Italien um 1900. Ein Porträt in Farbe
von Marc Walter, Sabine Arqué, Giovanni Fanelli
Ein prächtiger Bildband über das Sehnsuchtsland Italien zum Fin de Siècle. Perfekte Farbdrucke aufwändig kolorierter Fotografien (»Photochrome«), kenntnisreich und unaufdringlich erläutert, stimulieren unsere Vorstellungskraft und unsere Reiselust.
Das Italien-Bild im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
In diesem großartigen Buch treffen zwei tiefe Sehnsüchte aufeinander. Die eine ist, die Wirklichkeit möglichst getreu abzubilden. Die andere ist die der Nordeuropäer nach Italien. Die fortschreitende Mobilität seit der Schaffung des europäischen Eisenbahnnetzes und spektakulärer Alpenquerungen hat es immer mehr Menschen erlaubt, ihre Italien-Sehnsucht durch eine Reise dorthin zu stillen. Die Perfektionierung der Fotografie und der Drucktechnik gestattete die massenhafte Reproduzierbarkeit des optischen Erlebnisses und zugleich die Verklärung der italienischen Realität, die schon über Jahrhunderte kulturell und ästhetisch aufgeladen worden war.
© Marc Walter Collection, Paris
Die Maler, die im frühen neunzehnten Jahrhundert des strahlenden Lichtes wegen über die Alpen gen Rom und Neapel pilgerten, gestalteten prototypische Impressionen eines Landes, das für seine Bewohner von harter Arbeit, Entbehrung, Unterdrückung, Ausbeutung und einer wilden und gefährlichen Natur geprägt war, und porträtierten es als Paradies der Anmut, des friedvollen Miteinanders unter heiterer Sonne an lieblichen Meeresgestaden und inmitten der Zeugnisse Jahrtausende alter Hochkultur. Die Ikonografie wirkt bis heute fort und bestimmt unser Bild des »Belpaese«. Das ist dann auch, was die meisten Italienreisenden sehen und erleben wollen: nichts anderes als was sie längst kennen und immer wieder sehen möchten.
Für das Bestreben, optische Sinneseindrücke der Vergänglichkeit zu entreißen, Gesehenes festzuhalten, um es in Ruhe noch einmal betrachten und anderen vorzeigen zu können, bedeutete die Fotografie eine Revolution. Gegenüber der Malerei war sie naturgetreuer, detailreicher, handwerklich simpler und für jedermann erschwinglich. Jedoch fehlte ihr ein wesentliches Merkmal unserer Wahrnehmung: die Farbe. Wichtige Einzelbilder konnte man aufwändig von Hand kolorieren lassen, was aber oftmals nur einen etwas blassen, aquarellähnlichen Effekt schuf. Echte Farbfotografie wurde erst um 1930 möglich, als Kodak und Agfa solche Filme auf den Markt brachten.
Eine Zwischenstufe meldete 1888 das Schweizer Druck- und Verlagshaus Orell Füssli zum Patent in Österreich-Ungarn und Frankreich an. Der Photochrom-Flachdruck gilt bis heute als qualitativ hochwertig und war wirtschaftlich höchst erfolgreich. Sein Ausgangsmaterial ist weiterhin eine konventionelle Schwarzweiß-Fotografie. Deren Negativ wird auf eine dünne Schicht lichtempfindlichen Asphalts auf einem Lithografiestein belichtet. Für jede gewünschte Farbe (zwischen vier und achtzehn) wird eine Kopie des Lithosteins hergestellt und die entsprechend einzufärbende Partie des Bildes aufwändig bearbeitet. Am Ende wird auf jeden Stein seine transparente Druckfarbe aufgetragen und das Bild Farbton für Farbton übereinander auf Papier gedruckt. Erstmals war es jetzt möglich, große Auflagen eines Fotos in Farbe zu reproduzieren.
© Marc Walter Collection, Paris
Die Farbgestaltung der Photochrome ist also kein Werk der Natur, sondern allein des Lithografen, und somit Kunst. Er färbte die Fotografie so ein, dass das Bild der Wirklichkeit nahe kam – beziehungsweise seiner Vorstellung davon. Er durfte sich frei fühlen, die Farbtöne und ihre Intensität zu bestimmen, Details, die seinen Eindruck störten, zu entfernen und hinzuzufügen, was passend erschien (etwa einen Kahn auf einem Gewässer). Selbst eine Szene im hellen Sonnenlicht konnte er in fahles Mondlicht tauchen.
Hunderte solcher Photochrome, zwischen 1890 und 1910 entstanden, haben drei Autoren nun aus Privatsammlungen zusammengestellt und in einem in jeder Hinsicht beeindruckenden Bildband im Verlag Taschen veröffentlicht. Die Autoren sind Experten: Marc Walter (der am 25. September 2018 verstarb) besaß eine der größten Photochrome-Sammlungen weltweit, Sabine Arqué ist Dokumentarin, Bildredakteurin und Autorin, Giovanni Fanelli ist Professor für Architekturgeschichte und hat zahlreiche Bücher zu hier relevanten Themen herausgegeben. Auf 580 Seiten sind meist großformatige Photochrome und Vorläufer in perfekter Druckqualität versammelt. Weil einige Motive in verschiedenen Versionen abgebildet sind, können wir die Arbeitsweise der Lithografen nachvollziehen und die verblüffende Wirkung ihrer Gestaltungsmittel (Farbton, -intensität, -verläufe und dergleichen) erleben. Einleitungen zu den Regionen und Erläuterungen auf fast jeder Seite erschließen (in Englisch, Deutsch, Französisch) Besonderheiten und begründen das touristische Interesse der Zeit.
© Marc Walter Collection, Paris
Die Struktur des Prachtbandes folgt den klassischen Reiserouten des Fin de Siècle. Reich vertreten sind die stark frequentierten nördlichen Seen und Ziele, die vor dem Ersten Weltkrieg noch zu Österreich gehörten (Triest, Südtirol). Dort wagten sich die Fotografen bis ins Hochgebirge vor und schufen atemberaubende Aufnahmen von Gipfeln, Gletschern und Bergsteigern.
© Marc Walter Collection, Paris
Der Erfolg des bahnbrechenden Photochrome-Verfahrens war durchschlagend, gerade im Bereich der Touristik. Der eigens gegründete Zürcher Verlag Photoglob war ein früher Gewinner der boomenden Tourismus-Industrie. Er publizierte Motive aus den besucherstärksten Gegenden Europas. Allein aus Italien bot sein Katalog 1911 rund 800 Ansichten feil. Sie wurden in großen Auflagen als Postkarten, Bildermappen und in anderen Formaten verkauft. Dieses Marketingkonzept ließ nur attraktive Bildmotive zu: beliebte Sehenswürdigkeiten, geschäftige Stadtviertel und feine Promenaden, imposante Luxushotels und Zeugnisse von Modernität, idyllisch anmutende Dörfer und romantische Berg- und Küstenlandschaften. Menschen belebten die Szenerien als Staffage oder wurden in Genrebildern arrangiert, in denen der Betrachter typische Eigenheiten der Bewohner zu erkennen glaubte: den neapolitanischen Straßenmusiker, Obstverkäufer mit ihrer malerischen Ware, schöne Mädchen in Tracht, pittoreske Bettler, putzige Kinder in Lumpen, gewitzte Taschendiebe. Man servierte dem primär kulturbeflissenen Käufer das, was er wollte und bezahlen würde – einen Traum, den er selbst geträumt hatte und nun in Händen halten wollte.
© Marc Walter Collection, Paris
Photochrome waren also alles andere als Reportagen aus dem Alltag des jungen Königreichs Italien, eines Landes im Umbruch. Nicht nur die Arbeitswelt des Agrarstaats und die Wohn- und Lebensverhältnisse der Bevölkerung mussten außen vor bleiben, sondern ganze Landstriche, die die Reisenden (noch) kalt ließen, wie das Kerngebiet der einsetzenden Industrialisierung im Norden (Mailand, Turin, Genua), der allzu weit entfernte, rückständige und arme Süden, die abgelegenen Inseln. Eine Ausnahme bildet Neapel, wo die lebhaften Bewohner den Stadtcharakter stärker prägen als anderswo. Diese Bildmotive sind besonders anrührend, aufschlussreich und eindrucksvoll.
© Marc Walter Collection, Paris
© Verlag Taschen, Köln
Über einhundert Jahre nach ihrer Herstellung haben die jetzt so großartig wiederveröffentlichten Photochrome nichts von ihrer Wirkung eingebüßt. Rund um die Uhr und überall perfekten Bildern ausgesetzt, nehmen wir die frühen Farbdrucke als seltsam verfremdet wahr. Doch indem wir uns auf sie einlassen, beflügeln sie uns auf zauberhafte Weise. Wie unsere Vorfahren stimulieren sie unsere Reisesehnsucht in ein Land, das uns vertraut scheint, selbst wenn wir noch nie dort waren.
Ein rundum gelungenes Werk, ein außergewöhnlicher Schatz für jeden Italien-Kenner und -Liebhaber.
Das Buch ist übrigens dreisprachig verfasst und hat zwei weitere Titel (»Italy around 1900 – A Portrait in Color« – »L’Italie vers 1900 – Portrait en Couleurs«). Eine zweite Ausgabe (Englisch, Italienisch, Spanisch: »Italia en torno a 1900. Retrato en color«) ist ebenfalls lieferbar.