Rezension zu »Das Haus der Frauen« von Laetitia Colombani

Das Haus der Frauen

von


Die Geschichte der Heilsarmistin, die in Paris ein Haus für Not leidende Frauen einrichtete. Es besteht und hilft heute noch.
Belletristik · Fischer · · 256 S. · ISBN 9783103900033
Sprache: de · Herkunft: fr

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Frauen helfen Frauen

Rezension vom 10.04.2020 · 31 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

Im 11. Arrondissement von Paris steht in der Rue de Charonne 94 ein Gebäude von beein­drucken­den Ausmaßen, dessen wuchtige Archi­tektur an eine Festung oder ein Gefängnis denken lässt. Auf­fälliges Stil­merk­mal sind gewaltige Rundbogen an Portalen, Fenstern und dem Dachfries. Erbaut wurde das mehr­stöckige Haus mit über 630 Zimmern im Jahr 1910 als Wohnheim für allein­stehende Arbeiter, wurde aber während und nach dem Weltkrieg anders genutzt. 1926 brachte eine Spenden­initia­tive des Ehepaars Blanche und Albin Peyron, »Kom­missäre« der franzö­sischen Heils­armee, elf Millionen Francs auf, mit denen diese Organi­sation das Gebäude erwerben und darin das »Palais de la femme« eröffnen konnte. Dieser Institu­tion, dem »Haus der Frauen«, und seiner Begrün­derin Blanche Peyron hat die franzö­sische Autorin Laetitia Colombani mit ihrem Roman »Les Victorieuses« Laetitia Colombani: »Les Victorieuses« bei Amazon ein literari­sches Denkmal gesetzt, das Claudia Marquardt ins Deutsche übersetzt hat.

Ihr Buch hat zwei miteinander verschränkt fortschrei­tende Handlungs­stränge. Der eine – Blanche Peyrons Biografie – erzählt den Werde­gang dieser histori­schen Person, wie ihn die Anwältin Solène recher­chiert hat. Sie ist die Protago­nistin des anderen – fiktio­nalen – Strangs, der in der Gegenwart spielt und die Thematik, die vor einhun­dert Jahren zur Einrich­tung eines Hauses speziell für Frauen in Not geführt hatte, aktuali­siert.

Blanche Peyron wurde 1867 in Lyon geboren und starb 1933 in Paris. Ihr bewegter, unge­wöhn­licher Lebens­lauf zeigt, dass sie ein unabhän­giger Geist und ihrer von Konven­tionen eng reglemen­tierten Zeit weit voraus war.

Die Tochter eines früh verstorbenen französi­schen Pfarrers und einer Schottin wächst als jüngstes von fünf Kindern in Genf auf. Das Leid anderer Menschen berührt sie zutiefst, und schon früh rebel­liert das tempe­rament­volle, kaum zu bändi­gende Mädchen gegen gesell­schaft­liche Unge­rechtig­keiten. Bei einem Verwandten­besuch in Schott­land lernt die Sieb­zehn­jährige die älteste Tochter des engli­schen Pfarrers William Booth kennen, des Gründers der »Salva­tion Army«.

Erschüttert vom Elend der Arbeiter im Londoner Osten hatte Booth eine Organi­sation ins Leben gerufen, die im Namen Christi den Kampf gegen soziale Miss­stände aufnehmen und sich dazu schlag­kräfti­ger militäri­scher Struk­turen bedienen sollte. Alle Mit­glieder tragen Uniformen und nehmen einen definier­ten Rang in einer hierarchi­schen Ordnung ein, vom einfachen Soldaten bis zum General an der Spitze. Beseelt und gestärkt vom Glauben ziehen die Soldaten der »Heils­armee« durch die Groß­städte, machen musika­lisch auf sich und das Evange­lium aufmerk­sam, betreiben Seelsorge, bieten ihre Hilfe, um die Nöte der Menschen zu lindern, organi­sieren Armen­speisun­gen, verkaufen fromme Zeit­schriften und sammeln Spenden.

Hier erkennt Blanche den Weg, auf dem sie ihre Lebens­ideale verwirk­lichen kann, und schließt sich an. Doch die Zeiten sind hart und unbarm­herzig. »Früher war alles besser«? Keines­wegs. Schon damals verspot­teten Passanten die selbst­losen Helfer wegen ihres eigen­willigen Auf­tretens, und es kam zu schänd­lichen Über­griffen, wie sie uns heute wieder begegnen und fassungs­los machen: Man über­schüttet die Heils­armisten mit heißem Wasser, wirft ihnen faule Eier, Abfälle und tote Ratten hinterher und behindert ihre Arbeit. Aber nichts kann Blanche von ihrer Mission abbringen, auch nicht ihre ange­schla­gene Gesund­heit. Zusätz­liche Stärke gibt ihr Albin Peyron, den sie in der Organi­sation kennen­lernt und später heiratet. Mit seiner Unter­stützung, getragen von seiner Liebe und seinem Verständ­nis verwirk­licht sie ihr großes Projekt: ein Haus, das den ärmsten Frauen von Paris Obdach und Schutz bieten soll. Gemein­sam erhalten Blanche und Albin Peyron die höchste Auszeich­nung, die die franzö­sische Heils­armee zu vergeben hat, sie teilen sich den Titel »Kommissar« und die Verant­wortung, die mit ihm verbunden ist.

Im Mittelpunkt des zweiten Erzähl­strangs, der in der Gegenwart spielt, steht die fiktio­nale Anwältin Solène, 40, aus bestem Hause, per­fektionis­tisch, hochge­schätzt, hoch­bezahlt. Doch der Selbst­mord eines verur­teilten Mandanten stürzt sie in eine tiefe Depres­sion, aus der weder ärztliche Hilfe noch ein Kranken­haus­aufent­halt noch Therapie­gespräche noch Medika­mente sie befreien können. Ihre Arbeit wieder aufzu­nehmen ist ihr undenk­bar, aber der Psycho­thera­peut rät ihr zu einer ehren­amtli­chen Beschäf­tigung. So erfährt sie, dass im »Haus der Frauen« eine Person gesucht wird, die dessen Bewohne­rinnen bei der Korres­pondenz hilft. Solène ist für diese Aufgabe prädes­tiniert, denn sie konnte schon immer gut formu­lieren und gut zuhören. Aller­dings hatte sie bisher noch keinerlei Kontakte zu Menschen außerhalb der upper-classes und sorgt sich, dass Schicksal und soziale Not derje­nigen, denen sie zur Seite stehen soll, ihren desolaten Seelen­zustand noch verschlim­mern könnte.

Die privaten Wohnbereiche des »Palais de la femme« bieten heute Platz für vier­hundert Menschen, es gibt eine Biblio­thek und eine Turnhalle, aber der belieb­teste Treff­punkt ist der große Eingangs­saal mit seinem Glasdach. Hier wartet Solène nun einmal in der Woche auf Frauen, die um ihre Hilfe bitten. Die meisten sind Migran­tinnen aus Afrika, Analpha­betin­nen mit schwachen Franzö­sisch­kennt­nissen und ohne Arbeit. Manche sitzen in Grüppchen beim Tee, andere sondern sich ab, aber alle beäugen miss­trauisch die feine Dame mit ihren Wohl­stands­acces­soires.

Laetitia Colombani erzählt einfühlsam, wie das Eis nur langsam schmilzt. Solène liest Post aus der Heimat vor, füllt Formulare aus, verfasst offi­zielle und private Schreiben, entwirft einen Be­schwerde­brief, weil einer Käuferin an der Super­markt­kasse zwei Euro zuviel berechnet wurden und sie den Betrag – viel Geld für sie – zurück­erstattet haben möchte. Viele vertrauens­volle Aufträge erfordern eine unge­wohnte emotio­nale Annähe­rung. Es geht um grausame Erfahrun­gen mit Genital­verstümme­lungen, gewalt­tätigen Männern, Drogen, Alkohol, Armut, Prosti­tution und Flucht, aber auch um Liebe und Familie. Um die jeweils richtigen Worte zu finden, muss sich Solène sowohl in die Rolle der Frauen vor ihr als auch in die der Adres­saten in der Heimat versetzen. In solchen Fällen empfindet Solène, dass sie jetzt die schwerste Aufgabe ihres Lebens über­nommen hat. Auf ihren feder­leichten Papier­blättern »liegt das Gewicht des Lebens«, und manche Nacht verbringt sie sorgen­voll und schlaflos.

Am Ende ist Solène im Kreis der Frauen aufgenom­men. Sie reißen sie mit, tanzen mit ihr. Es tut allen gut, sich frei zu bewegen, herzhaft zu lachen, Traumata und Sorgen für eine Weile zu vergessen.

Der Schutzraum des »Hauses der Frauen« ist nicht tole­ranter, nicht freier von Rassismus als der Rest der Gesell­schaft, und auch im Haus der Frauen gibt es unange­nehme, unein­sichtige Charak­tere, die wegen ihres obsti­naten, auf­brausen­den oder sonstwie unan­gemes­senen Wesens aus der Gemein­schaft ausge­schlossen und verachtet werden. Manche, die sich allein­gelas­sen und unver­standen fühlen, sehen nur noch einen Ausweg: Selbst­mord.

Die Autorin vermittelt ihre oftmals berührenden Inhalte in einem recht schlich­ten und sach­lichen Stil. Das tut der Intention keinen Abbruch: Der Erzähl­strang über aufwüh­lende Einzel­schick­sale ist ein indi­rekter Appell an unser Ver­ständnis und unsere Solida­rität. Das optimis­tisch stimmende Ende schrammt jedoch dicht am Rand des Kitsches entlang. Der histori­sche Teil ist dagegen nicht so offen­sicht­lich darauf angelegt, den Leser zu rühren, und hält sich eng an die biografi­schen Fakten. Viel­leicht gerade deshalb hat er mir besser gefallen und mich mehr überzeugt als der im Heute spielende, der ein wenig wirkt wie künstlich angehängt.


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Kommentare

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Zu »Das Haus der Frauen« von Laetitia Colombani wurden 1 Kommentare verfasst:

Annemarie Schläpfer- Hintermeister schrieb am 02.08.2021:

Ein sehr lesenswertes und berührendes Buch, das auch einen guten Einblick in die Entstehungsgeschichte der eher belächelten Heilsarmee gibt. Auch die "fiktive" Anwältin Solène aus verwöhnter Umgebung ist gut dargestellt und ihr Einsatz für die benachteiligten Frauen ist berührend.
Ein durchaus lesenswerter Roman!

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