Rezension zu »Hoffnungsland« von Kristín Steinsdóttir

Hoffnungsland

von


Belletristik · C.H. Beck · · 216 S. · ISBN 9783406707216
Sprache: de · Herkunft: is

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Wege aus dem Elend

Rezension vom 22.06.2017 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Island kann sicher als Inbegriff der Abgeschieden­heit gelten, und viele verbinden damit heutzu­tage Posi­tives. Weitab von Umwelt­giften, Konta­mina­tion und poten­ziellen Aggres­sions­schau­plätzen kann man sich dort unge­fährdet und in Frieden wähnen und ist dank Internet, Flug­verkehr und poli­tisch-wirt­schaft­licher Ver­knüp­fungen doch keines­wegs vom Weltge­schehen abge­schnitten.

Die isländische Autorin Kristín Steinsdóttir, 1946 in Reykja­vík geboren, dreht in ihrem Roman »Hoff­nungs­land« die Uhr aller­dings so weit zurück, dass nur Isolation, harte Lebens­bedin­gun­gen und Elend der Zeit übrig bleiben, ohne dass schon irgend­welche kompen­sierende Vorzüge der Moderne in Sicht wären.

Vor 150 Jahren gehörte Island zum König­reich Däne­mark. Die sich in Europa verbrei­tenden Errun­gen­schaf­ten des In­dustrie­zeit­alters – fließen­des Wasser, Kanali­sation, Gas­beleuch­tung, Elektri­zität – hatten noch nicht einmal Reykja­vík, die Haupt­stadt, erreicht. Sie zählte gerade einmal 2000 Ein­wohner und war nicht mehr als ein Fischer­dorf wie viele andere mit ein paar Ver­waltungs­beamten. Ein könig­licher Landvogt sorgte für Recht und Ordnung, und während der dunklen Stunden streiften Nacht­wächter durch die Gassen, damit ihm jede Auf­fällig­keit gemeldet würde.

Die Bevölkerung war ungebildet, konnte nicht einmal lesen und war hilflos vieler­lei Ängsten aus­gelie­fert. Das menschen­feind­liche Klima mit seinen Nieder­schlägen, Stürmen und langen, eisig kalten Wintern hatte immer wieder Hungers­nöte zur Folge, und unbe­herrsch­bare Krank­heiten wie Pest, Pocken, Skrofu­lose oder Wurm­befall rafften die wehr­losen Menschen dahin. Uner­klär­liche Natur­phäno­mene schreck­ten sie; sie konnten sie nur als schlechte Vor­zeichen oder als das Wirken böser Geister ver­stehen. Aber­glaube und die christ­liche Religion schüch­terten sie eher ein, als ihnen Trost und Halt zu geben.

In diesem düsteren Umfeld richtet Steinsdóttir ihr Augen­merk auf die sozial niedrigsten Bevölke­rungs­kreise und dort auf die Ärmsten der Armen: Frauen, die als Tage­löhne­rinnen Schwerst­arbeit leisten und dafür mit einem Hunger­lohn abge­speist werden. Die Autorin schildert einfühl­sam ihr hartes, ent­behrungs­reiches Leben, veran­schau­licht ihre Aus­beu­tung und Unter­drückung in einer patriarcha­lischen Ordnung, aber sie erzählt – auf der Grund­lage einer wahren Begeben­heit – auch davon, wie starke Frauen kleine Schritte wagen, um gegen offen­kundige Unge­rechtig­keiten aufzu­begeh­ren. Der Rahmen ihrer Möglich­keiten ist eng, aber sie bringen den Mut auf, sich gegen die Mäch­tigen und Einfluss­reichen in ihrem Umfeld zur Wehr zu setzen.

Im Mittelpunkt der Handlung stehen Guðfinna und Stefanía, zwei junge Frauen vom Lande, die in der naiven Hoffnung, Anstellung in einem vornehmen Haus zu finden, in die Haupt­stadt ziehen. Dort stacheln die vielen Geschäfte Stefanías Begeis­terung an, und sie träumt sogar davon, sich einen reichen Mann angeln zu können. Doch solche Luft­schlösser zerbröseln, ehe die beiden sich's versehen.

Sie müssen froh sein, einen Schlafplatz in der beschei­denen Hütte des Zimmer­manns Porfinnur und seiner Frau Margrét anmieten zu dürfen. Tag für Tag verdingen sie sich für niedrigste Dienste. Sie schleppen Bottiche voll schmut­ziger Wäsche zu den heißen Quellen, verfrachten schwere Kohle­säcke aus den Schiffen in Lager­häuser, trocknen und salzen Fische auf großen Trag­gestel­len, bringen frisches Wasser in die Wohn­häuser und entsorgen Toiletten­eimer. Unfälle stehen auf der Tages­ordnung. Ein Kind fällt in die heißen Quellen, ein anderes erfriert im Schnee­sturm.

Guðfinna und Stefanía sind nicht die einzigen, die nur mit solch gering­geschätzten Arbeiten überleben. Überall treffen sie alte Leute, Haus­mädchen und Kinder, die wie sie auf die mickrigen Ein­nahmen ange­wiesen sind. Nur wenn Tiere geschlach­tet werden – was selten genug geschieht –, darf man hoffen, dass viel­leicht oben­drein ein Stück Blut­wurst abfällt. Ent­sprechend scharf ist der tägliche Kampf um jeden Auftrag. Trifft man im Morgen­grauen nicht als eine der Ersten an der Wasser­quelle ein, muss man lange Schlange stehen. Dabei nehmen Männer sich das Recht heraus, die Schwäche­ren von ihren Plätzen zu verdrängen. Der Ton ist überall gleich rüde. Aber in der Not stehen die Frauen zusammen.

Auch die beiden Protagonistinnen ergänzen einander perfekt. Die lebens­lustige, neugierige und stets froh­gemute Stefanía erobert leicht die Herzen aller, bringt sie dazu, mitein­ander zu lachen, zu singen und zu tanzen, und kann damit die gedrückte Stimmung der geknech­teten Frauen wenigstens für ein paar Momente lösen.

Dagegen ist Guðfinna eine wortkarge Eigen­brötlerin und aufmerk­same, kritische Beob­achterin. Welch erschüt­ternde Armut sie alle quält, lassen die simplen mate­riellen Wünsche der Frauen ahnen: eine Woll­decke, eine Petroleum­lampe ... Noch weniger erfüll­bar sind ihre Bedürf­nisse nach ein wenig mehr Gerech­tigkeit, ein wenig Wärme, einem kleinen Stück­chen Glück. Ange­sichts des Elends, der Über­forderung, der Ausbeu­tung und der Gleich­gültig­keit um sie herum packt Guðfinna verzwei­felte Wut, aber sie ergreift auch Initiative und Verant­wortung, bietet den Ton angeben­den Männern mutig die Stirn. Als Stefanías Gesund­heit schwer ange­schlagen ist, über­nimmt sie ihre Arbeiten und ruft eine Kräuter­frau zu Hilfe.

In Momenten größter Verzweiflung singt sich Guðfinna mit einem Lied, das sie von ihrer Mutter kennt, Mut an. Es handelt vom »Land der Hoff­nung«. Kann es denn für Menschen wie sie über­haupt Hoff­nung geben?

Viele Isländer zieht es nach Amerika, obwohl sie kaum mehr darüber wissen, als dass es dort viele große Straßen­laternen geben soll. Immer mehr arme Land­bewohner kommen in die Haupt­stadt und quar­tieren sich bei ebenso armen Ver­wandten ein, bis das nächste Schiff einläuft und sie nach Kanada bringt.

Eines Tages tut sich auch für Guðfinna eine Chance auf, ihr eigenes Leben und das der Frauen in ihrem Umfeld zum Besseren zu verändern. Beherzt möchte sie zugreifen. Doch sie müsste dafür gegen Regeln verstoßen.

Kristín Steinsdóttirs historischer Roman (Anika Wolff hat ihn aus dem Isländi­schen über­setzt) über­zeugt trotz der Einfachheit seiner Handlung und Figurenzeichnung durch unge­schönten Realis­mus, Detail­reich­tum und Anschau­lichkeit seiner Beschrei­bungen. Er zeichnet ein deprimie­rendes, sicherlich authen­tisches Bild jener Zeit und bedient sich einer haut­nahen personalen Per­spek­tive. Der Eindruck der Unmittel­barkeit entsteht nicht zuletzt durch die schlichte Sprach­gestalt: Das einfache Alltags­vokabular und die kurzen, oft ellip­tischen Sätze wirken, als ent­sprängen sie direkt dem beobach­tenden, wachen Bewusst­sein der Figuren.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2017 aufgenommen.


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