andere Möglichkeit, als die Messer zu wetzen, ... die Taktik zu verfeinern«. Aus ihrer Perspektive hat sie nur Verachtung übrig für Marinella – Physikerin, aber dennoch eine »arme Sau«, die die »Zeit verplempert«, ohne dauerhaften Job, ohne Geld, ohne Ehrgeiz. Sie verbrachte ihr »Leben auf dem Opferaltar, aber niemand hat dich dort festgehalten [...] Dich befreien? Niemals, weil du nämlich frei, als völlige Herrin deiner selbst, etwas zu Ende bringen müsstest.« Doch wenn sie ehrlich ist, findet sie Marinellas Bilanz – »eine perfekte Null«, wie sie ihr mit einem Vorwurf und einer Beleidigung auf den Lippen hinwischt – durchaus beneidenswert, denn was könnte es Besseres geben, als nichts zu verlieren zu haben? Wie fragil ist doch ihr eigenes Glück. Ihr Mann hat eine Geliebte ...
Für einen Moment hebt Alessandra ihre Schutzmaske und lässt unfreiwillig erkennen, wie jahrelange Nackenschläge sie verhärtet und gleichzeitig traurig gestimmt haben. Sind die Zwillinge nun soweit, endlich einmal ihre Fassaden fallen, die Waffen ruhen, das Taktieren sein zu lassen? Das schaffen beide nicht. Würde Marinella die Wahrheit aussprechen, die sie kennt, wäre das der Todesstoß für Alessandra und für die vertrackte Beziehung zwischen den Geschwistern. Ihr bleibt nur, weiterhin zu lügen, und so erfüllt sich, was ihre Mutter einmal zu Alessandra sagte: »Deine Schwester kann viele Schlachten verlieren, aber am Ende gewinnt sie den Krieg.«
Der vielseitige sardische Schriftsteller Marcello Fois hat dieses subtile, sarkastische und schmerzvolle Kammerspiel für zwei Personen verfasst, das sich nur in den Räumen der väterlichen Wohnung vollzieht, nahezu ohne Handlung, dafür aber mit sämtlichen Registern der Kommunikation, offen und verdeckt, verbal und non-verbal (»diese Art von Schweigen, das wir in uns tragen, auch wenn wir reden«). Die Auftritte einer Nachbarin, die ihr Recht auf die Wohnung einfordert, stacheln die gereizte Stimmung nur noch weiter auf. Der Vulkanausbruch scheint jederzeit unmittelbar bevorzustehen.
Für die deutsche Ausgabe dieses Büchleins (das Esther Hansen für Wagenbach übersetzt hat) wählte man einen griffigeren Titel als im Italienischen. »Schwestern. Die alte Geschichte« weckt schlichtere Erwartungen, verzichtet aber auf den Reiz des interpretierenden Vorgriffs, den der Originaltitel hervorruft: »L'importanza dei luoghi comuni« hebt die Bedeutung des Ortes heraus, den die Protagonisten (bzw. Antagonisten) geteilt haben, der sie noch verbindet und der ihnen zumindest eine Chance des Friedensschlusses, der ›Heimkehr‹ anbietet. Marinella unternimmt einen Versuch, ihrer Schwester dies an Hand einer Theorie aus der Physik zu erläutern. Die »Allgemeine Theorie des Ganzen ... besagt, dass es einen Punkt gibt, in dem auch noch die gegenläufigsten Hypothesen zusammenlaufen«. Der Ort, an dem die Mädchen, die Mutter und der Vater gelebt haben, der Schauplatz ihres jetzigen Zusammentreffens, könnte so einen gemeinsamen Punkt für das zentrifugale Verhältnis der beiden Schwestern darstellen. Jede hütet ihre eigene Version der Vergangenheit und hegt und verteidigt sie in einer unentwirrbaren Mischung aus Neugier, Schmerz, Wut und Unnachgiebigkeit. Nur an jenem Ort könnten sie tatsächlich ihre Ähnlichkeit, ihre Verwandtschaft wiederentdecken.