Rezension zu »Das Genie« von Klaus Cäsar Zehrer

Das Genie

von


Außergewöhnlicher Wissenschaftler erzieht seinen Sohn konsequent zu einem Genie. Der Mensch bleibt dabei auf der Strecke.
Belletristik · Diogenes · · 656 S. · ISBN 9783257069983
Sprache: de · Herkunft: ch

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Das Kind als Versuchskaninchen ehrgeiziger Eltern

Rezension vom 16.12.2017 · 54 x als hilfreich bewertet mit 1 Kommentaren

An William James Sidis erinnert sich niemand, und nichts erinnert mehr an ihn. Dabei soll sein Intelligenz­quotient höher als der des neunzehn Jahre älteren Albert Einstein gewesen sein. Als gefeiertes acht­jähriges Wunderkind hatte er schon vier Bücher veröffent­licht, beschäf­tigte sich mit Natur­wissen­schaften, Psycho­logie und der Geschichte der amerikani­schen Ureinwoh­ner. Aber nach seinem Tod (1944, nur 46 Jahre alt) geriet er schnell in Vergessen­heit.

Der Autor Klaus Cäsar Zehrer hat den Hochbegabten nun wiederent­deckt und sein Schicksal in seinem Debüt­roman »Das Genie« erzählt. Er gestaltet in drei Teilen eine unterm Strich triste Lebens­geschichte. Der erste erzählt den Werde­gang des Vaters Boris Sidis, der zweite, wie der seinen Sohn William erzieht, und der dritte, wie sich der von der Gesell­schaft enttäuschte geniale Sohn mit eiserner Konse­quenz in eine selbst gesuchte Isolation zurück­zieht.

Boris Sidis ist ein eigenwilliger Mensch. 1867 in eine wohlha­bende jüdische Familie in Russland hineinge­boren, prangert er frühzeitig »die Nieder­tracht der Mächtigen« im Zaren­reich an und muss dafür zwei Jahre in Isolations­haft verbüßen. Im Jahr 1886 wandert er nach Amerika aus, jedoch ohne dem Traum vom leichten Reichwer­den nachzu­hängen. Im Gegen­teil: Gleich in Manhattan entledigt er sich all seiner Habselig­keiten und ist beglückt über einen »Idealzu­stand, die paradie­sische Voraus­setzungs­losig­keit eines Neuge­bore­nen«. Geld ist ihm nichts, Bildung dagegen unverzicht­bar für ein selbst­bestimm­tes Leben.

Unbeirrbar folgt er dieser Maxime. Mit einfachen Arbeiten schlägt er sich durch und verleibt sich das gesam­melte Wissen der öffent­lichen Büchereien ein. Er studiert Philosophie, promoviert an der Harvard University und sammelt Aner­kennun­gen für seine wissen­schaft­lichen Leistungen. Doch weil er sich allen gesell­schaft­lichen Konven­tionen wider­setzt und aus seinen kritischen Ansichten kein Hehl macht, bleibt er im Kreis der Gelehr­ten isoliert.

Für Freundschaft, Empathie, Liebe (»Was soll das sein?«) und Intimi­täten hat Boris Sidis keine Ader. Dennoch heiratet er 1894 Sarah Mandel­baum, die sich in den attrak­tiven Wissen­schaft­ler verliebt hat. Arro­gant weigert er sich, »altba­ckene Rituale« zu befolgen, wie die Eltern der Dame um deren Hand zu bitten, aber was er vorhat, das »geht nur mit ihr«: die metho­dische Erzie­hung eines Säug­lings zum Genie.

Wie der Psychologe seinen Sohn wenige Tage nach seiner Geburt systema­tisch und struktu­riert zu prägen beginnt, mag manchen ambitio­nierten Eltern heutzu­tage nicht unatt­raktiv erscheinen. William lernt wie unter Hypnose oder ständiger Suggestion, aber nie unter Druck. Sein Kinder­zimmer ist ein steriler, reiz­freier Raum, damit die Wahr­neh­mung des jungen Gehirns aus­schließ­lich auf die konse­quente Schulung durch den Vater konzent­riert bleibt. Der hält dem Neugebo­renen zum Beispiel Bild­tafeln mit einfachen geo­metri­schen Formen vors Gesicht und verknüpft sie mit monoton wieder­holten Begrif­fen (»Drei grüne Quadrate.«). Mit einem Glöck­chen fördert er das Hören in Verbin­dung mit dem Ortssinn: »Das Geräusch kommt von rechts«. Während das Baby »sinnleer« vor sich hin brabbelt (oder ist das bereits eine »Art Super­sprache«?), unter­stützt sein Vater das Erlernen von vier Sprachen, indem er zu jeder die passende Kopf­bede­ckung trägt – russi­sche Pelzkappe, engli­scher Bowler­hut, französi­sche Basken­mütze, deutsches Filzhüt­chen.

Sarah, die Kindesmutter, ist nur anfangs befremdet (»Er kann doch noch nicht mal scharf sehen.«). Nachdem sie ihr Medizin­studium absol­viert hat, steht sie voll und ganz hinter dem wissen­schaftli­chen Experiment, das, sollte es gelingen und aner­kannt werden, dem gesamten Menschenge­schlecht eine bessere Zukunft eröffnen kann. Lauter intelli­gente, selbst­ständig denkende, freie, also glück­liche Individuen ...

Tatsächlich wird aus William wie geplant ein Genie. Mit zwei Jahren liest er die New York Times, mit vier kennt er Cäsars »De Bello Gallico« auswendig. Die Schule kann ihm nichts bieten, er stiftet nur Unruhe, über­springt nach und nach sämt­liche Klassen, und nach dem Abschluss sind alle froh, das »besser­wisseri­sche Schwatz­maul« endlich los zu sein. Als Zehnjäh­riger referiert er vor Harvard-Profes­soren über seine Theorie der vierten Dimension. Als Elfjäh­riger darf er sich als ordent­licher Student im­matriku­lieren. Den Zwölfjäh­rigen bejubeln die Zeitungen als »größten Mathe­matiker aller Zeiten«. Ist das Experi­ment also geglückt?

Mag sein. Aber der Blick, den uns der Autor in das Innen­leben des Versuchs­objekts eröffnet, legt große emotio­nale und soziale Defizite offen. Die Gründe seien dahin­gestellt. Sind sie Folge der eiskalten Trimmung auf geistige Höchst­leistung unter Ver­nach­lässi­gung aller anderen Kompe­tenzen? Sind sie genetisch veranlagt? War die Soziali­sierung unzurei­chend? Hat das Vorbild des empa­thie­losen Vaters den Jungen empa­thie­los werden lassen? Welches Kind könnte glück­lich werden, wenn es sich allen Erwach­senen haushoch überlegen weiß, wenn sein Vater seine »geistes­schwachen Lehrer« in einer Kampf­schrift öffentlich schmäht? Wer könnte Freund­schaft schätzen lernen, wenn er sich als Jüngster der Klasse von den dumpf­backi­gen Kame­raden selbst abson­dert, anderer­seits gehän­selt wird, weil er nicht einmal seine Schuhe selber binden kann und den Münz­fern­sprecher mit Dollar­noten verstopft? Wer würde sich bei so vielen Frustratio­nen nicht Rückzugs­orte für seine Psyche suchen? Momente sicheren Glückes empfindet dieser Junge – und das sein Leben lang –, wenn er in der Straßen­bahn durch die Stadt zuckelt.

Als William Sidis den Zenit seiner wissen­schaft­lichen Karriere erreicht, beginnt sein schmerz­licher sozialer Abwen­dungs- und privater Abkap­selungs­prozess. Schon dem Vierzehn­jähri­gen ist der Umgang mit den älteren Kom­mili­tonen, immer auf Freizeit und Ablen­kung bedacht, ein Greuel. Er zieht sich in ein gemie­tetes Privat­zimmer zurück, verfasst einen Lebens­plan mit 154 Paragra­phen und erlegt sich das Gelübde auf, niemals zu heiraten und Kinder in die Welt zu setzen. Je älter er wird, desto stärker seine Abnei­gung gegen Sexua­lität, gegen den Medien­rummel um seine Person, gegen die Vereinnah­mung seiner For­schun­gen für militäri­sche Zwecke. Wie sein Vater eckt er aller Orten durch unwirsche Arroganz und schlechtes Benehmen an und vergrätzt noch seine letzten Förderer. Die Univer­sitäten weisen dem Quer­treiber die Tür, wenn er nicht trotzig selber kündigt. Auch mit den Eltern über­wirft er sich. Am Ende bescheidet er sich in Ein­fach­heit und Einsam­keit und arbeitet zum Beispiel als Straßen­bahn­schaff­ner.

Klaus Cäsar Zehrers Roman ist ein vielschich­tiges Erzähl­werk. Im Mittel­punkt des Interesses steht das Charakter­bild seines ambiva­lenten, exzentri­schen Protago­nis­ten: ein Frei­denker und Refor­mer, über­zeug­ter Pazifist, Kriegs­dienst­ver­weige­rer, Bol­sche­wist und Utopist. Dessen Lebens­lauf mit dem radikalen Umbruch vom gefeierten Genie zum verkrach­ten Sonder­ling ist der zentrale Hand­lungs­strang. Er ist einge­bettet in ein umfas­sendes Panop­tikum des amerikani­schen Zeitgeistes und seines Wandels: Kriegs­eintritt (1917), Grippe-Epide­mie (1918 bis 1920), die Verän­derun­gen der Arbeits­welt und der Metro­polen, Welt­wirt­schafts­krise, Arbeits­losig­keit und Armut.

Um Vater-Genie und Sohn-Genie angemes­sen zu porträtieren, bedarf es wohl auch eines Autor-Genies. Zehrer hat aus­führ­lich recher­chiert und beeindru­ckend viel an Wissen und Esprit inves­tiert. Das Buch wimmelt von Zitaten, fremd­sprachli­chen Schnipseln, unendli­chen Details und Episöd­chen über die unbe­kannten und außer­gewöhn­lichen Indivi­duen der Familie Sidis. Die Fülle faszi­niert, unterhält und bildet, fordert aber auch. Ein Buch, das zum Nachden­ken über viele Themen anregt, die uns heute bewegen, wie etwa die Planbar­keit mensch­lichen Glücks.


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Kommentare

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Zu »Das Genie« von Klaus Cäsar Zehrer wurden 1 Kommentare verfasst:

Franz Zehrer schrieb am 04.04.2018:

Sehr interessant und geistreich geschrieben, also empfehlenswert zum Lesen. Das Buch hat meinen Horizont erweitert , weil es viel Wissenswertes vermittelt und zum Denken anregt.

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