Der Hund, der nur Englisch sprach
von Linus Reichlin
Felix Sell, 64, durchlebt ein psychedelisch anmutendes Abenteuer voller schräger Begebenheiten und/oder Fantasien.
Träum ich oder wach ich?
Dieser Roman wird jeden abgebrühten Realisten zum Wahnsinn treiben – wenn er oder sie sich das Buch überhaupt zumutet. Sein Autor Linus Reichlin, der in seiner Schweizer Heimat und in Berlin lebt, erzählt zwar durchaus nachvollziehbar und vor allem äußerst amüsant, was seinem Protagonisten Felix Sell widerfährt, doch gerät selbst der in kürzester Zeit aufs Glatteis und kommt schließlich im wahrsten Sinn des Wortes auf den Hund. Es ist das überbordende Spiel mit changierenden Ebenen aus Realität, skurrilen Fantasien, Satire, Albernheiten, Träumen, Erlebnissen mit bewusstseinserweiternden Drogen und ausuferndem Fabulieren, das den Reiz dieser Lektüre ausmacht – wenn man denn eine Ader dafür hat.
Der titelgebende Hund ist ein flinker kleiner Jack-Russell-Terrier mit Namen Hobo, der bereits im Prolog abhaut, während er mit Felix, seinem Herrchen, in Florida weilt. Doch davor hat es bereits genug Verwirrung gegeben.
In einer heißen Berliner Juli-Nacht drängte sich wieder einmal altbekannter Liebeskummer in das Bewusstsein des alleinstehenden Felix Sell, 64. Die Verflossene ist die bildschöne Nicole, seit über vier Jahrzehnten von ihm getrennt (wenn sie ihm denn je verbunden war), und ihre letzte schriftliche Nachricht ist auch schon zehn Jahre her. Einst hat sie ihren gemeinsamen Mitschüler Gerry geheiratet, und natürlich lebt sie auf einem anderen Stern, seit der Bundespräsident geworden ist.
Beim Betrachten seiner Lieblings-Schallplatten aus ferner Vergangenheit erinnert sich Felix daran, wie Nicole Ende der Siebziger mit ihm zu »Deep Purple In Rock« das Küssen übte, »bis die Zähne zusammenstießen«. Das war eine »schöne, schwierige, teilweise miese, lebendige, verklemmte, großartige, demütigende, blöde und tolle Zeit«. Lustig und locker waren die Leute damals nicht. Krieg, Terror und ein Atomschlag lauerte hinter jeder Ecke, und auch im eigenen Mikrokosmos mit den Eltern und Lehrern gab es ständig Zwist. Doch für ihn war das alles nebensächlich, solange ihm Nicoles Küsse eine besonders glückliche Zukunft zu verheißen schienen.
Beim Stöbern in seinen Platten und Erinnerungen fällt Felix ein Tütchen in die Hände, darin Pillen, die Nicole und ihn einst in ungeahnte Ekstasen gemeinsamer Glückseligkeit katapultieren sollten – bevor die für ewig vorgesehene Bindung abrupt endete. Um Jahrzehnte verspätet und ganz allein wirft Felix das LSD jetzt ein, schreibt eine Mail an Nicole (»nur mal wieder Hallo sagen«) und fühlt sich sauwohl, während er in ein unkontrollierbares Nirwana zwischen Realität und Halluzination abdriftet. Aus welchem Bereich dringt das aufdringliche Kratzen an der Wohnungstür an sein Ohr? Das kleine braun gefleckte Etwas im Treppenhaus ist unzweifelhaft ein Hund, doch wie erklärt sich, dass er ihn anspricht, noch dazu mit authentischem amerikanischen Akzent? »Get me some water […] I’m dry like a rattle-snake’s ass. Thirsty. Dehydrated, got it?«, fordert er frech, und damit nimmt eine absolut verrückte Story ihren unterhaltsamen Lauf.
Nach und nach erfährt Felix, dass das sprachgewandte, clevere Vierbeinerchen mit treuherzigen Augen und auffällig dominantem Charakter Zuflucht vor »bad people« sucht, die den Signalen des GPS-Senders in seinem Halsband folgen und ihn einfangen wollen. Ist Felix da auf einem Trip jenseits des Verfallsdatums, oder ist ihm womöglich ein Geschöpf aus dem Labor, der Prototyp eines Wesens von künstlicher Intelligenz zugelaufen? Indiziert die üppige Belohnung von einer Million Dollar für das Abliefern des Wesens bei guten Freunden in Florida, dass es um ein ganz großes Zukunftsgeschäft geht, oder ist auch das nur ein Traum? Dem Autor müssen die irrwitzigen, spinnerten Eingebungen selbst bei bester Laune zugeflogen sein, so wendungsreich entwickelt sich eine absurde Verfolgungsjagd über viele Nebenschauplätze.
Auch seine menschlichen Protagonisten sind Linus Reichlin gut gelungen. Wie der Hund ist auch Felix ein schillernder Charakter zwischen Realität, Satire und ausufernder Fantasie. Im früheren Beruf Landschaftsarchitekt, verändert er das Ambiente jetzt unkonventionell und ganz und gar »nicht so, wie es sich das Grünflächenamt von Berlin wünscht«, wo man Baumwohl über Menschenwohl stellt. Dabei verfinstern Bäume Wohnraum, ziehen Ungeziefer an und werfen jedes Jahr tonnenweise Laub ab. Also hat sich Felix als »Baumvernichter« einen Namen gemacht, wird unter der Hand von leidenden Gartenbesitzern weitergereicht und verdient sich bei heimlicher Nachtarbeit mit Axt und Gift eine goldene Nase. Aber auch einem wie ihm bleibt nichts anderes übrig, als sich mit seinem merkwürdigen Hund, der »egomanisch und narzisstisch« vorzugsweise im Imperativ formuliert, für dreißig Tage zu verstecken, bis die für die Einreise in die USA unumgängliche Schutzimpfung ihre Wirkung getan hat. Da kommt die Tessiner Ferienwohnung der Zwillingsschwester gelegen. Dass das geschwisterliche Verhältnis seit Kindheitstagen durch Eifersucht, Neid und allerlei Probleme belastet ist, sorgt für weitere chaotische Episoden.
Keine Figur in diesem Roman bleibt von Häme verschont. Nicole etwa tat sich zu Schulzeiten mit rassistischen Sprüchen hervor, und mancher Zeitgenosse könnte mit Überlieferungen aus der Vergangenheit ihres heutigen Gemahls Skandälchen im Regierungsviertel zünden. Da sprüht der Autor allerlei Ätzendes gegen den Zeitgeist und das Berliner Milieu.
Wie mag dieser erzählerische Parforceritt enden, wie mögen sich seine Rätsel auflösen? Originellerweise wirft uns der Autor auf uns selbst zurück. Wie immer im Leben müsse man »selbst entscheiden«, und so bietet Reichlin zwei Schlüsse an – einen, »dem man trauen kann«, und einen, »dem man nicht trauen kann«. Wer will, kann die Lektüre auch abbrechen oder wenigstens noch das Nachwort des Autors lesen, in dem er mit der kreativen Freiheit des Schriftstellers kokettiert. Wem das alles nicht gefällt, dem rät er abschließend: »Kaufen Sie nächstes Mal das Buch eines Autors, der auf alles eine Antwort hat.«