Das Haus der Frauen
von Laetitia Colombani
Die Geschichte der Heilsarmistin, die in Paris ein Haus für Not leidende Frauen einrichtete. Es besteht und hilft heute noch.
Frauen helfen Frauen
Im 11. Arrondissement von Paris steht in der Rue de Charonne 94 ein Gebäude von beeindruckenden Ausmaßen, dessen wuchtige Architektur an eine Festung oder ein Gefängnis denken lässt. Auffälliges Stilmerkmal sind gewaltige Rundbogen an Portalen, Fenstern und dem Dachfries. Erbaut wurde das mehrstöckige Haus mit über 630 Zimmern im Jahr 1910 als Wohnheim für alleinstehende Arbeiter, wurde aber während und nach dem Weltkrieg anders genutzt. 1926 brachte eine Spendeninitiative des Ehepaars Blanche und Albin Peyron, »Kommissäre« der französischen Heilsarmee, elf Millionen Francs auf, mit denen diese Organisation das Gebäude erwerben und darin das »Palais de la femme« eröffnen konnte. Dieser Institution, dem »Haus der Frauen«, und seiner Begründerin Blanche Peyron hat die französische Autorin Laetitia Colombani mit ihrem Roman »Les Victorieuses« ein literarisches Denkmal gesetzt, das Claudia Marquardt ins Deutsche übersetzt hat.
Ihr Buch hat zwei miteinander verschränkt fortschreitende Handlungsstränge. Der eine – Blanche Peyrons Biografie – erzählt den Werdegang dieser historischen Person, wie ihn die Anwältin Solène recherchiert hat. Sie ist die Protagonistin des anderen – fiktionalen – Strangs, der in der Gegenwart spielt und die Thematik, die vor einhundert Jahren zur Einrichtung eines Hauses speziell für Frauen in Not geführt hatte, aktualisiert.
Blanche Peyron wurde 1867 in Lyon geboren und starb 1933 in Paris. Ihr bewegter, ungewöhnlicher Lebenslauf zeigt, dass sie ein unabhängiger Geist und ihrer von Konventionen eng reglementierten Zeit weit voraus war.
Die Tochter eines früh verstorbenen französischen Pfarrers und einer Schottin wächst als jüngstes von fünf Kindern in Genf auf. Das Leid anderer Menschen berührt sie zutiefst, und schon früh rebelliert das temperamentvolle, kaum zu bändigende Mädchen gegen gesellschaftliche Ungerechtigkeiten. Bei einem Verwandtenbesuch in Schottland lernt die Siebzehnjährige die älteste Tochter des englischen Pfarrers William Booth kennen, des Gründers der »Salvation Army«.
Erschüttert vom Elend der Arbeiter im Londoner Osten hatte Booth eine Organisation ins Leben gerufen, die im Namen Christi den Kampf gegen soziale Missstände aufnehmen und sich dazu schlagkräftiger militärischer Strukturen bedienen sollte. Alle Mitglieder tragen Uniformen und nehmen einen definierten Rang in einer hierarchischen Ordnung ein, vom einfachen Soldaten bis zum General an der Spitze. Beseelt und gestärkt vom Glauben ziehen die Soldaten der »Heilsarmee« durch die Großstädte, machen musikalisch auf sich und das Evangelium aufmerksam, betreiben Seelsorge, bieten ihre Hilfe, um die Nöte der Menschen zu lindern, organisieren Armenspeisungen, verkaufen fromme Zeitschriften und sammeln Spenden.
Hier erkennt Blanche den Weg, auf dem sie ihre Lebensideale verwirklichen kann, und schließt sich an. Doch die Zeiten sind hart und unbarmherzig. »Früher war alles besser«? Keineswegs. Schon damals verspotteten Passanten die selbstlosen Helfer wegen ihres eigenwilligen Auftretens, und es kam zu schändlichen Übergriffen, wie sie uns heute wieder begegnen und fassungslos machen: Man überschüttet die Heilsarmisten mit heißem Wasser, wirft ihnen faule Eier, Abfälle und tote Ratten hinterher und behindert ihre Arbeit. Aber nichts kann Blanche von ihrer Mission abbringen, auch nicht ihre angeschlagene Gesundheit. Zusätzliche Stärke gibt ihr Albin Peyron, den sie in der Organisation kennenlernt und später heiratet. Mit seiner Unterstützung, getragen von seiner Liebe und seinem Verständnis verwirklicht sie ihr großes Projekt: ein Haus, das den ärmsten Frauen von Paris Obdach und Schutz bieten soll. Gemeinsam erhalten Blanche und Albin Peyron die höchste Auszeichnung, die die französische Heilsarmee zu vergeben hat, sie teilen sich den Titel »Kommissar« und die Verantwortung, die mit ihm verbunden ist.
Im Mittelpunkt des zweiten Erzählstrangs, der in der Gegenwart spielt, steht die fiktionale Anwältin Solène, 40, aus bestem Hause, perfektionistisch, hochgeschätzt, hochbezahlt. Doch der Selbstmord eines verurteilten Mandanten stürzt sie in eine tiefe Depression, aus der weder ärztliche Hilfe noch ein Krankenhausaufenthalt noch Therapiegespräche noch Medikamente sie befreien können. Ihre Arbeit wieder aufzunehmen ist ihr undenkbar, aber der Psychotherapeut rät ihr zu einer ehrenamtlichen Beschäftigung. So erfährt sie, dass im »Haus der Frauen« eine Person gesucht wird, die dessen Bewohnerinnen bei der Korrespondenz hilft. Solène ist für diese Aufgabe prädestiniert, denn sie konnte schon immer gut formulieren und gut zuhören. Allerdings hatte sie bisher noch keinerlei Kontakte zu Menschen außerhalb der upper-classes und sorgt sich, dass Schicksal und soziale Not derjenigen, denen sie zur Seite stehen soll, ihren desolaten Seelenzustand noch verschlimmern könnte.
Die privaten Wohnbereiche des »Palais de la femme« bieten heute Platz für vierhundert Menschen, es gibt eine Bibliothek und eine Turnhalle, aber der beliebteste Treffpunkt ist der große Eingangssaal mit seinem Glasdach. Hier wartet Solène nun einmal in der Woche auf Frauen, die um ihre Hilfe bitten. Die meisten sind Migrantinnen aus Afrika, Analphabetinnen mit schwachen Französischkenntnissen und ohne Arbeit. Manche sitzen in Grüppchen beim Tee, andere sondern sich ab, aber alle beäugen misstrauisch die feine Dame mit ihren Wohlstandsaccessoires.
Laetitia Colombani erzählt einfühlsam, wie das Eis nur langsam schmilzt. Solène liest Post aus der Heimat vor, füllt Formulare aus, verfasst offizielle und private Schreiben, entwirft einen Beschwerdebrief, weil einer Käuferin an der Supermarktkasse zwei Euro zuviel berechnet wurden und sie den Betrag – viel Geld für sie – zurückerstattet haben möchte. Viele vertrauensvolle Aufträge erfordern eine ungewohnte emotionale Annäherung. Es geht um grausame Erfahrungen mit Genitalverstümmelungen, gewalttätigen Männern, Drogen, Alkohol, Armut, Prostitution und Flucht, aber auch um Liebe und Familie. Um die jeweils richtigen Worte zu finden, muss sich Solène sowohl in die Rolle der Frauen vor ihr als auch in die der Adressaten in der Heimat versetzen. In solchen Fällen empfindet Solène, dass sie jetzt die schwerste Aufgabe ihres Lebens übernommen hat. Auf ihren federleichten Papierblättern »liegt das Gewicht des Lebens«, und manche Nacht verbringt sie sorgenvoll und schlaflos.
Am Ende ist Solène im Kreis der Frauen aufgenommen. Sie reißen sie mit, tanzen mit ihr. Es tut allen gut, sich frei zu bewegen, herzhaft zu lachen, Traumata und Sorgen für eine Weile zu vergessen.
Der Schutzraum des »Hauses der Frauen« ist nicht toleranter, nicht freier von Rassismus als der Rest der Gesellschaft, und auch im Haus der Frauen gibt es unangenehme, uneinsichtige Charaktere, die wegen ihres obstinaten, aufbrausenden oder sonstwie unangemessenen Wesens aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und verachtet werden. Manche, die sich alleingelassen und unverstanden fühlen, sehen nur noch einen Ausweg: Selbstmord.
Die Autorin vermittelt ihre oftmals berührenden Inhalte in einem recht schlichten und sachlichen Stil. Das tut der Intention keinen Abbruch: Der Erzählstrang über aufwühlende Einzelschicksale ist ein indirekter Appell an unser Verständnis und unsere Solidarität. Das optimistisch stimmende Ende schrammt jedoch dicht am Rand des Kitsches entlang. Der historische Teil ist dagegen nicht so offensichtlich darauf angelegt, den Leser zu rühren, und hält sich eng an die biografischen Fakten. Vielleicht gerade deshalb hat er mir besser gefallen und mich mehr überzeugt als der im Heute spielende, der ein wenig wirkt wie künstlich angehängt.