Abendrot
von Kent Haruf
Zwei alte Junggesellen nehmen eine ledige junge Mutter auf. Eine Familie droht an der Hilflosigkeit der Eltern zu zerbrechen. Ein Elfjähriger versorgt seinen Großvater, ohne sich als Kind zu verlieren. So einfach die Sprache, so einfach das Leben im Präriestädtchen Holt, so stark rührt den Leser an, was und wie Kent Haruf erzählt.
Das Leben ist nun mal so
Der amerikanische Autor Kent Haruf blieb dem Mittleren Westen der USA zeitlebens verbunden. Er übte die unterschiedlichsten Tätigkeiten zwischen Handwerk, Pflege und Lehren in Nebraska, Iowa, Wyoming, Arizona, Wisconsin und Illinois aus und kehrte schließlich nach Colorado zurück, wo er 1943 geboren worden war und 2014 starb. Sein außergewöhnliches schriftstellerisches Talent brachte ihm eine Reihe Anerkennungen ein, wie etwa den Whiting Award for Fiction, den Mountains & Plains Booksellers Award und den Wallace Stegner Award.
Bemerkenswert ist, dass all seine sechs Romane, die er zwischen 1984 und seinen letzten Tagen verfasste (siehe Liste am Ende des Artikels), in der fiktiven Kleinstadt Holt im Osten von Colorado spielen, also inmitten der endlosen, flachen, öden Prärie der Viehzüchter. Haruf erzählt den Alltag, die Sorgen und Probleme, aber auch die Träume und Sehnsüchte der kleinen Leute auf verständnisvolle, feinfühlige Weise, ohne Staub aufzuwirbeln. Seine Erzählstimmen sind schlicht und unverstellt, langsam und gerade heraus, eher kurz angebunden als offenherzig, wie man sich die Menschen dieser Gegend in the middle of nowhere eben so vorstellt. Sie schaffen zarte Gewebe, die unter die Haut gehen und im Gedächtnis bleiben.
Die Protagonisten von »Abendrot« sind dem Kent-Haruf-Leser bereits aus dem fünf Jahre zuvor veröffentlichten »Lied der Weite« bekannt. Im Mittelpunkt stand da Victoria Roubideaux, damals erst siebzehn, aber schon schwanger. Von ihrer Mutter deswegen vor die Tür gesetzt, brachte ihre Lehrerin sie bei den Brüdern Raymond und Harold McPheron unter. Die beiden alten Junggesellen kannten ihr Lebtag nichts anderes als ihre Rinder und die immer gleichen Tätigkeiten im Wechsel der Jahreszeiten. Dass es auch ein Leben jenseits ihrer gigantischen Ranch gibt, interessierte sie nie. Wie mögen ein junges Mädchen und zwei Viehzüchter, die keine Worte brauchen, da ein jeder für den anderen fühlt, denkt, handelt und einsteht, als wären sie siamesische Zwillinge, miteinander auskommen?
Inzwischen sind zwei Jahre vergangen. Victoria und ihr Kind, die kleine Katie, haben das Leben der McPherons nicht nur bereichert, sondern ihnen Glück und einen Mittelpunkt geschenkt. Victoria nimmt ihnen die Tätigkeiten im Haus und in der Küche ab, und die Männer freuen sich bei ihren Arbeiten im Stall und auf den Weiden darauf, zu Mutter und Tochter zurückzukehren. Sie hätscheln die Kleine und füttern sie mit warmer Haferbrei-Pampe. Wichtig ist ihnen aber auch, dass Victoria ihre Zukunft nicht aus den Augen verliert und ihre Schulausbildung wieder aufnimmt. So bereiten sich alle schweren Herzens auf den Abschied vor, fest entschlossen, sich niemals aus den Augen zu verlieren.
Ganz andere Schwierigkeiten quälen die Familie Wallace, die in einem heruntergekommenen, vermüllten Wohnmobil lebt und auf Sozialhilfe angewiesen ist. Betty, die ständig unter Bauchschmerzen leidet, ist erbost über einen Gerichtsentscheid, der ihr verbietet, ihre Erstgeborene zu kontaktieren. Deren leiblicher Vater ist abgehauen, das Mädchen in einer Pflegefamilie untergebracht. Streit hat sie auch mit Ehemann Luther über ihre gemeinsamen jüngeren Kinder. Die stehen nicht immer pünktlich an der Schulbushaltestelle, was eine heftige Auseinandersetzung mit der Busfahrerin zur Folge hat. Wenn der verängstigte Richie, 6, in der Schule verprügelt wird, rät ihm die Mutter, sich zu wehren, während Luther es mit Jesus hält: »Wenn sie dir eins auf die Backe geben, halt ihnen die andere hin. Steht in der Bibel.«
Die Familie droht ganz zu zerbrechen, als Bettys Bruder Hoyt aus dem Gefängnis entlassen wird und sich bei ihnen einnistet. Die Eltern sind machtlos gegen den gewalttätigen Mann, der im Alkoholrausch die Kinder verprügelt. Sie müssen befürchten, dass ihnen das Gericht auch Richie und Joy Ray, 11, entzieht und in die Obhut von Pflegeeltern gibt.
In der dritten Familie, von der erzählt wird, lebt der elfjährige DJ bei seinem Großvater Walter Kephart, 75. DJs Mutter kam bei einem Autounfall ums Leben, den Vater ihres Sohnes hatte sie nie heiraten wollen. Jetzt führt der Junge den Haushalt und kümmert sich liebevoll um Walter. Wenn der Rentenscheck von der Eisenbahngesellschaft eingetroffen ist, begleitet er ihn in die Eckkneipe und erledigt seine Schularbeiten am Tresen. In der gleichaltrigen Nachbarstochter Dena Wells findet er eine Freundin, mit der er sich ein kleines Paradies in einer vergammelten Scheune einrichtet. Dort richten sich die beiden gemütlich ein, um zu lesen, zu spielen und zu kuscheln.
In ruhigem Gleichmaß erzählt Kent Haruf seinen Erzählfluss, kommt dabei, wie es scheint, vom Hölzchen aufs Stöckchen. Weitere Figuren kommen dazu, deren Leben der Autor für einen kurzen Zeitabschnitt intensiv ausleuchtet. Irgendwie, irgendwann kreuzen sich Wege und verlieren sich wieder. Ungefähr ein Jahr lang beobachten wir das Leben des Städtchens und schauen manchmal zu wie durch das Auge einer Kameradrohne, die der Erzähler über den vertrauten Mikrokosmos gleiten lässt, mal einen Tag lang zur Viehauktion schwenkend, mal zu Dena Wells’ Mutter, die, als ihr Mann sie alleine lässt, in einen psychischen Abgrund stürzt. Ein sorgenfreies Dasein ist hier keinem vergönnt, auch nicht den bescheidenen und zufriedenen Brüdern McPheron. Doch hilft die Verwurzelung in der Gemeinschaft von Freunden und Familie, selbst wenn es eine »zugewachsene« ist wie Victoria und Kate. Das gibt Mut und Zuversicht, nach einem Schicksalsschlag wieder vorsichtig den Kopf aus dem Schneckenhaus zu strecken, nach Gleichgesinnten Ausschau zu halten, Leid und Einsamkeit zu überwinden, auf Sonne zu hoffen.
Wie sein Titel anklingen lässt, ist »Abendrot« ein melancholischer Roman. Die vielen traurigen Episoden und herben Lebensabschnitte können von den heiteren, friedlichen, geruhsamen Gegenstücken kaum aufgewogen werden. Soweit sie vom Schicksal der anderen erfahren, soweit sie die Kraft dazu haben, helfen die Menschen einander, halten zusammen. Alle gemeinsam machen das Leben aus, wie es uns der wunderbare Erzähler Kent Haruf aus der Prärie schildert. Unaufgeregt schafft er eine Atmosphäre, die ohne Action auskommt, in die man sich versenken kann und von der man sich am Ende ungern verabschiedet.
Kent Harufs Werke:
• »The Tie That Binds« 1984
• »Where You Once Belonged« 1990
• »Plainsong« 1999, dt. »Lied der Weite« 2018 (Übersetzung: Rudolf Hermstein)
• »Eventide« 2004, dt. »Abendrot« 2019 (Übersetzung: pociao)
• »Benediction« 2013 (postum)
• »Our Souls at Night« 2015 (postum), dt. »Unsere Seelen bei Nacht« 2017 (Übersetzung: pociao), 2017 verfilmt mit Jane Fonda und Robert Redford