Blutwunder
von Lisa McInerney
Der Werdegang des jungen Dealers Ryan aus Cork soll sich auf internationalem Podium fortsetzen. Aber die neapolitanische Camorra ist denn doch eine Nummer zu groß für ihn. Auch privat hagelt es Niederschläge.
Gefangen im Milieu
Eigentlich hat Ryan Cusack das Zeug zu Besserem. Er ist intelligent, hat eine rasche Auffassungsgabe und bemerkenswertes musikalisches Talent. Er ist sogar guten Willens, etwas aus seinem Leben zu machen und sich dafür anzustrengen. Leider wurde er am falschen Ort, in den falschen Kreisen und von den falschen Eltern geboren.
Ryan ist das älteste der sechs Kinder einer gebürtigen Neapolitanerin und eines Iren aus Cork, der kleinen katholischen Hafenstadt im Südwesten Irlands. Nach dem Selbstmord der Mutter hatte Tony, der Vater, zu all seinen anderen Problemen noch das des sechsfachen Alleinerziehens an der Backe, und mit allen war er heillos überfordert. Sein Alltag war eine einzige Frustration und zu saufen sein einziger Trost. All seinen angestauten Hass auf Gott und die Welt ließ der aggressive Loser an seinen Kindern aus, und sein bevorzugtes Prügelopfer war Ryan.
Der ist jetzt einundzwanzig und reicher an Erfahrung, aber nicht an Vernunft. Trotz seiner Begabungen hat er keinen Schulabschluss geschafft, geschweige denn eine Berufsausbildung abgeschlossen. Stattdessen kann er sechs Jahre Praxis im Dealen inklusive neun Monate Jugendknast vorweisen und ist tiefer und tiefer in allerlei Sümpfe gerutscht. Er verdient seinen Lebensunterhalt als rechte Hand des Drogenbosses Dan Kane, der mit seiner Truppe alle möglichen Rauschmittel importiert und vertickert.
Aussteigen und ein ordentliches Dasein führen würde Ryan immer noch gerne, aber er ist längst nicht mehr Herr seines Lebens. Einerseits wird er als Bauer auf dem Schachbrett der kriminellen Szene hin und her geschoben, andererseits agiert er selbst planlos, instinktgetrieben, unbedacht. Aus diesem Dilemma kann es keinen Ausweg geben.
Seit gut fünf Jahren ist Ryan mit Karine zusammen, die eine Ausbildung zur Krankenschwester macht. Sie liebt ihn trotz seiner Schwächen und setzt, wenn sie ihn zu Körperpflege, Ordnung und einem geregelten Lebenswandel anhält, auf sein Potenzial. Allerdings ist ihr nicht klar, was er außerhalb ihrer Zweisamkeit so treibt und mit wem er dann verkehrt. Wie es wirklich um ihn steht, erleidet sie, als er ihr im Streit Gewalt antut. Da erkennt er auch selbst, was Alkohol und Drogen über die Jahre mit ihm gemacht haben, dass er ausgerechnet den einzigen Menschen, der es gut mit ihm meint, misshandelt hat und dass er auf dem besten Wege ist, als Abbild seines gewalttätigen Vaters zu enden.
Die Kraft, sein Leben von Grund auf zu ändern, bringt Ryan jedoch nicht auf, zumal vermeintlich attraktive Chancen der vertrauten Art locken. Während der Sommerferien, die er bei der Großmutter in Neapel verbringt, lernt er die Qualität der dort gehandelten Pillen schätzen und berichtet Dan davon (»Echt besser«). Der sieht die Gelegenheit, endlich von billiger Chemie aus chinesischen Laboren zu erstklassigem Ecstacy zu wechseln, und beauftragt Ryan, den Coup zu schaukeln.
Doch auf den angepeilten Vertriebswegen – der Wirkstoff »wird in Estland hergestellt, in Neapel in Pillenform gebracht und nach Cork geliefert, während sich Dans Geld in die Gegenrichtung bewegt« – berührt man ganz andere Sphären als bisher. Aus Neapel reist ein unterkühlter Camorrista in Cork an und verabredet mit Ryan in einem Hotel-Eckzimmer, die neue Route mit einer Probesendung von fünfzigtausend Pillen auszuloten.
Als Ryan Bedenken kommen, ist es längst zu spät. Die Drogen verschwinden, der Deal platzt. Jemand muss Wind von dem Testlauf bekommen und die teure Ware zwecks eigener Vermarktung beiseite geschafft haben. Das kann jeder aus Dans Truppe gewesen sein. Womöglich hat einer hinter Dans Rücken gemeinsame Sache mit Jimmy Phelan gemacht, dem eigentlichen Herrscher des Drogenhandels in Cork. Diese Fährte führt gefährlich nahe zu Ryan, denn Jimmy, »der erfolgreichste unter allen Irrtümern der Stadt«, ist seit ewigen Zeiten mit Ryans Vater befreundet.
Brenzlig wird es für Ryan auch privat. Karine erkennt, dass er sich wohl niemals bessern wird, und macht Schluss mit ihm. Ersatz ist schnell gefunden, doch die Neue ist nicht nur Dans Buchhalterin, sondern auch dessen Geliebte. Es dauert nicht lang, und Ryan findet sich zusammengeschlagen im Krankenhaus. Was er dort erfährt, erinnert ihn drastisch an seine früheren Vorsätze und bestärkt ihn darin, nun endlich Ernst zu machen und ein besserer Mensch zu werden. Aber gut, vorher muss er schnell noch eine weitere Lieferung mit der Camorra einfädeln.
»Blutwunder« (»The Blood Miracles« , von Werner Löcher-Lawrence ins Deutsche übersetzt) ist die Fortführung von »Glorreiche Ketzereien«, dem Aufsehen erregenden Debütroman der irischen Autorin Lisa McInerney, die ihre kreative Karriere als Bloggerin über das Elend der irischen Provinz begann. Das ist das eigentliche Thema ihrer Romane. Der dritte steht in Großbritannien kurz vor der Veröffentlichung und wird wohl vollenden, was man schon jetzt getrost als irisches Unterschichtepos bezeichnen kann. Was es literarisch auszeichnet, ist eine höchst gelungene innovative Mischung. Sie vereint Elemente des Kriminalromans und der Tragödie mit der schonungslosen Gestaltung deprimierend hoffnungsloser sozialer Milieus, und sie wird in einem faszinierenden, facettenreichen Sprachstil dargeboten, der zwischen abstoßender Derbheit, hartem Realismus, brillantem Esprit, ironischer Distanziertheit und unerwarteter Poesie changieren kann. Am meisten überraschen im rauen Kontext melancholisch wärmende Töne und sensible Bilder: »Die Luft hat Zähne.« – »Das Gesicht da vorn auf ihr drauf sieht aus, als hätte es irgendwer mit schwerer Hand von der Stirn nach unten gewischt.« – »Wenig können Bäume und Wind tun, um den Schuss zu schlucken«.
Im Vergleich zu McInerneys Erstling [› Rezension], bei dem unvermittelte Perspektivwechsel und schockierende Drastik (insbesondere bei Sex- und Gewaltszenen) zu den dominierenden Gestaltungsprinzipien gehörten, wirkt »Blutwunder« etwas gezähmter. Es bietet immer noch genug Anlässe zum Luftanhalten, Fremdschämen, Staunen, aber auch wunderbar Amüsantes, Absurdes, Mitleid Erregendes. Die Autorin zeigt ungeschminkt (und ohne zu urteilen), wie ihre männlichen Protagonisten in ihren Netzwerken verstrickt sind, wie sie einerseits zusammenhalten, andererseits als Folge daraus in fatale Abhängigkeiten voneinander geraten und ihre eigenen Entscheidungsfreiräume verlieren. Demgegenüber wirken die wenigen weiblichen Charaktere nicht weniger selbstbewusst und entscheidungsstark, aber sie werden hauptsächlich durch ihre Bedeutung für die Männer definiert. Sie sind Ziel ihrer Sehnsüchte, sie bieten ihnen Zuflucht, sie sind Objekte für alleingelassene Söhne, für verprügelte Kriminelle, für liebeshungrige Dealer und für gewalttätige Sex-Machos.
Lisa McInerneys trostlose irische Sozialstudie liefert im Grundton triste Kost über Menschen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Am Ende muss der Leser mit einem Zwiespalt fertig werden. Der Typ, von dessen Erlebnissen er gelesen hat, ist ordinär, kriminell, oft genug töricht, und viele seiner Entscheidungen und Handlungen machen uns sprachlos. Dennoch muss man seinen guten Willen anerkennen, ihm zugestehen, dass er unverschuldet in manch fatale Lagen gerät, und man wird sich wundern, dass man Interesse, Verständnis, ja Sympathie für ihn aufbringt.