Das weiße Feld
von Lenka Horňáková-Civade
Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Tochter – ihre uneheliche Geburt verbindet diese vier Frauen. In ihren Papieren bleibt das Feld für den Namen des Vaters leer, und damit wird jede ausgegrenzt, wie sehr sich auch die politischen Verhältnisse in ihrer mährischen Heimat ändern.
Vier starke Frauen
Als Marie zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt, gehört das kleine Dorf in Mähren noch zum Kaiserreich der Habsburger. 1929 kommt Maries Tochter Magdalena zur Welt, als Bürgerin der nach dem ersten Weltkrieg gegründeten Republik Tschechoslowakei. Doch schon zehn Jahre später wird Mähren von den Deutschen besetzt, und der zweite Weltkrieg beginnt. Nach dessen Ende wird Magdalenas Tochter Libuše geboren, im gleichen Jahr (1948), in dem Land und Dorf sozialistisch werden. 1969 bekommt auch Libuše eine Tochter: Eva. Als sie erwachsen wird, fällt die Berliner Mauer, und der ›Ostblock‹ löst sich auf.
Von diesen vier Frauen erzählt Lenka Horňáková-Civade in ihrem Debütroman »Giboulées de Soleil« (Hanna van Laak hat ihn ins Deutsche übersetzt). Die Autorin wurde 1971 in der damaligen Tschechoslowakei geboren und emigrierte 1991 nach Frankreich. Entlang der vier Biografien lesen wir auch von den politischen Umwälzungen eines bewegten Jahrhunderts und dem Alltagsleben durch vier Generationen, doch im Mittelpunkt stehen die vier Protagonistinnen.
Alle vier Frauen wurden unehelich geboren, was ihnen allen – ungeachtet der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedingungen – als Makel angekreidet wird und sie an den Rand der dörflichen Gemeinschaft verbannt. Aber alle vier sind auch radikale Verfechterinnen ihrer Freiheit und Unabhängigkeit, was sie in Konflikte mit den wechselnden Obrigkeiten bringt.
Urmutter Marie ist Vorbild und mentales Rückgrat der Familie. Selbst eine durchsetzungsstarke Kämpferin, prägt sie ihre Nachkommen darauf, sich niemals brechen zu lassen, wer auch immer es versuche. Ihr Überlebens- und Freiheitsdrang gibt selbst in schwierigsten Lebensphasen Kraft und Rückhalt. In ihrer »Familie von Bastarden«, so tragen es die Töchter und Enkelinnen weiter, »wird nicht geweint, und falls es doch passiert, darf man das nicht zur Schau stellen«.
Marie lebt in den 1920er Jahren in Wien. Sie arbeitet als Krankenschwester in der Praxis des (verheirateten) Gynäkologen Dr. Stein, mit dem sie auch ein Liebesverhältnis verbindet. Als 1929 die gemeinsame Tochter Magdalena geboren wird, bleibt der Name des Vaters ungenannt, ein leeres, weißes Feld in allen Urkunden. Nach dem Anschluss Österreichs an das deutsche Reich verlässt der Arzt, ein Jude, mit seiner Familie die Stadt, ohne sich von Marie und Magdalena zu verabschieden, doch lässt er ihnen einen Umschlag mit Geld zurück. Anfang 1938 fliehen auch Mutter und Tochter vor den Nazis und lassen sich in einem mährischen Dorf nieder. Erst mit Näharbeiten, später als Hebamme verdient sich Marie Anerkennung und Vertrauen der anfangs feindseligen Dörfler.
Einflussreichster Mann im Dorf ist der deutsche Besitzer eines Gutshofs, einer Mühle und einer Keksfabrik, der fast allen Einwohnern Arbeit und Brot gibt. Trotz aller Warnungen ihrer Mutter verliebt sich Magdalena in dessen Sohn Josef. Doch gleich nach Kriegsende wird die Familie wie fast drei Millionen weitere »Sudetendeutsche« aus der Tschechoslowakei vertrieben. Wehmütig muss Magdalena dem Flüchtlingstreck hinterher sehen, ohne Josef von ihrer Schwangerschaft berichtet zu haben. So kommt 1948 Tochter Libuše (»Liba«) auf die Welt und wird, während Magdalena Arbeit in der Stadt nachgeht, von ihrer Großmutter Marie großgezogen.
Besonders drastisch zeigt sich der Makel der unehelichen Geburt ausgerechnet in der sich nun kommunistisch und modern gebenden Gesellschaftsordnung. Magdalena verliebt sich in den schönen Franta, doch heiraten darf sie ihn nicht. Denn seine verbiesterte alte Mutter wird bei Marie vorstellig, um ihren hinkenden Erstgeborenen bei »Bastardweibern« loszuwerden. Seine Behinderung ist ewiges Zeugnis der Schande seiner Mutter, denn er wurde schon drei Monate vor ihrem Hochzeitstermin gezeugt und sollte eigentlich nie geboren werden. Die beiden Mütter verabreden die Vermählung der beiden Gebrandmarkten, aber Liba, bereits sieben, wird den Familiennamen des ungeliebten Angeheirateten nicht annehmen.
Um die Liberalisierungsbewegung des »Prager Frühlings« niederzuschlagen, rücken 1968 die Armeen des Warschauer Pakts auf Prag vor. Warum sich ein paar russische Soldaten in das weit abgelegene mährische Dorf verirren, ist allen Einheimischen ein Rätsel. Einer von ihnen beäugt Liba, mittlerweile Berufsschülerin, aus der Ferne, und langsam fasst sie Zutrauen zu dem Fremden, bei dem sie nicht der »Bastard des Dorfes« ist. Ein Jahr später – der Soldat ist längst abgezogen – wird Eva geboren.
»Du gehörst niemandem. Du bist frei. Das ist das Einzige, worauf es ankommt. Vergiss das nie.« Mit diesen Worten hat Urgroßmutter Marie Eva von Kindesbeinen an Kraft eingeflüstert, damit sie ihre Überzeugungen gegen alle Widerstände des Alltags zu verteidigen lernt. Das hilft ihr, ihr trauriges Schicksal zu ertragen, dessen Hintergründe sie erst als junge Erwachsene erfährt. Anders als die beiden jüngeren Geschwister, die aus der Ehe zwischen Liba und ihrem Mann Antonin hervorgehen, findet Eva kaum Beachtung in der Familie.
Der eingeimpfte Wille zur Unabhängigkeit, wie er unter den Frauen dieser Familie Tradition hat, kulminiert in Eva, bringt sie in Konflikte mit der Staatsideologie, die vom Individuum Unterwerfung verlangt oder es bestraft. Und obendrein wird ihr immer wieder »das weiße Feld« in ihren Papieren zum Verhängnis, die Unehelichkeit, die Unklarheit ihrer Abstammung.Das Gremium zur Schulzulassung bemängelt die Leerstelle im Anmeldeformular, die Genossin Lehrerin verweigert die Ausstellung des Personenstandsbuches, sie erhält keinen Personalausweis.
Sich unter Druck anzupassen käme dem Mädchen nicht in den Sinn, lieber widersetzt sie sich, so gut das geht (und tritt beispielsweise nicht den Pionieren bei). Sie lernt, sich als Widerspenstige anzunehmen, gegen den »Rest der Welt« ein geheimes Leben im »Trotz« zu führen, mit sich selbst aber eins zu sein.
Die daraus resultierenden Erschwernisse kompensiert Eva mit Fantasie: Da das Mädchen ohne Papiere nicht reisen darf, bleibt sie, während ihre Familie an der Ostseeküste des Bruderstaates DDR Sommerurlaub macht, bei Oma Marie. Mit einer Europakarte und einem großen Topf Salzwasser holt sie sich und der Großmutter den Sehnsuchtsort Meeresstrand ins Haus. Bei Marie, der ewig Verschlossenen, werden Erinnerungen an einen Urlaub in Istrien wach, und sie beginnt zu erzählen ...
Der Roman ist in drei Bücher aufgeteilt, in denen jeweils Magdalena, Libuše und Eva aus der Ich-Perspektive erzählen. Es geht um ihre Sehnsucht nach Liebe, ihren lebenslänglichen Makel als »Bastarde«, die Willkür der politischen Systeme, denen sie sich nur soweit unterordnen, wie es notwendig ist, um Schaden zu vermeiden. Während die Männer ihre Machtpositionen auszureizen versuchen, tragen die vaterlosen, selbstbewussten, unpolitischen Töchter einen starken Stachel gegen Demütigung, Misshandlung und die Systemvertreter in sich, so hart ihre Lebenssituation auch sei. Eingepflanzt hat ihn die zumeist schweigende Marie, deren Leben sich für uns aus dem zusammensetzt, was die drei Frauen über sie berichten. Sie kennt alle tristen Geheimnisse ihrer Kinder und Kindeskinder, steht ihnen unverbrüchlich mit Worten und Taten zur Seite, hält ihnen ohne Vorhaltungen den selbst gewählten Weg frei. Alle wissen, dass sie bei ihr ein liebevolles Zuhause, einen sicheren Rückzugsort finden, sollte ihre familiäre Not unerträglich werden.
So weit entfernt von den Zentren der Macht das unscheinbare mährische Dorf sein mag, so kann es doch den wechselnden Zeitläuften nicht entrinnen, denn auch hier finden sich Erfüllungsgehilfen, die die jeweiligen Ideale getreulich umzusetzen bemüht sind und dabei ihre Wichtigkeit und Macht genießen. So ist dies zwar in erster Linie ein breit angelegter ›Frauenroman‹, emotional aufwühlend, wendungsreich, bis zum Schluss voller Geheimnisse und Überraschungen, aber auch ein Roman über die politischen Veränderungen des Landes, in dessen Geschichte bis heute »weiße Felder« Rätsel aufgeben.