Rezension zu »Der erste Tag vom Rest meines Lebens« von Lorenzo Marone

Der erste Tag vom Rest meines Lebens

von


Belletristik · Pendo · · Gebunden · 288 S. · ISBN 9783866123960
Sprache: de · Herkunft: it · Region: Neapel und Golf

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Es lohnt sich doch zu leben

Rezension vom 20.01.2016 · 5 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Cesare Annunziata ist siebenundsiebzig und kompli­ziert: einer­seits ein zynischer alter Grantl mit ver­knö­cher­ten Gewohn­heiten und Ansich­ten, anderer­seits darauf begierig, sein Leben um­zu­krem­peln.

Den Großteil seiner kostbaren Lebenszeit hat Cesare mit Kom­pro­mis­sen »ver­plem­pert«. Seinen Brot­er­werb als Buch­halter hasste er. Seine große Liebe zu Cate­rina über­lebte nach der Ehe­schlie­ßung nur für eine kurze Weile. Seine Pflicht­gefühle als Ehemann und verant­wor­tungs­bewuss­ter Vater reichten nicht aus, um liebe­volle Bezie­hungen zu unter­halten, erlaubten ihm aber auch nicht, sich da­von­zu­stehlen. Er war nie fähig, jemanden herz­lich zu um­armen, nicht einmal seine beiden Kinder ohne Vorbe­halte an sein Herz zu drücken. Auch bei den ge­le­gent­lichen außer­ehe­lichen Eska­paden ver­spürte er keine Wärme oder gar Liebe.

So hat sich Cesare als do­minanter Egoist durchs Leben geschlagen und ist ein harter Knochen ge­worden. Doch im Innersten sehnte er sich nach mehr. Als Cate­rina vor fünf Jahren ver­starb, beschloss er, »endlich damit anzu­fan­gen, das Leben in vollen Zügen zu genie­ßen«. Er fühlt sich noch fit genug, um »dem Leben alles abzu­rin­gen«, und Hem­mun­gen hat er keine, wo man doch den Alten eine Art Narren­freiheit ein­räumt. Ein Krück­stock, eine Portion Opti­mis­mus und aller­hand philo­sophi­sche Be­trach­tun­gen (»Wer über das Alter klagt, ist bekloppt.«) machen ihm Mut.

Während seine Altersgenossen im Haus (»verfluchtes Altenpack«) in ihren Sesseln vermodern, will Cesare noch Aben­teuer erle­ben, ein biss­chen verrückt sein. Dazu schlüpft er mit schelmi­schem Vergnügen in an­dere Iden­titä­ten. Wenn er sich als Cara­bi­nie­re oder Zoll­fahnder im Ein­satz ausgibt, er­lässt ihm der Taxi­fahrer gern die Fahrt­kosten. Und um persön­liche Nähe anzu­bahnen, be­schrei­tet er jetzt neue Wege bei der Pro­stituier­ten Rossana: Er lädt sie zum Essen ein.

Aber die un­nachsichtige Realität (»Jahre, die man mit sich herum­schleppt, lasten wie Mühl­steine auf einem«) macht Cesares neuen Weg holprig und be­schwer­lich. Seit einem Herz­infarkt darf er nicht mehr rau­chen und soll vom Alkohol lassen. Statt ihm erhol­samen Nacht­schlaf zu gönnen, lässt sein Körper ihn im Bette rotie­ren, jagen ihn die Gedanken, bis er schließ­lich aufsteht. »Selbst­be­herr­schung und Ge­duld« sind schon seit Länge­rem aufgezehrt. Jeg­liches Warten, ob an der Bus­halte­stelle oder auf eine nette Ver­ab­re­dung, ist ihm zuwider. Er entsagt sogar der nea­poli­tani­schen Vorliebe, die Mit­war­ten­den in Post, Bank und Super­markt zu belau­schen, um die solcher­ma­ßen auf­ge­saug­ten Informa­tio­nen dann gleich als Tratsch wei­ter­zu­trans­por­tie­ren.

Kann ein in Jahrzehnten gehärteter Charakter wie er sich über­haupt noch ändern? Sich fern­zu­hal­ten von An­gele­gen­heiten, die ihn nichts ange­hen, das schafft er trotz guten Willens ebenso wenig wie »Fami­lien­pro­bleme zu igno­rieren«. Insbe­sondere Tochter Sveva (erfolg­reiche An­wältin) hat darunter zu leiden, denn was immer sie für sich ent­schie­den hat, hält ihr Vater für falsch: ihre Stu­dien- und Berufs­wahl, ihre Lebens­weise, ihren Ehe­partner. Mit Sohn Dante (erfolg­reicher Galerist) hat der Vater es nicht leichter. Dass mit ihm etwas nicht ganz nor­mal ist, hatte er schon lange ge­spürt, aber darüber durfte im Fami­lien­kreise nicht ge­sprochen wer­den, solange Caterina noch lebte. Erst an­lässlich einer späteren hefti­gen Aus­ein­an­der­set­zung mit Sveva erfährt Cesare, dass allen, Caterina in­klusive, längst bekannt war, dass Dante schwul ist.

Einblicke wie diese, über­raschende Epi­soden und schmerzliche Er­kennt­nisse kna­cken Cesares harte Schale Stück für Stück auf. Als seine hübsche junge Nach­barin eines Nachts von ihrem brutalen Partner bedroht wird, wächst der Alte beinahe über sich hinaus, traut sich, mutig da­zwischen­zu­treten (»Wenn es ans Ster­ben geht, dann we­nigs­tens, solange ich noch lebe.«). Doch sein En­gage­ment läuft ins Leere. Die Frau will, aus welchen Grün­den auch immer, mit ihrem ge­walt­tätigen Mann nicht bre­chen. Cesare muss akzep­tie­ren, dass man »nie­man­den ret­ten [kann], der nicht will«, und dass er wo­mög­lich nur »ein alter ver­trottel­ter Ro­man­ti­ker« ist.

Der italienische Autor Lorenzo Marone, 1974 in Neapel geboren, themati­siert in seinem Roman »La ten­ta­zione di essere felici« Lorenzo Marone: »La ten­ta­zione di essere felici« bei Amazon (über­setzt von Esther Hansen) das Alt­werden mit all seinen Facetten. Die zu­neh­men­den Be­schwer­nisse spart er nicht aus. Aber sein knor­ri­ger Pro­tago­nist und Ich-Erzäh­ler plaudert davon ganz offen und wie neben­bei. So kommen zwi­schen Amüse­ment, Selbst­iro­nie und Galgen­humor weder Lar­moyanz noch Pein­lich­kei­ten auf, selbst wenn es um Probleme beim Wasser­las­sen, um unan­ge­nehme Kör­per­aus­düns­tun­gen oder um Sex geht (»zwei Zir­kus­clowns [und] ihre traurige Vor­stellung«; »hol vorher noch eine Decke und häng den Spie­gel ab«).

Das Buch reiht zunächst unter­haltsame kleine Episoden anein­ander. Mit Fein­gefühl beob­achtet Lorenzo Marone, wie sich Prag­mati­ker Cesare auf be­wun­derns­werte Weise durch den Alltag hangelt. Was Dante für ihn einkauft – Soja-Burger, »alles gesund und bio und so«, kurzum »Teufels­zeug« – verschenkt er lieber weiter, als seine Ess­ge­wohn­heiten der Gesund­heit zu­liebe um­zu­stel­len. Zu allem und jedem hat er eine Lebens­weis­heit auf den Lippen (»Manch­mal klopfen die Träume an deine Tür, aber nur wenn du dir die Mühe gemacht hast, sie ein­zu­laden. Sonst kannst du sicher sein, dass du den Abend allein verbringst.«).

Später kommt Cesare mit der sozialen Pro­blematik der Gewalt gegen Frauen in Be­rüh­rung, wodurch der Roman an Aktualität gewinnt und anders be­rührt als zu An­fang. Auf dem Weg in seinen neuen Lebens­ab­schnitt zieht Cesare die rich­tigen Schlüsse, lernt ge­wisser­maßen dazu: sich selbst zu lieben, für das Glück­lich­sein zu kämpfen, das Leben wert­zu­schät­zen. Ohne kitschig, platt oder ab­ge­dro­schen zu wir­ken, fügt sich das zarte Ende des Plots ebenso wie die schier un­end­liche Liste kleiner und gro­ßer, wichtiger und un­wich­tiger Dinge, die das Leben lebens­wert machen, gut ins positiv stim­mende Ge­samt­konzept.


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