Rezension zu »Das weiße Feld« von Lenka Horňáková-Civade

Das weiße Feld

von


Urgroßmutter, Großmutter, Mutter und Tochter – ihre uneheliche Geburt verbindet diese vier Frauen. In ihren Papieren bleibt das Feld für den Namen des Vaters leer, und damit wird jede ausgegrenzt, wie sehr sich auch die politischen Verhältnisse in ihrer mährischen Heimat ändern.
Belletristik · Blessing · · 272 S. · ISBN 9783896675828
Sprache: de · Herkunft: fr

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Vier starke Frauen

Rezension vom 27.02.2018 · 3 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Als Marie zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Licht der Welt erblickt, gehört das kleine Dorf in Mähren noch zum Kaiser­reich der Habs­burger. 1929 kommt Maries Tochter Magda­lena zur Welt, als Bürgerin der nach dem ersten Weltkrieg gegrün­deten Republik Tsche­choslo­wakei. Doch schon zehn Jahre später wird Mähren von den Deutschen besetzt, und der zweite Weltkrieg beginnt. Nach dessen Ende wird Magda­lenas Tochter Libuše geboren, im gleichen Jahr (1948), in dem Land und Dorf sozialis­tisch werden. 1969 bekommt auch Libuše eine Tochter: Eva. Als sie erwachsen wird, fällt die Berliner Mauer, und der ›Ostblock‹ löst sich auf.

Von diesen vier Frauen erzählt Lenka Horňáková-Civade in ihrem Debüt­roman »Giboulées de Soleil« Lenka Horňáková-Civade: »Giboulées de Soleil« bei Amazon (Hanna van Laak hat ihn ins Deutsche übersetzt). Die Autorin wurde 1971 in der damaligen Tsche­choslo­wakei geboren und emigrierte 1991 nach Frankreich. Entlang der vier Biografien lesen wir auch von den politi­schen Umwälzun­gen eines bewegten Jahr­hunderts und dem Alltags­leben durch vier Genera­tionen, doch im Mittelpunkt stehen die vier Prota­gonis­tinnen.

Alle vier Frauen wurden unehelich geboren, was ihnen allen – ungeachtet der unterschied­lichen gesell­schaft­lichen Bedingun­gen – als Makel angekrei­det wird und sie an den Rand der dörfli­chen Gemein­schaft verbannt. Aber alle vier sind auch radikale Verfech­terin­nen ihrer Freiheit und Unab­hängig­keit, was sie in Konflikte mit den wechseln­den Obrig­keiten bringt.

Urmutter Marie ist Vorbild und mentales Rückgrat der Familie. Selbst eine durch­setzungs­starke Kämp­ferin, prägt sie ihre Nach­kom­men darauf, sich niemals brechen zu lassen, wer auch immer es versuche. Ihr Über­lebens- und Freiheits­drang gibt selbst in schwierigs­ten Lebens­phasen Kraft und Rückhalt. In ihrer »Familie von Bastarden«, so tragen es die Töchter und Enkelin­nen weiter, »wird nicht geweint, und falls es doch passiert, darf man das nicht zur Schau stellen«.

Marie lebt in den 1920er Jahren in Wien. Sie arbeitet als Kranken­schwester in der Praxis des (verheira­teten) Gynäko­logen Dr. Stein, mit dem sie auch ein Liebesver­hältnis verbindet. Als 1929 die gemein­same Tochter Magda­lena geboren wird, bleibt der Name des Vaters ungenannt, ein leeres, weißes Feld in allen Urkunden. Nach dem Anschluss Öster­reichs an das deutsche Reich verlässt der Arzt, ein Jude, mit seiner Familie die Stadt, ohne sich von Marie und Magda­lena zu verab­schieden, doch lässt er ihnen einen Umschlag mit Geld zurück. Anfang 1938 fliehen auch Mutter und Tochter vor den Nazis und lassen sich in einem mähri­schen Dorf nieder. Erst mit Nähar­beiten, später als Hebamme verdient sich Marie Anerken­nung und Vertrauen der anfangs feindse­ligen Dörfler.

Einflussreichster Mann im Dorf ist der deutsche Besitzer eines Gutshofs, einer Mühle und einer Keks­fabrik, der fast allen Einwohnern Arbeit und Brot gibt. Trotz aller Warnungen ihrer Mutter verliebt sich Magda­lena in dessen Sohn Josef. Doch gleich nach Kriegs­ende wird die Familie wie fast drei Millio­nen weitere »Sudeten­deutsche« aus der Tsche­choslo­wakei vertrieben. Wehmütig muss Magda­lena dem Flüchtlings­treck hinterher sehen, ohne Josef von ihrer Schwanger­schaft berichtet zu haben. So kommt 1948 Tochter Libuše (»Liba«) auf die Welt und wird, während Magda­lena Arbeit in der Stadt nachgeht, von ihrer Groß­mutter Marie großge­zogen.

Besonders drastisch zeigt sich der Makel der unehelichen Geburt ausge­rech­net in der sich nun kom­munis­tisch und modern geben­den Gesell­schafts­ordnung. Magda­lena verliebt sich in den schönen Franta, doch heiraten darf sie ihn nicht. Denn seine verbies­terte alte Mutter wird bei Marie vorstellig, um ihren hinken­den Erst­gebore­nen bei »Bastard­weibern« loszu­werden. Seine Behinde­rung ist ewiges Zeugnis der Schande seiner Mutter, denn er wurde schon drei Monate vor ihrem Hoch­zeits­termin gezeugt und sollte eigent­lich nie geboren werden. Die beiden Mütter verab­reden die Vermäh­lung der beiden Gebrand­markten, aber Liba, bereits sieben, wird den Familien­namen des unge­lieb­ten Angeheirateten nicht anneh­men.

Um die Liberalisierungsbewegung des »Prager Frühlings« niederzuschlagen, rücken 1968 die Armeen des Warschauer Pakts auf Prag vor. Warum sich ein paar russi­sche Solda­ten in das weit abgele­gene mähri­sche Dorf verirren, ist allen Ein­heimi­schen ein Rätsel. Einer von ihnen beäugt Liba, mitt­ler­weile Berufs­schülerin, aus der Ferne, und langsam fasst sie Zutrauen zu dem Fremden, bei dem sie nicht der »Bastard des Dorfes« ist. Ein Jahr später – der Soldat ist längst abge­zogen – wird Eva geboren.

»Du gehörst niemandem. Du bist frei. Das ist das Einzige, worauf es ankommt. Vergiss das nie.« Mit diesen Worten hat Ur­groß­mutter Marie Eva von Kindes­beinen an Kraft einge­flüs­tert, damit sie ihre Über­zeugun­gen gegen alle Wider­stände des Alltags zu verteidi­gen lernt. Das hilft ihr, ihr trauriges Schicksal zu ertragen, dessen Hinter­gründe sie erst als junge Erwach­sene erfährt. Anders als die beiden jüngeren Geschwister, die aus der Ehe zwischen Liba und ihrem Mann Antonin hervor­gehen, findet Eva kaum Beach­tung in der Familie.

Der eingeimpfte Wille zur Unabhängigkeit, wie er unter den Frauen dieser Familie Tradition hat, kulminiert in Eva, bringt sie in Konflikte mit der Staats­ideolo­gie, die vom Indivi­duum Unter­werfung verlangt oder es bestraft. Und oben­drein wird ihr immer wieder »das weiße Feld« in ihren Papieren zum Verhängnis, die Unehe­lichkeit, die Unklar­heit ihrer Abstam­mung.Das Gremium zur Schul­zulas­sung bemän­gelt die Leer­stelle im Anmelde­formu­lar, die Genossin Lehrerin verweigert die Ausstel­lung des Personen­stands­buches, sie erhält keinen Personal­ausweis.

Sich unter Druck anzupassen käme dem Mädchen nicht in den Sinn, lieber wider­setzt sie sich, so gut das geht (und tritt bei­spiels­weise nicht den Pionieren bei). Sie lernt, sich als Wider­spens­tige anzu­nehmen, gegen den »Rest der Welt« ein geheimes Leben im »Trotz« zu führen, mit sich selbst aber eins zu sein.

Die daraus resultierenden Erschwernisse kompensiert Eva mit Fantasie: Da das Mädchen ohne Papiere nicht reisen darf, bleibt sie, während ihre Familie an der Ostsee­küste des Bruder­staates DDR Sommer­urlaub macht, bei Oma Marie. Mit einer Europa­karte und einem großen Topf Salz­wasser holt sie sich und der Groß­mutter den Sehn­suchts­ort Meeres­strand ins Haus. Bei Marie, der ewig Verschlos­senen, werden Erinne­rungen an einen Urlaub in Istrien wach, und sie beginnt zu erzählen ...

Der Roman ist in drei Bücher aufgeteilt, in denen jeweils Magda­lena, Libuše und Eva aus der Ich-Perspek­tive erzählen. Es geht um ihre Sehn­sucht nach Liebe, ihren lebens­längli­chen Makel als »Bastarde«, die Willkür der politi­schen Systeme, denen sie sich nur soweit unter­ordnen, wie es not­wendig ist, um Schaden zu vermei­den. Während die Männer ihre Macht­positio­nen auszu­reizen versuchen, tragen die vater­losen, selbst­bewuss­ten, unpoliti­schen Töchter einen starken Stachel gegen Demüti­gung, Miss­hand­lung und die System­vertreter in sich, so hart ihre Lebens­situa­tion auch sei. Eingep­flanzt hat ihn die zumeist schwei­gende Marie, deren Leben sich für uns aus dem zusam­men­setzt, was die drei Frauen über sie berichten. Sie kennt alle tristen Geheim­nisse ihrer Kinder und Kindes­kinder, steht ihnen unver­brüch­lich mit Worten und Taten zur Seite, hält ihnen ohne Vor­haltun­gen den selbst gewähl­ten Weg frei. Alle wissen, dass sie bei ihr ein liebe­volles Zuhause, einen sicheren Rück­zugs­ort finden, sollte ihre familiäre Not un­erträg­lich werden.

So weit entfernt von den Zentren der Macht das unscheinbare mährische Dorf sein mag, so kann es doch den wech­seln­den Zeit­läuf­ten nicht entrinnen, denn auch hier finden sich Erfüllungs­gehilfen, die die jewei­ligen Ideale getreu­lich umzu­setzen bemüht sind und dabei ihre Wichtig­keit und Macht genießen. So ist dies zwar in erster Linie ein breit ange­legter ›Frauen­roman‹, emotional aufwüh­lend, wendungs­reich, bis zum Schluss voller Geheim­nisse und Über­raschun­gen, aber auch ein Roman über die politi­schen Verände­rungen des Landes, in dessen Geschichte bis heute »weiße Felder« Rätsel aufgeben.


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Kommentare

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Zu »Das weiße Feld« von Lenka Horňáková-Civade wurden 1 Kommentare verfasst:

Selner schrieb am 25.04.2020:

Ein guter Roman. Leider tun mir die Übersetzungen der tschechischen Namen Weh. Einmal wird Libuše Libuče, dann Libusa. Auch die anderen Namen sind nicht richtig geschrieben. Es fehlen die Apostrophs etc. Das sind Details, die Weh tun.

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