Es lohnt sich doch zu leben
Cesare Annunziata ist siebenundsiebzig und kompliziert: einerseits ein zynischer alter Grantl mit verknöcherten Gewohnheiten und Ansichten, andererseits darauf begierig, sein Leben umzukrempeln.
Den Großteil seiner kostbaren Lebenszeit hat Cesare mit Kompromissen »verplempert«. Seinen Broterwerb als Buchhalter hasste er. Seine große Liebe zu Caterina überlebte nach der Eheschließung nur für eine kurze Weile. Seine Pflichtgefühle als Ehemann und verantwortungsbewusster Vater reichten nicht aus, um liebevolle Beziehungen zu unterhalten, erlaubten ihm aber auch nicht, sich davonzustehlen. Er war nie fähig, jemanden herzlich zu umarmen, nicht einmal seine beiden Kinder ohne Vorbehalte an sein Herz zu drücken. Auch bei den gelegentlichen außerehelichen Eskapaden verspürte er keine Wärme oder gar Liebe.
So hat sich Cesare als dominanter Egoist durchs Leben geschlagen und ist ein harter Knochen geworden. Doch im Innersten sehnte er sich nach mehr. Als Caterina vor fünf Jahren verstarb, beschloss er, »endlich damit anzufangen, das Leben in vollen Zügen zu genießen«. Er fühlt sich noch fit genug, um »dem Leben alles abzuringen«, und Hemmungen hat er keine, wo man doch den Alten eine Art Narrenfreiheit einräumt. Ein Krückstock, eine Portion Optimismus und allerhand philosophische Betrachtungen (»Wer über das Alter klagt, ist bekloppt.«) machen ihm Mut.
Während seine Altersgenossen im Haus (»verfluchtes Altenpack«) in ihren Sesseln vermodern, will Cesare noch Abenteuer erleben, ein bisschen verrückt sein. Dazu schlüpft er mit schelmischem Vergnügen in andere Identitäten. Wenn er sich als Carabiniere oder Zollfahnder im Einsatz ausgibt, erlässt ihm der Taxifahrer gern die Fahrtkosten. Und um persönliche Nähe anzubahnen, beschreitet er jetzt neue Wege bei der Prostituierten Rossana: Er lädt sie zum Essen ein.
Aber die unnachsichtige Realität (»Jahre, die man mit sich herumschleppt, lasten wie Mühlsteine auf einem«) macht Cesares neuen Weg holprig und beschwerlich. Seit einem Herzinfarkt darf er nicht mehr rauchen und soll vom Alkohol lassen. Statt ihm erholsamen Nachtschlaf zu gönnen, lässt sein Körper ihn im Bette rotieren, jagen ihn die Gedanken, bis er schließlich aufsteht. »Selbstbeherrschung und Geduld« sind schon seit Längerem aufgezehrt. Jegliches Warten, ob an der Bushaltestelle oder auf eine nette Verabredung, ist ihm zuwider. Er entsagt sogar der neapolitanischen Vorliebe, die Mitwartenden in Post, Bank und Supermarkt zu belauschen, um die solchermaßen aufgesaugten Informationen dann gleich als Tratsch weiterzutransportieren.
Kann ein in Jahrzehnten gehärteter Charakter wie er sich überhaupt noch ändern? Sich fernzuhalten von Angelegenheiten, die ihn nichts angehen, das schafft er trotz guten Willens ebenso wenig wie »Familienprobleme zu ignorieren«. Insbesondere Tochter Sveva (erfolgreiche Anwältin) hat darunter zu leiden, denn was immer sie für sich entschieden hat, hält ihr Vater für falsch: ihre Studien- und Berufswahl, ihre Lebensweise, ihren Ehepartner. Mit Sohn Dante (erfolgreicher Galerist) hat der Vater es nicht leichter. Dass mit ihm etwas nicht ganz normal ist, hatte er schon lange gespürt, aber darüber durfte im Familienkreise nicht gesprochen werden, solange Caterina noch lebte. Erst anlässlich einer späteren heftigen Auseinandersetzung mit Sveva erfährt Cesare, dass allen, Caterina inklusive, längst bekannt war, dass Dante schwul ist.
Einblicke wie diese, überraschende Episoden und schmerzliche Erkenntnisse knacken Cesares harte Schale Stück für Stück auf. Als seine hübsche junge Nachbarin eines Nachts von ihrem brutalen Partner bedroht wird, wächst der Alte beinahe über sich hinaus, traut sich, mutig dazwischenzutreten (»Wenn es ans Sterben geht, dann wenigstens, solange ich noch lebe.«). Doch sein Engagement läuft ins Leere. Die Frau will, aus welchen Gründen auch immer, mit ihrem gewalttätigen Mann nicht brechen. Cesare muss akzeptieren, dass man »niemanden retten [kann], der nicht will«, und dass er womöglich nur »ein alter vertrottelter Romantiker« ist.
Der italienische Autor Lorenzo Marone, 1974 in Neapel geboren, thematisiert in seinem Roman »La tentazione di essere felici« (übersetzt von Esther Hansen) das Altwerden mit all seinen Facetten. Die zunehmenden Beschwernisse spart er nicht aus. Aber sein knorriger Protagonist und Ich-Erzähler plaudert davon ganz offen und wie nebenbei. So kommen zwischen Amüsement, Selbstironie und Galgenhumor weder Larmoyanz noch Peinlichkeiten auf, selbst wenn es um Probleme beim Wasserlassen, um unangenehme Körperausdünstungen oder um Sex geht (»zwei Zirkusclowns [und] ihre traurige Vorstellung«; »hol vorher noch eine Decke und häng den Spiegel ab«).
Das Buch reiht zunächst unterhaltsame kleine Episoden aneinander. Mit Feingefühl beobachtet Lorenzo Marone, wie sich Pragmatiker Cesare auf bewundernswerte Weise durch den Alltag hangelt. Was Dante für ihn einkauft – Soja-Burger, »alles gesund und bio und so«, kurzum »Teufelszeug« – verschenkt er lieber weiter, als seine Essgewohnheiten der Gesundheit zuliebe umzustellen. Zu allem und jedem hat er eine Lebensweisheit auf den Lippen (»Manchmal klopfen die Träume an deine Tür, aber nur wenn du dir die Mühe gemacht hast, sie einzuladen. Sonst kannst du sicher sein, dass du den Abend allein verbringst.«).
Später kommt Cesare mit der sozialen Problematik der Gewalt gegen Frauen in Berührung, wodurch der Roman an Aktualität gewinnt und anders berührt als zu Anfang. Auf dem Weg in seinen neuen Lebensabschnitt zieht Cesare die richtigen Schlüsse, lernt gewissermaßen dazu: sich selbst zu lieben, für das Glücklichsein zu kämpfen, das Leben wertzuschätzen. Ohne kitschig, platt oder abgedroschen zu wirken, fügt sich das zarte Ende des Plots ebenso wie die schier unendliche Liste kleiner und großer, wichtiger und unwichtiger Dinge, die das Leben lebenswert machen, gut ins positiv stimmende Gesamtkonzept.