Rezension zu »Das Leuchten in der Ferne« von Linus Reichlin

Das Leuchten in der Ferne

von


Belletristik · Galiani · · Gebunden · 304 S. · ISBN 9783869710532
Sprache: de · Herkunft: de

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Bei den Gotteskriegern

Rezension vom 27.02.2014 · 1 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Moritz Martens ist nichts mehr fremd in dieser Welt. Sudan, Bosnien, Ruanda, Af­gha­nis­tan – aus allen Krisenregionen hat er berichtet. Er sprach mit »Hutu-Bur­schen«, deren Gesichter weder »Hass« noch »Freude am Töten« aus­drück­ten, sondern Erschöpfung von den »Anstrengungen des Alltags«, nach­dem sie ihre Mitbürger mit Macheten abgeschlachtet hatten. Er rettete »ein Würmchen« von einem Mädchen aus einem »Totenmeer«. Ein »neutraler Beobachter« wollte er nie sein; er hat sich »seinem Entsetzen gestellt«.

Jetzt ist er 53 und auf dem Altenteil gelandet. YouTube ist direkter und schneller als ein Kriegs­bericht­er­stat­ter, und Jugend ist gefragt, auch wenn »deren Lebenserfahrung in eine Streichholzschachtel passte«. Aus Kostengründen ist er gerade aus seiner Schöneberger Wohnung in eine preiswertere in Neukölln um­ge­zo­gen. Er gibt sich redlich Mühe, nicht in zynische Arroganz abzudriften, das »Alltagsleben und die Ar­beit der anderen« geringzuschätzen, die Errungenschaften der zivilisierten Welt als banal zu empfinden, wäh­rend all das Schreckliche für sich in Anspruch nahm, »das einzig Bedeutsame zu sein«. Er kennt und genoss ja auch the good life; seinen Wohlstandsbauch hat er in Berliner Nobellokalen veredelt, Maßanzüge schmei­cheln seiner Eitelkeit, seine Liebe gilt Bach und Rilke.

Eine zufällige Begegnung mit einer jungen Frau reißt Martens aus dieser Befindlichkeit des Umbruchs heraus und katapultiert ihn noch einmal mitten in ein lebensgefährliches Abenteuer.

Im Bürgeramt tritt er der anmutigen Miriam Khalili und ihrem quengligen kleinen Jungen sein längst gezo­genes Nümmerchen ab, um ihnen Stunden weiteren Ausharrens zu ersparen. Miriam revanchiert sich mit einer Einladung. Bei Spaghetti Carbonara und Riesling erzählt sie ihm die Geschichte von Malalai, einem Mädchen aus Afghanistan, der Heimat ihres Vaters. Malalai ist eine »Bacha Posh«, ein Mädchen, das als Junge aufwuchs, um unbehelligt zur Schule gehen zu können, bis sich ihre Weiblichkeit nicht mehr ver­heimlichen ließ und sie als Frau alle Rechte verlor. Nun sollte Malalai verheiratet werden, doch sie entfloh rechtzeitig in Männerkleidung und schloss sich einer Gruppe von Taliban an, die von dem berüchtigten, brutalen Dilawar Barozai angeführt wird. Barozai hat bereits zwei englische Journalisten getötet, und sollte Malalais wahre Identität auffliegen, würde das ihren sicheren Tod bedeuten.

Um sich endlich ein freies Leben als Frau zu eröffnen, würde Malalai gegen ein Honorar von 10.000 Dol­lar einer westlichen Zeitung ein Interview geben. Miriam kennt einen Kontaktmann; sie würde an dem Treffen teilnehmen und gegen Bezahlung das Fotoshooting übernehmen.

Martens beißt an. Noch einmal nach Afghanistan, noch einmal eine heiße Story liefern! Seinen ehemaligen Arbeitgeber, den Chefredakteur des »Wochenspiegels«, hat er schnell überzeugt, er wird alle Kosten tra­gen.

Wenige Tage später fliegen Martens und Miriam nach Mazar-i-Sharif und reisen weiter ins Camp Feyza­bad. Schon beim Einchecken fiel Martens auf, dass Miriam gar keinen Kamera-Koffer dabei hat. Während der Reise erfährt er von ihr, dass sie noch nie in Afghanistan war; ansonsten hüllt sie sich in geheimnis­volles Schweigen, gibt nichts über ihren Informanten preis.

Zweifel kommen auf. Worauf hat Martens sich da eingelassen, so unprofessionell, ohne vorherige Recher­che? Zum ersten Mal hat er Angst – nicht vor den Ereignissen, sondern aus »tiefer liegenden Gründen«: »zu sterben als einer, der sich selbst nicht erkannt hat«.

Miriam weiht Martens erst sehr spät in die wahren Hintergründe der gefährlichen Expedition ein. Nicht wegen Malalai (die es tatsächlich gibt) sind sie nach Afghanistan gekommen, sondern um ihren eigenen Mann aus den Händen der Taliban freizukaufen. Sie fordern 80.000 Dollar Lösegeld, und mit ihrem Foto­grafen-Honorar hat sie die Summe zusammen. Außerdem kann sie sich als Frau nicht allein in die Männer­domäne wagen.

»Na und?« Martens fühlt sich nicht hintergangen. Er liebt genau solch riskante Aktionen und offene Situa­tionen, »nicht zu wissen, was als Nächstes passiert«. »Es war eine warme, nährende Neugier, er fühlte sich im Leben geborgen.«

Im weiteren Verlauf entführt uns Linus Reichlin in das archaische Leben der Mudschaheddin, das von der Scharia bestimmt wird. Ihre karge Berglandschaft erstrahlt in dem Leuchten, von dem der Titel spricht: »ein betörendes, herrschaftliches Licht, das Steine zum Leben erweckte«. Hier reisen Martens und Miriam (im schwarzen Tschador verhüllt) tagelang über steinerne Pfade ins Nirgendwo, geführt von dem Taliban Chargul. Hier erhält Martens die Gelegenheit, sich selber zu erkennen.

Von der Gruppe um Dilawar Barozai als Geisel genommen, vagabundiert er vier Monate lang mit ihnen durchs Land und lernt, Kälte, Entbehrungen und Schmerzen auszuhalten. Am Ende fällt ihm der Abschied schwer von diesen Männern, die »nichts von sich mitteilten«. In ihren »Augen lauerte etwas Verdorbenes, aber ... auch etwas Natürliches, Erdiges ..., das sich mit dem Verdorbenen die Waage hielt«. In die »Un­ge­bun­den­heit verliebt«, zieht es sie »in die Ferne«, sie verlassen ihre Familien, um hier draußen ihre »Ehre« zu holen. Wenn sie in ein Dorf kommen und die Bauern sie »wie einen Qadi [Richter] oder wie einen Mullah [Ehrentitel »Herr«] behandeln«, berauscht sie, die doch selbst nur einfache Bauern sind, »das Hoch­ge­fühl, gefürchtet zu werden«. Wie schal ist dagegen, womit ihre Feinde aus dem Westen sie locken zu können glauben: »ein Krankenhaus, das Ende der Stromausfälle, ein Fernsehgerät in jedem Gehöft und Nan, so viel ihr essen könnt«. Dabei fühlen sich diese Männer doch schon »beim Pflügen durch den An­blick des Ochsenhinterns um ihr Leben betrogen«.

Protagonist Martens trägt in seinem ambivalenten Charakter beide Welten. Er schätzt die Errungenschaften der Zivilisation, Komfort und gutes Essen. Aber eine ihn verpflichtende Beziehung geht er nicht ein, und jederzeit sucht er den Kick eines Abenteuers. Sein Handeln überrascht uns daher immer wieder, und es ist natürlich zunächst einmal dieses Unikum, um des­sentwillen uns »Das Leuchten in der Ferne« von Anfang an gefangen nimmt.

Zum anderen fasziniert der tiefe Einblick in Mentalität und Weltbild der »tapferen Mudschaheddin«. Aus den Medien wissen wir, wie sie, bewaffnet mit Kalaschnikows, Geiseln nehmen, mutmaßliche Spione hin­richten, sündige Frauen steinigen. Durch Moritz Martens' Augen und Ohren erfahren wir, wie ihre religiös definierte Gesellschaft strukturiert ist, wie etwa der Imam die schriftlich festgelegten Verhaltensregeln für den Kampf (die Layha) für alle ihm unterstellten Einheiten aktualisiert und modifiziert, um damit das Image der Taliban in der Welt und die Machtverhältnisse in seinem Herrschaftsbereich zu steuern, wäh­rend gleichzeitig lokale oder persönliche Rivalitäten seine Absichten konterkarieren können. Doch davon ab­ge­se­hen, ist Martens eingenommen von den schlichten, ungebrochenen Charakteren der Männer und von der machtvollen Ge­schlos­sen­heit ihrer religiösen Überzeugung, wodurch sie eine ganzheitliche, unzer­splitterte, kraftvolle Be­we­gung darstellen. Im Vergleich mit der globalisierten Welt außerhalb ihrer Berge und Hochebenen mag man sie als rückwärts gerichtet einschätzen, für »Aussterbende« halten, doch Moritz Martens ist anderer Ansicht: Vielleicht sind die »betenden Mudschaheddin ... nicht die Letzten einer alten Zeit, sondern die Ersten einer neuen«. Angesichts der demografischen Verhältnisse in Europa und einer nicht aus­zu­schlie­ßen­den Radikalisierung kann er sich vorstellen, dass in fünfzig oder siebzig Jahren Män­ner wie diese in Westeuropas Städten regieren, »mit der Hand auf dem Koran und die Gesetze der Scharia vollziehend« ...

»Das Leuchten in der Ferne« ist trotz des politisch relevanten Themas und des abgeklärten Reportagestils – eher informativ als empathisch – kein politischer Roman. Weder wird Afghanistans Geschichte aufge­ar­bei­tet noch werden die Auswirkungen der westlichen Afghanistan-Politik (etwa die Rolle der deutschen Schutztruppen) illustriert. Vielmehr hat Linus Reichlin ein verständnisvolles Porträt der afghanischen Ver­hältnisse mit einer dichten Charakterstudie kombiniert und in eine an Abenteuern reiche Handlung ein­ge­webt.


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