Rezension zu »Der erste Horizont meines Lebens« von Liliana Corobca

Der erste Horizont meines Lebens

von


Belletristik · Zsolnay · · Gebunden · 192 S. · ISBN 9783552057326
Sprache: de · Herkunft: ro

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Geweint wird erst um acht Uhr abends

Rezension vom 17.12.2015 · 7 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Cristina Dumitrache ist erst zwölf und »nichts als Haut und Knochen, dass man meinen könnte, der Wind müsse sie weg­wehen«. Trotz­dem füllt sie eine ganze Reihe von ver­ant­wor­tungs­vol­len Er­wach­se­nen­rollen aus. Sie ist eins von über 120.000 Kindern, die sich im wirt­schafts­schwächs­ten Land Euro­pas auf ei­gene Faust durchs Leben schlagen müs­sen, während ihre Eltern fern von ihnen Geld ver­die­nen.

Moldova (Moldawien oder Moldau) ist erst seit 1991 ein un­ab­hän­gi­ger Staat. Vorher war es eine Sow­jet­repu­blik. Das kleine Land (34.000 qkm, 3,6 Mil­lio­nen Ein­woh­ner) grenzt im Wes­ten an Rumä­nien und ist in allen an­de­ren Him­mels­rich­tun­gen von der Ukraine um­geben, mit der man wegen eines großen Land­streifens jen­seits des Flusses Dnister im Streit liegt. Da die Dauer­misere des Lan­des seinen Be­woh­nern keine Per­spek­tive bietet, ist ein Viertel von ihnen zum Brot­er­werb ins Aus­land gezogen. Von dort über­weisen sie mehr Geld nach Hause, als die daheim­geblie­be­nen drei Viertel er­wirt­schaf­ten können.

Die Autorin Liliana Corobca, 1975 in Moldawien ge­boren, prangert in ihrem Roman »Der erste Hori­zont meines Le­bens« (Über­set­zung: Ernest Wichner) die tris­ten Be­din­gun­gen an, unter denen die zu­rück­ge­las­se­nen Kinder leben, viele bei Ver­wandten, nicht wenige ganz auf sich allein ge­stellt. Das Buch kommt ohne Rühr­selig­keit da­her, reiht viel­mehr aus­drucks­stark Episo­den an­ein­an­der, die teils dras­tische bis Grauen er­re­gende, teils zarte und poe­ti­sche Szenen erzählen und re­flek­tieren. Unbe­rührt lässt dieser Bericht aus einem »Kinder­land« (so der rumä­ni­sche Origi­nal­ti­tel) fernab von den Proble­men unserer Jugend nie­man­den.

Cristinas Mutter um­sorgt in Ita­lien den Nach­wuchs einer ita­lie­ni­schen Fa­mi­lie, der Vater ruiniert in einem ver­strahl­ten Berg­werk Nord­russ­lands seine Ge­sund­heit. Während bei den meisten an­deren Kindern im Dorf noch ein Eltern­teil oder die Groß­mutter Rat und Bei­stand bieten können und den Haus­halt ver­sor­gen, leben Cris­tina und ihre beiden Ge­schwis­ter ohne jeg­liche Bezugs­per­son im Haus ihrer Fami­lie: »Wir ge­hö­ren nie­man­dem.«

Haushalt, Garten und Stall in Schuss zu halten ist für ein junges Mädchen schon an­stren­gend ge­nug. Hund, Ka­ter, Schwein, ein zänki­scher Hahn und zehn Hüh­ner sind zu ver­sor­gen. Frü­her hielt die Familie auch Ziegen. Weil sich die stör­ri­schen Tiere von Kindern kaum melken lassen, schenk­ten die Eltern sie Ver­wandten. Die re­van­chie­ren sich jetzt ab und zu mit etwas Milch und Käse als mild­täti­ge Gaben an die drei Kinder.

Viel kom­plexer ist, was Cristina für ihre Brü­der Marcel (3) und Dan (6) leistet. Ihnen ist sie Er­näh­re­rin, strenge Er­zie­he­rin und wehr­hafte Be­schüt­ze­rin. Das geht nicht ohne Kon­flikte mit ihnen und mit sich selbst. Um jedem ge­recht zu werden, muss sie sich zer­teilen. Ständig braucht der eine Trost, der andere etwas zu es­sen, sind kleine Wun­den zu be­han­deln, Strei­te­reien um Spiel­zeug oder einen Apfel zu schlich­ten. Wenn die beiden verdreckt ins Haus stür­men, das sie gerade auf Knien ge­putzt hat, hätte sie Lust, sie »platt­zu­ma­chen«. Doch ehe sie mit dem Be­sen zu­schlägt, be­merkt sie, wie die Brü­der die Arme schüt­zend über ihren Kopf halten, hält inne, spricht dann sanft zu ihnen und erklärt ihnen, warum sie wütend ist. Dass sie sich beherr­schen konnte und die Jün­geren wie eine Leh­re­rin »im Geist der Sanft­mut« zu er­zie­hen fähig ist, macht sie stolz.

Von den ver­schiedensten Seiten dro­hen der Rumpf­fami­lie Gefahren, und es sind nicht nur Prüge­leien unter Jungs. Be­sitz­rechte gelten nichts, das Recht des Stär­ke­ren viel. Der Nach­bar stiehlt ihren Spiel­sand für sei­nen Haus­bau, sau­fende Väter miss­han­deln ihre Kleinen, Eltern stiften ihren Nach­wuchs zum Klauen an (»Wenn ich nichts mit­bringe ..., schlägt mich meine Mut­ter«). Nachts haben die Kinder Angst, je­mand könnte in ihr Haus ein­drin­gen und das Geld, das die Eltern ihnen schicken, aus dem Ver­steck rauben. So gut es geht, ver­tei­digt das rauf­lustige Mäd­chen die Brüder, schlägt An­grei­fer in die Flucht, ist bereit, sich »bis an die Zähne be­waff­net« schüt­zend für sie ein­zu­set­zen (mit einem Häm­mer­chen zum Nüsse­auf­klopfen, einem Mes­ser fürs Schwei­ne­schlach­ten und einem Beil­chen). Im Notfall hel­fen Ma­gie, Zau­berei und Ri­tuale, doch die er­zeu­gen ihrer­seits irratio­nale Ängste.

Cristina ist eine ideali­sierte Figur. Sie verhält sich ein­fach immer vor­bild­lich. Prag­ma­tisch, ohne jedes Selbst­mit­leid, stemmt sie ihre täg­li­chen Pflich­ten. Für ihre Haus­auf­ga­ben knapst sie etwas Zeit ab, für Le­sen oder Fern­sehen keine. Sie schenkt so­gar ver­nach­läs­sig­ten Jungen und Mädchen aus dem Dorf eine Art Asyl, lässt sie in ihrem Haus spielen, stillt ihren »Wolfs­hun­ger« mit ein­ge­weich­tem Brot und Zucker, gibt ihnen Klei­dung mit. Auch ihre Mutter hat ärme­ren Mit­men­schen immer ge­hol­fen, und nun ist es an ihr, Nächs­ten­liebe zu üben. »Seht ihr?«, führt sie ihren Brüdern vor Augen, es gibt gar nichts zu jam­mern, an­deren Kin­dern geht es schließ­lich noch viel schlechter als ihnen. Dabei ist Cristina oft selbst zum Wei­nen zumute. Im­mer­hin ist auch sie noch ein Kind, das sich nach Trost, Zärt­lich­keit und Glück sehnt. Aber als die Große muss sie Ver­ant­wor­tung über­neh­men. Geweint wird erst um »acht Uhr abends«.

Wenn die zur Frühreife ge­zwungene Erzählerin über gute und böse »Gedanken«, Zi­vi­lisa­tion und Natur, den »Ort des Glücks« phi­lo­so­phiert, ver­lässt sie die Be­gren­zun­gen ihrer kind­lichen Rolle in der Hand­lung und wird zum Sprach­rohr der en­ga­gier­ten Autorin. Damit ist die Erzähl­situa­tion leider brüchig. Auf den ers­ten zehn Sei­ten stellt uns ein all­wissen­der Er­zäh­ler in der dritten Person in wenigen Szenen die Prota­go­nis­tin und ihr Um­feld vor, ehe mit »Liebe Eltern!« ganz un­ver­mit­telt Cristinas Brief be­ginnt. Da er aber in seiner von An­fang an gepfleg­ten, ernst­haften Dik­tion niemals kind­lich wirkt und niemals brief­liche In­halte ver­mit­telt, sondern viel­mehr auf den nach­fol­gen­den ein­hun­dert­sieb­zig Seiten eher wie der Blick eines ge­reif­ten Er­wach­se­nen auf seine Kind­heit da­her kommt, stellt sich die Frage nach dem Sinn der Brief­form. Die Fort­füh­rung der dis­tan­zierten Er­zähl­hal­tung des An­fangs hätte Effekt und Bot­schaft des an Ein­drücken rei­chen Romans keiner­lei Ab­bruch getan.

Im Übrigen tele­fonieren die Kinder jede Woche mit ihrer Mutter. Die Kleinen kos­ten das Glücks­ge­fühl des Kon­takts voll aus. Er bringt mehr als Worte, etwa wenn Mama mit einem lauten Küss­chen ein »Weh­weh­chen« heilt, auf das der Tele­fon­hörer gelegt wurde. Nur die Frage, wann die Eltern end­lich heim­keh­ren, sorgt für Trau­rig­keit. Alle machen im Sommer im Hei­mat­dorf Urlaub, nur Cristinas El­tern nicht. Sie wol­len Reise­kos­ten sparen und er­war­ten, dass der ab­seh­bare Tod der ver­wirr­ten alten Groß­mutter sie ohne­hin bald nach Hause ru­fen wird.

In ihren Tag­träumen kehrt Cris­tina in die bessere Ver­gan­gen­heit ihrer Kind­heit mit Va­ter und Mut­ter zu­rück. Als sie sie­ben Jahre alt war, unter­nahm sie mit dem Vater einen Spa­zier­gang durch Wie­sen und Wäl­der auf den Gipfel eines Berges. Sie hatte mit dem Finger dorthin ge­zeigt, wo von unten gese­hen der Ho­ri­zont verlief. Sie wollte hinauf zu »der Linie, die den Himmel von der Erde trennt«. Ist man erst oben, liegt aller­dings ein anderer Ho­ri­zont in der Ferne. Aber Cristina hatte »den ersten Hori­zont meines Le­bens er­obert«. Da ist sie glück­lich und hat Kraft und Zu­ver­sicht ge­won­nen für die vielen Hori­zonte, die ihre un­ge­wis­se Zu­kunft noch bringen wird.


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