Nie wird sie ihn vergessen
Als die Autorin Lisa Moore 16 Jahre alt war, starb ihr geliebter Vater an einem Schlaganfall. Dieser Verlust prägte ihr ganzes Leben. Hautnah bekam sie mit, wie ihre Familie litt, wie der Schmerz ihr Bewusstsein veränderte, ihre Sinne schärfte und sie Dinge neu wahrzunehmen lehrte – stille Momente des Glücks, aber auch schmerzvolle, tiefe Verlustempfindungen.
Lisa Moores Roman "Und wieder Februar" endet im November 2008. Die 56-jährige Witwe Helen heiratet zum zweiten Mal. Barry ist der Mann, und er hat eine Zeitlang ihr Haus renoviert. Nach 30 Jahren des Alleinseins und der Trauer um ihren Mann Cal wagt Helen den Schritt in eine neue Lebensphase, in eine ganz andere Partnerschaft, die nichts mit der Ehe mit Cal gemeinsam haben, aber von Liebe und Vertrauen getragen sein wird. Helen schöpft Hoffnung auf ein kleines bisschen Glück.
Am Valentinstag 1982 sinkt in einem heftigen Sturm die Bohrinsel "Ocean Ranger" vor der Küste Neufundlands. 87 Männer ertrinken in dem eisigen Wasser, und Cal ist einer von ihnen. Das Schiff "Seeforth Highlander" ist zwar ganz in der Nähe, aber die Rettungsseile sind vereist, die Schiffsschraube kann nicht eingesetzt werden, die Seeleute sind zur eigenen Sicherheit an Deck vertäut – und müssen der Katastrophe tatenlos zusehen.
87 Familien erfahren aus den Medien von dem schier Unfasslichen. Die Ölgesellschaft hat die Situation nicht im Griff, die Verantwortlichen stehen ebenfalls unter Schock und lassen die Hinterbliebenen ohne jegliche Hilfestellung allein.
Helen macht sich keine Illusionen. Anders als vielen anderen Frauen, die die Hoffnung nicht aufgeben wollen, ist ihr sofort klar, dass Cal tot ist. Sie ist hochschwanger, hat drei Kinder zu versorgen und erkämpft sich ihr Leben. Ihre Schwester hilft ihr dabei und unterstützt sie auch finanziell, bis endlich eine Entschädigung ausgezahlt wird. Aber "ein toter Ehemann lässt sich nicht gegen eine Geldsumme aufrechnen" (S. 28). Oft überfällt sie der Gedanke, selbst in die Wellen zu springen – doch ihre vier Kinder brauchen eine liebende Mutter. Von nun an lebt Helen dreißig Jahre lang eine Lüge: Nach außen täuscht sie Normalität vor, aber ihr Innerstes ist zerrissen von heftigsten Gefühlen, der Trauer, des Verlustes, der tiefen Liebe zu ihrem Mann Cal.
Ihre Kinder erzieht sie nach strengen Prinzipien, legt Wert auf Tischmanieren und eine gute Ausbildung. Sie selber besucht einen Yogakurs, gibt Aquafitness-Stunden für ältere Menschen, lernt Auto zu fahren, probiert Online-dating aus, um einen Partner zu finden, arbeitet für den Lebensunterhalt, erst in einer Bar, dann in einem Büro, lernt schließlich nähen. Es erweist sich, dass sie Talent hat, und Erfolg stellt sich ein: Ihre Brautkleider – welch bittere Ironie! – sind der Renner.
Dabei durchlebt sie Nacht für Nacht einen Albtraum, und immer wieder schweifen ihre Gedanken ab: Dann stellt sie sich Cals letzte Minuten auf der Bohrinsel vor, läuft durch die Gänge, um ihn zu finden, horcht, mit welchen Worten auf den Lippen, welchen Gedanken im Kopf Cal in den Wellen trieb, ehe er starb. In diesen letzten Momenten ist sie nicht nur bei ihm – sie ist Cal. Doch sind es nicht ausschließlich düstere Gedanken, die ihr Innen-Ich bestimmen; sie erinnert sich an ihr Liebesleben, an gemeinsame Freizeiterlebnisse mit Cal und der Familie.
Ein zweiter Handlungsstrang dreht sich um ihren Sohn John. Der arbeitet mittlerweile auch bei einer Ölgesellschaft, hat schon ein paar Beziehungen durchlaufen, ist allerdings bindungsunfähig, und eigene Kinder sind für ihn unvorstellbar. Während einer Woche auf Island lernt er die Anthropologin Jane kennen. Als die ihn später aus Toronto anruft und ihm mitteilt, dass sie von ihm schwanger ist, ist seine spontane Reaktion, warum sie denn nicht abgetrieben habe. Damit ist das Gespräch für Jane beendet. Nun wünscht sich John, dass wenigstens Mutter Helen für ihn Verständnis aufbringt, ihm Absolution erteilt. Aber statt der erhofften Worte "Du schuldest der Frau nichts" (S. 44) sagt sie bloß "Ein Kind" ... Er wird Verantwortung übernehmen müssen.
Lisa Moores Roman "Und wieder Februar" besticht besonders durch die Art, wie sie den Plot gestaltet hat. Dreißig Jahre lang um einen Menschen zu trauern, das kann man sich kaum vorstellen – und wie ist diese lange Zeit zu füllen? Man könnte viel Kitsch, Schmalz, Gefühlsduselei erwarten, aber die Autorin erzählt einfach nur normale Alltagsepisoden, wie zum Beispiel Schlittschuhfahren mit Enkel Timmy, Probleme mit der Autoschaltung im Straßenverkehr, die unmögliche Taxifahrt ins Krankenhaus, als Helen in den Wehen liegt. Sie schreibt ganz nüchtern in kurzen, direkten Sätzen, kunstlosen Dialogen ohne Satzzeichen, in temporeichen Sprüngen zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Auf diese Weise lernen wir die Witwe Helen kennen, kommen ihr ganz nah, bis wir sie geradezu in die Arme schließen möchten, um ihr die beständige Angst vor dem Alleinsein ein wenig zu nehmen.
Helens bewusste Erziehungsmethoden haben leider nicht verhindern können, dass ihre Kinder von ernsten Problemen belastet wurden: Eine Tochter wird in der Pubertät schwanger, die andere – mit Piercings, Tattoos und kahlgeschorenem Kopf – ist ständig alkoholisiert, und Sohn John wird nach einem Diebstahl von der Polizei nach Hause gebracht. Aber die Familie hält zusammen; schließlich haben sie nur einander.
"Und wieder Februar" ist ein Stück gute Literatur, das Aufmerksamkeit verdient.
Der Untergang der Bohrinsel "Ocean Ranger" im Februar 1982 war eins der vielen Lehrstücke über die Hybris der Menschen, die da glauben, wir könnten schon alles in den Griff bekommen, wenn wir nur genug nachdenken, rechnen, Hi-Tech erfinden. Die Neufundländer vertrauten auf dieses Prinzip – aber die Natur war, wie immer, unbeeindruckt und entlarvte den Traum von absoluter technischer Sicherheit als lächerliche Illusion. Den Preis mussten, wie immer, die vielen Cals und Helens bezahlen.