Die Welt von ganz unten
Davor: Bis sie vierzig war, hielt sich Angela Mary Sutherland wacker auf der gesellschaftskonformen Seite des Lebens. Ihr Job: Angestellte in einer Bausparkasse, zuverlässig und engagiert. Ihre Wohnung: Eigenheim in den Harrison Mews, South Kensington. Milieu: »ein kopfsteingepflastertes kleines Bühnenbild von Sackgasse mit schnuckeligen Reihenhäuschen, die Fassaden berankt mit Blauregen und blühender Clematis«. Ihre Familie: unverheiratet, lebt mit ihrer pflegebedürftigen Mutter.
Dann tritt Graham Attwood in ihr Leben. Seine attraktive Gestalt, sein gewinnendes Lächeln erobern sie widerstandslos. Sie liebt »Gram« abgöttisch, lässt ihn bereitwillig bei sich einziehen, teilt alles, was sie hat, mit ihm und nimmt schließlich sogar eine mehrjährige Gefängnisstrafe auf sich, um ihn zu schützen. Damit er die Gerichts- und Anwaltskosten bezahlen kann, überlässt sie ihm ihr Haus.
Doch der Mann ist der Teufel in Menschengestalt. »Ganz entspannt« lässt er seine aufopferungsvolle Gönnerin im Knast »verrotten«. Ihre Liebe wandelt sich in schmerzenden Hass. Nur mit hoch dosierten Psychopharmaka übersteht sie die Zeit. Am Ende ist sie zerstört, ihre »Persönlichkeit aufgefressen, genau wie meine Erinnerung«.
Danach: Gut fünf Jahre später treibt der Teufel noch immer sein erfolgreiches Spiel. Angela dagegen sitzt erneut in Untersuchungshaft: Diesmal wird sie des Mordes beschuldigt. Allerdings hat der vernehmende Kommissar keinerlei Ambitionen, viel Mühe in die Wahrheitsfindung zu investieren. Denn die desolate, übel riechende Verdächtige ist kaum fähig, nachvollziehbare Aussagen zu ihren letzten Aufenthaltsorten abzugeben, ja nicht einmal zu ihrer Person. »Angela Mary Sutherland?«, den Namen kenne sie nicht. »Lady Bag« sei ihr Name, und besser bekannt sei sie als »irre alte Schrulle mit Hund«. Sie nuschelt etwas von ihrem Hund Elektra, dem alles aufgefallen sei, und von einem »Teufel« mit »Netz aus achtbeinigen Lügen ... ich bin seine Fliege – verfangen in seinen klebrigen Fäden«. Verwertbar ist von dem wirren Zeugs nur wenig, dann sackt der Kopf der »Lady« erschöpft auf die Tischplatte. Außer von Symptomen schweren Alkoholmissbrauchs ist die Obdachlose von Knochenbrüchen und Rippenprellungen gezeichnet.
Dazwischen: Nach ihrer Haftzeit zu Grams Gunsten sah sich Angela ihrer Mutter (die das Elend nicht überlebt hatte), ihrer Gesundheit, ihres Status und ihres Besitzes beraubt. Ein Schlaganfall beeinträchtigte ihr Sprechvermögen. Sie fand weder Arbeit noch Halt und landete alsbald in der Gosse. Ihre einzige Freundin wurde Elektra, eine abgehalfterte Greyhound-Hündin mit Arthritis, die, ihren Besitzern für weitere Rennen wertlos geworden, eingeschläfert werden sollte, ehe die mittellose Angela sie adoptierte.
Durch Angelas Augen und Worte erfahren wir vom Leben ganz unten in der Gesellschaft, und die Fallhöhe könnte kaum größer sein, sind wir doch in der City of London, einem der bedeutendsten und gnadenlosesten Wirtschaftsplätze des Globus. Wenn Lady Bag am Piccadilly Circus oder im West End bettelt, muss sie sich erniedrigende Sprüche anhören. Ein Hund findet hier leichter Zuwendung (und eine Pfund-Münze) als ein Mensch: »Das ist für den Greyhound, nicht für Sie.« Im Hyde Park sammelt sie Essensreste aus Papierkörben und nutzt die öffentlichen Toiletten. »Draußen« schlafen ist besser als »drinnen«, wo sie die Bettpfosten in ihre Schuhe stellen und sich sorgsam auf ihre Siebensachen legen muss, damit ihr nichts geklaut wird; denn auch hier »unten« haben manche jegliche Skrupel verloren, und manchen geht es noch dreckiger als Angela.
Begleitet von billigem algerischen Rotwein, Schmerz- und Beruhigungspillen und der treuen Elektra, mit der sie vertrauensvolle Dialoge führt, schlägt sich Lady Bag mitten in der boomenden Metropole durch ein bedürfnisloses Leben. So eine Existenz authentisch zu schildern ist das eigentliche Anliegen der Autorin (die selbst über einschlägige Erfahrungen verfügt). Die Emotionen zerfressen, der Körper geschunden, empfindet die Protagonistin ihren Zustand dennoch als »Erlösung«. Der Schlüssel dazu ist, die trügerische Hoffnung auf »Wiedereintritt in die Gesellschaft« aufzugeben. Denn alle Bewerbungen um einen Job, um eine Wohnung, um Akzeptanz werden vergeblich bleiben. Wer »die große Blenderin« Hoffnung endlich fahren lässt, gewinnt wahre Freiheit. Wo es »kein weiteres Fallen« mehr gibt, kann man »aufhören zu hoffen« und sich »ganz aufs Überleben konzentrieren«. Jetzt heißt es lernen, was »oben« bei den vorbeiziehenden Yuppies ankommt, damit sie ein paar Tacken abdrücken. »Karmascheiß« zieht immer, und natürlich das bandagierte rehäugige Tier.
Derweil nimmt die Handlung einen kriminalistischen Faden auf. Während Angela mit Elektra über den Trafalgar Square zockelt, kreuzt Graham Attwood in Begleitung einer feinen Dame ihren Weg. Ein Wiedererkennen braucht die bucklige Obdachlose nicht zu fürchten. Wie »wüster krauser Filz« quillt ihr angegrautes Haar aus dem Wollhut, bläulich-violett durchziehen geplatzte Äderchen ihr wettergegerbtes Gesicht, etliche Schichten von Klamotten plustern ihre Gestalt zur Formlosigkeit auf, nur Schlafrolle und Rucksack geben ihr Kontur. Sie ist »nicht mal mehr ein Gespenst, das ihn heimsuchen könnte«, und ohnehin hat er sie längst »aus seinem Gedächtnis gelöscht«. Jetzt steigt er allein in ein Taxi und beordert es zu den Harrison Mews ...
Vor dem Theater ergibt sich bald eine Gelegenheit, die neue Gefährtin des Teufels auf die Gefahr hinzuweisen, die ihr droht: »Hörn Sie marne Weinung.« Doch wer würde das Gebrabbel einer alkoholvernebelten Jammergestalt, die »nach Dreckfüßen und Londoner Gully roch«, verstehen, geschweige denn ernst nehmen?
Die Dame zieht mit ihrer Freundin davon, aber Lady Bag gibt nicht auf. Sie muss in die Harrison Mews, wo Gram sich offenbar gemütlich eingenistet hat. Sie betritt das Haus, und das Chaos bricht über sie herein. Ein wohliges Wannenbad mit »heißem Jasminwasser«, eine Blutlache, ein unsanftes Erwachen, eine Fahrt im Rettungswagen, auf der Brust eine »Louis-Dings-da-Handtasche«, in der Notaufnahme nennt man sie »Mrs Munroe, oder darf ich Sie Natalie nennen?« ... »Ich verstand das alles nicht.«
Geradezu slapstickmäßig geht die Komödie zunächst weiter. Unsere sonderbare »Überlebenskünstlerin« lässt die grotesken Ereignissen der nächsten Tage einfach über sich hinweg rollen. Sie lernt eine Transvestitin kennen und bezieht mit ihr eine Wohnung in einem Hochhaus. Ironischerweise leisten die beiden damit einem Immobilienhai gute Dienste, der Obdachlose einschleust, um Altmieter zu vergraulen. So erweist sich Lady Bag als »Frau, die fast so viele Probleme lösen kann, wie sie verursacht«, und es verwundert nicht, dass sie sich am Ende der Allmacht des Teufels nicht entziehen kann.
Liza Codys »Lady Bag« erlaubt einen schonungslos realistischen Blick in die Welt der Obdachlosen. (Im Anhang findet man weiterführende Links zum Thema, auch zu den Sondersprachen, die die Übersetzerinnen Else Laudan und B. Szelinski recherchiert haben.) Das ernste Anliegen wird the British way unterhaltsam umgesetzt; die vielen Dialoge, Angelas kernig-anschauliche Sprache, die teilweise groteske Handlungsführung, der Krimi-Plot provozieren weder Trübsinn noch Verzweiflung, kleistern aber auch keinen Missstand zu. Die Protagonistin ist kein Objekt für Mitleid: Zwar ist sie Opfer (des teuflischen Mannes, des Schicksals, ihrer Süchte), aber eben auch eine wortgewandte, geschickte Erzählerin, die bei Bedarf ein raffiniertes Schelmenspiel in Szene zu setzen vermag.
»Gib die Hoffnung auf und leg dir einen Hund zu.« So lautet »die einzige Selbsthilfelektion, die ich euch geben kann«. Ob man das als der Wahrheit letzten Schluss akzeptieren mag oder nicht, bitter bleiben Lady Bags Erkenntnisse in jedem Fall: »Leute mögen Hunde lieber als Menschen. Und sie haben recht damit. Einem Hund kann man tatsächlich helfen. Menschen kann man nie wirklich helfen.«