Rezension zu »Italien um 1900. Ein Porträt in Farbe« von Marc Walter, Sabine Arqué, Giovanni Fanelli

Italien um 1900. Ein Porträt in Farbe

von


Ein prächtiger Bildband über das Sehnsuchtsland Italien zum Fin de Siècle. Perfekte Farbdrucke aufwändig kolorierter Fotografien (»Photochrome«), kenntnisreich und unaufdringlich erläutert, stimulieren unsere Vorstellungskraft und unsere Reiselust.
Kunstband · Teil der Serie »Weihnachtliches« · Taschen · · 580 S. · ISBN 9783836541992
Sprache: de · Herkunft: de

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Das Italien-Bild im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

Rezension vom 09.10.2018 · 2 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

In diesem großartigen Buch treffen zwei tiefe Sehnsüchte aufeinander. Die eine ist, die Wirk­lich­keit möglichst getreu abzubilden. Die andere ist die der Nord­euro­päer nach Italien. Die fortschrei­tende Mobilität seit der Schaffung des europäi­schen Eisen­bahn­netzes und spekta­kulärer Alpen­querun­gen hat es immer mehr Menschen erlaubt, ihre Italien-Sehnsucht durch eine Reise dorthin zu stillen. Die Perfek­tionie­rung der Fotografie und der Druck­technik gestattete die massenhafte Reprodu­zierbar­keit des optischen Erlebnisses und zugleich die Verklärung der italieni­schen Realität, die schon über Jahrhun­derte kulturell und ästhetisch aufgeladen worden war.

Rom© Marc Walter Collection, Paris

Die Maler, die im frühen neunzehnten Jahrhundert des strahlenden Lichtes wegen über die Alpen gen Rom und Neapel pilgerten, gestalteten proto­typische Im­pressio­nen eines Landes, das für seine Bewohner von harter Arbeit, Entbehrung, Unter­drückung, Ausbeutung und einer wilden und gefähr­lichen Natur geprägt war, und porträ­tierten es als Paradies der Anmut, des friedvollen Mitein­anders unter heiterer Sonne an lieblichen Meeres­gestaden und inmitten der Zeugnisse Jahrtausende alter Hochkultur. Die Ikonografie wirkt bis heute fort und bestimmt unser Bild des »Belpaese«. Das ist dann auch, was die meisten Italien­reisen­den sehen und erleben wollen: nichts anderes als was sie längst kennen und immer wieder sehen möchten.

Für das Bestreben, optische Sinneseindrücke der Vergäng­lichkeit zu entreißen, Gesehenes festzu­halten, um es in Ruhe noch einmal betrachten und anderen vorzeigen zu können, bedeutete die Fotografie eine Revolution. Gegenüber der Malerei war sie naturge­treuer, detail­reicher, handwerk­lich simpler und für jedermann erschwing­lich. Jedoch fehlte ihr ein wesent­liches Merkmal unserer Wahrnehmung: die Farbe. Wichtige Einzel­bilder konnte man aufwändig von Hand kolorieren lassen, was aber oftmals nur einen etwas blassen, aquarell­ähnli­chen Effekt schuf. Echte Farbfoto­grafie wurde erst um 1930 möglich, als Kodak und Agfa solche Filme auf den Markt brachten.

Eine Zwischenstufe meldete 1888 das Schweizer Druck- und Verlagshaus Orell Füssli zum Patent in Österreich-Ungarn und Frankreich an. Der Photochrom-Flachdruck gilt bis heute als qualitativ hochwertig und war wirt­schaft­lich höchst erfolgreich. Sein Ausgangs­material ist weiterhin eine kon­ventio­nelle Schwarzweiß-Fotografie. Deren Negativ wird auf eine dünne Schicht licht­empfind­lichen Asphalts auf einem Litho­grafie­stein belichtet. Für jede gewünschte Farbe (zwischen vier und achtzehn) wird eine Kopie des Lithosteins hergestellt und die entspre­chend ein­zufär­bende Partie des Bildes aufwändig bearbeitet. Am Ende wird auf jeden Stein seine transpa­rente Druckfarbe aufgetragen und das Bild Farbton für Farbton überein­ander auf Papier gedruckt. Erstmals war es jetzt möglich, große Auflagen eines Fotos in Farbe zu re­produ­zieren.

Taormina© Marc Walter Collection, Paris

Die Farbgestaltung der Photochrome ist also kein Werk der Natur, sondern allein des Lithografen, und somit Kunst. Er färbte die Fotografie so ein, dass das Bild der Wirk­lich­keit nahe kam – bezie­hungs­weise seiner Vorstellung davon. Er durfte sich frei fühlen, die Farbtöne und ihre Intensität zu bestimmen, Details, die seinen Eindruck störten, zu entfernen und hinzuzu­fügen, was passend erschien (etwa einen Kahn auf einem Gewässer). Selbst eine Szene im hellen Sonnenlicht konnte er in fahles Mondlicht tauchen.

Hunderte solcher Photochrome, zwischen 1890 und 1910 entstanden, haben drei Autoren nun aus Privat­samm­lungen zusam­menge­stellt und in einem in jeder Hinsicht beein­drucken­den Bildband im Verlag Taschen ver­öffent­licht. Die Autoren sind Experten: Marc Walter (der am 25. September 2018 verstarb) besaß eine der größten Photochrome-Sammlungen weltweit, Sabine Arqué ist Dokumen­tarin, Bild­redakteu­rin und Autorin, Giovanni Fanelli ist Professor für Archi­tektur­ge­schichte und hat zahlreiche Bücher zu hier relevanten Themen heraus­gegeben. Auf 580 Seiten sind meist groß­forma­tige Photochrome und Vorläufer in perfekter Druck­qualität versammelt. Weil einige Motive in verschie­denen Versionen abgebildet sind, können wir die Arbeits­weise der Lithografen nachvoll­ziehen und die verblüf­fende Wirkung ihrer Gestal­tungs­mittel (Farbton, -intensität, -verläufe und dergleichen) erleben. Einlei­tungen zu den Regionen und Erläute­rungen auf fast jeder Seite erschließen (in Englisch, Deutsch, Französisch) Be­sonder­heiten und begründen das touris­tische Interesse der Zeit.

Gardone Riviera© Marc Walter Collection, Paris

Die Struktur des Prachtbandes folgt den klassischen Reiserouten des Fin de Siècle. Reich vertreten sind die stark frequen­tierten nördlichen Seen und Ziele, die vor dem Ersten Weltkrieg noch zu Österreich gehörten (Triest, Südtirol). Dort wagten sich die Fotografen bis ins Hochgebirge vor und schufen atem­berau­bende Aufnahmen von Gipfeln, Gletschern und Berg­steigern.

Assisi© Marc Walter Collection, Paris

Der Erfolg des bahnbrechenden Photochrome-Verfahrens war durch­schlagend, gerade im Bereich der Touristik. Der eigens gegründete Zürcher Verlag Photoglob war ein früher Gewinner der boomenden Tourismus-Industrie. Er publizierte Motive aus den besucher­stärksten Gegenden Europas. Allein aus Italien bot sein Katalog 1911 rund 800 Ansichten feil. Sie wurden in großen Auflagen als Postkarten, Bilder­mappen und in anderen Formaten verkauft. Dieses Marketing­konzept ließ nur attraktive Bildmotive zu: beliebte Sehens­würdig­keiten, geschäftige Stadt­viertel und feine Promenaden, imposante Luxushotels und Zeugnisse von Modernität, idyllisch anmutende Dörfer und romantische Berg- und Küsten­land­schaften. Menschen belebten die Szenerien als Staffage oder wurden in Genre­bildern arrangiert, in denen der Betrachter typische Eigenheiten der Bewohner zu erkennen glaubte: den nea­politani­schen Straßen­musiker, Obst­verkäu­fer mit ihrer malerischen Ware, schöne Mädchen in Tracht, pittoreske Bettler, putzige Kinder in Lumpen, gewitzte Taschen­diebe. Man servierte dem primär kultur­beflisse­nen Käufer das, was er wollte und bezahlen würde – einen Traum, den er selbst geträumt hatte und nun in Händen halten wollte.

Neapel© Marc Walter Collection, Paris

Photochrome waren also alles andere als Reportagen aus dem Alltag des jungen Königreichs Italien, eines Landes im Umbruch. Nicht nur die Arbeitswelt des Agrarstaats und die Wohn- und Lebens­verhält­nisse der Bevölkerung mussten außen vor bleiben, sondern ganze Landstriche, die die Reisenden (noch) kalt ließen, wie das Kerngebiet der einset­zenden Indus­trialisie­rung im Norden (Mailand, Turin, Genua), der allzu weit entfernte, rück­ständige und arme Süden, die abgelegenen Inseln. Eine Ausnahme bildet Neapel, wo die lebhaften Bewohner den Stadt­charak­ter stärker prägen als anderswo. Diese Bildmotive sind besonders anrührend, auf­schluss­reich und eindrucks­voll.

Cover© Marc Walter Collection, Paris
© Verlag Taschen, Köln

Über einhundert Jahre nach ihrer Herstellung haben die jetzt so großartig wieder­veröffent­lichten Photochrome nichts von ihrer Wirkung eingebüßt. Rund um die Uhr und überall perfekten Bildern ausgesetzt, nehmen wir die frühen Farbdrucke als seltsam verfremdet wahr. Doch indem wir uns auf sie einlassen, beflügeln sie uns auf zauberhafte Weise. Wie unsere Vorfahren stimulieren sie unsere Reise­sehn­sucht in ein Land, das uns vertraut scheint, selbst wenn wir noch nie dort waren.

Ein rundum gelungenes Werk, ein außer­gewöhn­licher Schatz für jeden Italien-Kenner und -Liebhaber.

Das Buch ist übrigens dreisprachig verfasst und hat zwei weitere Titel (»Italy around 1900 – A Portrait in Color« – »L’Italie vers 1900 – Portrait en Couleurs«). Eine zweite Ausgabe (Englisch, Italienisch, Spanisch: »Italia en torno a 1900. Retrato en color«) ist ebenfalls lieferbar.


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