Das Mädchen mit dem Drachen
von Laetitia Colombani
Eine Französin setzt alles daran, das gesellschaftlich vorherbestimmte Schicksal indischer Mädchen aus der untersten Kaste zu lindern.
Eine Flucht
Léna, seit zwanzig Jahren Lehrerin, droht jeden Halt, jede Orientierung, jede Hoffnung zu verlieren. Ganz unerwartet hat sie ihren Lebenspartner François verloren, und mit seinem tragischen Tod scheinen alle Perspektiven für ihr Leben weggebrochen. Nicht einmal Selbstmordgedanken können sie schrecken. Immerhin schafft sie es, eine Fernreise ins Auge zu fassen, die sie schon mit François angedacht hatte, und sie ergreift die Chance, eine Flucht in eine andere Welt anzutreten.
Doch vor Ort, am Golf von Bengalen, erwartet sie keine Erleichterung. Das drückende Klima, das Chaos auf den Straßen, der modrige Geruch aus abbruchreifen Verkaufsbuden, die aufdringlichen Bettler, das Gedränge der Touristen an den bedeutenden Tempelanlagen – all dies macht ihr zu schaffen, so dass sie sich lieber in ihrem Zimmer mit Meerblick einigelt. Erst in der Dämmerung zieht es sie hinaus. An dem Strand, wo nur ein paar Fischer ihre Netze ausbessern, wagt sie ein Bad zu nehmen, weit hinauszuschwimmen, und kann dabei den Wunsch kaum abschütteln, mit letzter Kraft ihre Grenzen zu überschreiten, »mit den Elementen zu verschmelzen« und lautlos zu verschwinden.
Tatsächlich zieht sie eines Abends eine unerwartete Flutwelle mit Macht davon aufs offene Meer. Bevor die Strömung die Oberhand gewinnt und sie in der Tiefe zu versinken droht, erkennt sie »die Silhouette eines Drachens«, am Himmel schwebend.
Später kommt Léna wieder zu sich und findet sich am Ufer. Zwei dunkle Augen starren sie an, durchdringend, als wollten sie sie zum Leben erwecken. Sie gehören einem zierlichen kleinen Mädchen, das Léna schon des öfteren für kurze Zeit am menschenleeren Strand aufgefallen war. Seine Hände halten eine Schnur, an deren Ende ein aus Flicken zusammengeschusterter Drachen in den Himmel aufsteigt. Nicht nur ihr verdankt Léna ihr Leben, sondern auch einer Mädchengruppe, die gerade am Strand trainierte, als das Kind sie um Hilfe bat. Nun möchte sich Léna erkenntlich zeigen, doch die schwarz-rot gewandete Truppe lehnt Almosen ab, schon gleich von leichtsinnigen Touristen. Die Französin könne ja das Drachenmädchen unterstützen, das sie gefunden hat.
Die uniformierten jungen Frauen sind Aktivistinnen, die sich verbündet haben, um gegen Rechtlosigkeit, Unterdrückung und Misshandlung von Frauen und Kindern zu kämpfen. Sie nennen sich »Rote Brigade« und treffen sich täglich am Strand, um unter Anleitung von Preeti, der dominanten Anführerin, ein Kampftrainingsprogramm zu absolvieren.
Wogegen sie sich zur Wehr setzen, ist das religiös begründete, übermächtige System der hierarchischen Aufteilung in starre Kasten, das die hinduistische Gesellschaft Indiens seit weit über zwei Jahrtausenden beherrscht und lähmt. Wer in die unterste Kaste – die der Dalit (»Unberührbare«) – hineingeboren wird, ist allein aus diesem Schicksal heraus zu einem Leben in Schmutz, Elend, Verachtung, Unwissenheit, Unfreiheit und Bevormundung verdammt, aus dem Ausbruch oder Aufstieg noch heute geradezu undenkbar scheinen. Eine absonderliche Philosophie begründet das Urteil für Millionen: Die Dalit seien eine »unreine« Gesellschaftsgruppe. Alles, was sie berühren, verdorrt angeblich. Die Konsequenzen im Alltag sind drastisch. Angehörige der »reinen« Kasten dürfen sie nicht berühren, nicht einmal ihren Schatten. Da selbst ihre Fußabdrücke schmutzig sind, müssen sie mit einem Besen in der Hand rückwärts laufen und sie wegkehren.
Mädchen und Frauen sind besonders hart betroffen. Natürlich darf man auch sie nicht berühren, aber eine Vergewaltigung bleibt paradoxerweise straflos. Mädchen dienen in ihrer Familie als Arbeitskraft, bis sie zwangsverheiratet werden. Dann sind sie ihrem Mann bis zu ihrem Tod untertan. Widersetzen sie sich seinem Willen, drohen ihnen Prügel, Vergewaltigung, Abweisung in die Prostitution, Säureattacken, Verbrennung bei lebendigem Leib.
Diese Gesellschaftsordnung findet bis heute breite Zustimmung im Lande. Seit den Fünfzigerjahren ist das Kastensystem offiziell abgeschafft, es wurden Quoten eingeführt, um der untersten Kaste Aufstiegschancen zu garantieren, doch die Regelungen stießen auf teilweise gewaltsamen Widerstand.
Für eine Verbesserung der Umstände sieht Léna einen Schlüssel bei der Bildung. Schulbesuch, so ist die gängige Meinung, sei für die Unberührbaren »zu nichts nütze«. Hier setzt Lénas Plan an. Sie möchte eine Schule gründen, um wenigen Mädchen Rechnen, Lesen und ein Grundwissen zu vermitteln und sie für ein paar Stunden aus ihrer täglichen Drangsal zu befreien. Das Projekt ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein, und doch sind hohe Hürden zu überwinden, die Lénas Kräfte zu überfordern drohen.
Lénas erste Schülerin soll das kleine Mädchen mit dem Drachen werden. Sie war mit ihrer Mutter, einer Latrinenreinigerin, aus dem Heimatdorf geflohen. Dann starb die Mutter, und seither spricht das Mädchen nicht mehr. Jetzt lebt sie bei Verwandten, die ein kleines Restaurant führen, und muss dort jede Drecksarbeit übernehmen. Doch der Onkel will seine billige Hilfskraft nicht hergeben, schon gleich nicht ihrer Bildung wegen: »Girl. No school.«
Mit klugen Ratschlägen von Preeti kommt Léna voran. Wenn sie den Erwachsenen Reissäcke, Mittagsverköstigung ihres Nachwuchses oder ähnliche Gaben und Versprechen anbietet, sind sie bereit, ihre Kinder für eine Weile freizugeben. Bald kann Léna in der Werkhalle der »Roten Brigade« eine kleine Klasse unterrichten.
»Le cerf-volant«
Übersetzung: Claudia Marquardt
Natürlich hoffen wir beim Lesen, dass Léna das Unmögliche schaffen werde. Darin bestärkt uns auch die Erzählweise der Autorin (bisherige Bestseller: »Der Zopf«, »Das Haus der Frauen« [› Rezension]). Wenn sie ihre anrührende Handlung erzählt, bleibt ihr Stil leicht, geradezu unterhaltsam angesichts der brutalen sozialen Bedingungen, unter denen sich ihre Figuren ihr Leben erkämpfen müssen, und ihre Empathie für sie ist deutlich spürbar. Laetitia Colombani versteckt nicht das Elend, die Notstände, all die Grausamkeiten und die Härte vieler Menschen. Sie kontrastiert dies mit dem Bild des pittoresken, turbulenten Landes der Tempel, Paläste und Luxusresorts, das die Hochglanz-Reisebroschüren zeigen, und entzaubert den Tourismus als »zweiköpfiges Ungeheuer«. Ihre Schilderungen lassen keinen Zweifel daran, wie starr die Gesellschaftsstrukturen sind. Tradition, Kultur, Religion, Familienstatus und Geschlecht definieren das Schicksal von Millionen, und keine Bevölkerungsgruppe mit Einfluss hat Interesse an Veränderung. So ist sowohl die Lethargie der ohnmächtigen Benachteiligten als auch die Radikalisierung der Aktivistinnen nachvollziehbar, und ich verrate nichts Unerwartetes: Auch eine ambitionierte französische Lehrerin stößt an Grenzen.