Charly Broms Dilemma
von Lukas Linder
Ein geheimnisvoller Anruf weckt bei Charly Brom Erinnerungen an unselige Vorgänge in seiner Jugend. Beunruhigt lässt er Familie und Arbeit hinter sich und reist zurück in sein Heimatdorf. Dort taucht er in die eigenartige Welt seiner Mutter und Großmutter ein und kommt Geheimnissen auf die Spur, die sein gesamtes Selbstverständnis erschüttern.
Wer bin ich, und wieso?
Charles Brom, der Ich-Erzähler des amüsanten Romans, dessen Titel er gibt, ist ein wunderlicher Mann. Anfangs ahnen wir das noch nicht. Er ist Schweizer, Mitte dreißig, Familienvater und schreibt erfolgreiche Kriminalromane. Seine Ehe ist dagegen nicht so richtig erfüllend. Sie gleicht eher dem »Zusammenspiel zweier Marionetten«, wobei die eine »nur zu einer einzigen Regung fähig [ist], nämlich Nicken«.
Letzthin fühlt er sich von Nina, seiner Ehefrau, geradezu aufs Abstellgleis geschoben. Sie hält ihn für behandlungsbedürftig, seit er neuerdings bis in die späten Nachtstunden ein Loch im Garten buddelt. Sie weiß nicht, dass ihn schon seit zwei Jahrzehnten ein dunkles Geheimnis belastet und er sich damit in seinem eigenen Leben nicht recht aufgehoben fühlt.
Kürzlich hat ihn ein Anruf aus seinem Heimatdorf aufgeschreckt. »Ich weiß, was damals passiert ist«, sagte die Stimme am Telefon. Nun muss das für ihn bislang vorrangige Familienleben inklusive des belasteten Eheverhältnisses zurückstehen, bis er »eine Sache aus der Vergangenheit« geklärt hat.
Neubad heißt das Dorf, aus dem Charly stammt, und der Name könnte kaum höhnischer spotten, wenn man ihn auf das bezieht, was sich unter dem Dach seines Elternhauses findet. Dort lebt in einem restlos vernachlässigten gemeinsamen Haushalt eine WG aus zwei inkompatiblen Damen, die einander, soweit das möglich ist, aus dem Wege gehen. Es sind des Protagonisten Mutter Renate und seine 89-jährige Großmutter Adèle, und nahezu das Einzige, was sie miteinander teilen, sind mütterliche Regungen für ihren Spross Charly. Des weiteren konservieren und verkörpern sie beide den Muff der Vergangenheit. Renate sammelt Trödel aller Art, hegt aber keinerlei Sorge für ihr Aussehen, insbesondere wenn die Depri-Phase ihren Alltag bestimmt. Erst mit dem Beginn einer neuen Beziehung ist sie aufgeblüht und will, voll des Tatendrangs, ihren Plunder demnächst auf einer Antiquitätenmesse feilbieten.
Seit drei Jahrzehnten schon ist Renate verwitwet. Mit nur 42 Jahren fiel ihr Mann, Charlys Vater, aus einem Fenster im dritten Stock des Gebäudes der Versicherungsgesellschaft, für die er arbeitete. Was de facto ein Fenstersturz war, wird seit jeher als Unfall beschönigt, der sich beim Füttern der Katzen ereignet habe. Auch Großmutter glaubt sich seit Jahren mit einem Fuß im Grab – sie »redete vom Tod wie andere Leute vom Wetter«, und kein Tag vergeht, ohne dass sie eine ungewöhnliche körperliche Veränderung an sich bemerkt und sogleich zumindest als »Krebs« diagnostiziert. Ihr ganzer Stolz ist die »weltgrößte Kaffeesahnedeckelsammlung« sowie ihre in Öl gemalten Katzenbilder. Ein Museum im Haus, das wäre ihr Traum. Doch davor steht Renates Verdikt: »Nur über meine Leiche.«
Während wir mit Charly immer neue irrwitzige, gar abwegige Tatsachen und Episoden aus dem Leben der beiden ungewöhnlichen, eigenwilligen Frauen erfahren, kommt nach und nach zu Tage, was ihn so sehr bedrückt. Es handelt sich zunächst einmal um die magische Anziehungskraft der Oberarme einer erwachsenen Metzgersfrau auf den sechzehnjährigen Charly und alsdann um die Folgen seiner Schwärmerei. Was der Junge anfangs nur bei »verirrten Seelen ohne moralischen Kompass« für möglich gehalten hatte, nahm damals kein gutes Ende.
Alles in allem kann man Lukas Linders Buch nur mit einigem Augenzwinkern als Krimi bezeichnen. Für dieses Genre ist wohl auch der Plot nicht rational genug angelegt. Charlys Aufenthalt in Neubad trägt sich in der Jetztzeit zu; hier beleben plötzliche Begebenheiten sein Gedächtnis, lösen zunächst nur einen unbestimmten hellen Gedankenblitz aus, der dann ihn (und uns) zurück in die Vergangenheit beamt.
Vielmehr ist der Roman eine erzählte Komödie mit überspitzt gezeichneten Figuren, einem wendungsreichen Handlungsgang und viel Wortwitz. Dank des Einfallsreichtums des Autors, seiner Kompetenz bei der Zeichnung der Personen und seines Humors, der eine Balance zwischen Karikatur und Groteske wahrt, lassen wir uns von der Entwicklung des Protagonisten und seines Dilemmas gern amüsieren. Nicht nur Charlys skurrile Verwandte mütterlicherseits, sondern auch er selbst ist ordentlich verpeilt. Einerseits ist er ein Pedant, aber wirklich auf die Reihe kriegt er nichts. In der Zwickmühle, ob er sein Geheimnis preisgeben soll, schließt er Wetten mit dem Universum ab, die beispielsweise Ampelschaltungen und Unterhosen involvieren können.
Der Schweizer Schriftsteller Lukas Linder, geboren 1984, studierte in Basel Germanistik und Philosophie und schrieb dann nahezu zwanzig Dramen (davon mehrere mit Preisen wie dem Kleist-Förderpreis, dem Publikumspreis des Heidelberger Stückemarkts und dem Kasseler Förderpreis Komische Literatur ausgezeichnet). Im Jahr 2018 erschien sein Debütroman »Der Letzte meiner Art«, 2020 folgte »Der Unvollendete« und 2024 »Charly Broms Dilemma« (alle bei Kein & Aber).