Neuleben
von Katharina Fuchs
Deutschland Ost und West, 1953 bis 1954: Zwei starke junge Frauen gehen ihre Wege.
Lauter Steine im Weg der »Fräulein«
Romane, die in der Nachkriegszeit spielen, haben Konjunktur, scheint es. Ist es nostalgisches Heimweh nach einer Zeit, in der die Lebensbedingungen zwar karg und die sozialen Freiräume des Einzelnen eng begrenzt, Gesellschaft und Moral aber einfacher und übersichtlicher strukturiert waren? Jedenfalls aus heutiger Sicht, wo Globalisierung, hemmungsloser Materialismus, Stellvertreterkriege und Fluchtbewegungen, Geschichtsvergessenheit, Überempfindlichkeiten, längst überwunden geglaubte Ideologien florieren, manches Wertesystem zerbröselt und vielen Bürgern die Orientierung schwerfällt.
Der Fülle bereits erschienener Lektüren dieser zurückblickenden Art fügt die Juristin und Schriftstellerin Katharina Fuchs nun ein überzeugendes, authentisches Zeitdokument hinzu. Ihr breit angelegter Familienroman »Neuleben« knüpft an einen ersten Teil an, den Roman »Zwei Handvoll Leben« (2019), ist aber problemlos unabhängig davon zu lesen. In »Zwei Handvoll Leben« erzählt die Autorin von ihren Großmüttern Anna Liedke und Charlotte Trotha, die beide 1899 geboren wurden und sich zu starken weiblichen Persönlichkeiten entwickelten. Anna wuchs im Spreewald auf, Charlotte auf einem Hofgut in Sachsen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen sich beide in Berlin nieder, wo »Neuleben« im März 1953 einsetzt. In den Mittelpunkt des Geschehens rückt jetzt aber die nächste Generation: Charlottes Tochter Therese (1927 geboren) und Annas zwei Jahre jüngere Tochter Gisela (die Mutter der Autorin).
Acht Jahre nach Kriegsende ist das Leben in der viergeteilten Stadt noch immer schwer, besonders für Frauen, und ihnen gilt das Hauptaugenmerk der Autorin. Die Kriegsfolgen sind überall sicht- und spürbar und beeinträchtigen für viele den Alltag: Wohnungen in Häuserruinen, Aufräumarbeiten und Bombenentschärfungen, improvisiert instandgesetzte Straßenbahn-, S- und U-Bahnnetze. Kriegsversehrte tragen schwer an ihren Traumata. Ausgemergelte Männer und Frauen mühen sich, irgendwie über die Runden zu kommen. Viele Frauen und Mütter hoffen noch immer auf die Rückkehr ihrer verschollenen Männer.
Dank der Solidarität des Westens blüht Westberlin wirtschaftlich rasch auf. Die Schaufenster füllen sich, durch quirlige Kaufhäuser wie das KaDeWe und über schicke neue Einkaufsboulevards flanieren Menschen, die sich mit neuer Mode ein bisschen Glück, mit modernen Elektrogeräten einen Hauch von Luxus erkaufen oder einfach nur die Erfolge des Wirtschaftswunders bestaunen möchten.
Im Osten der Stadt verspricht die Propaganda jedem Bürger eine grandiose Zukunft im Sozialismus, doch Mangelwirtschaft, Unfreiheit und Unterdrückung schaffen Unzufriedenheit, die sich am 17. Juni 1953 in massenhaften Protesten Luft macht. Mit Hilfe von Panzern der Sowjetarmee wird der Aufstand in Berlin niedergeschlagen.
Vor diesem realen Hintergrund, der mit vielen lebhaften Episoden veranschaulicht wird, verläuft die Handlung in zwei parallelen Strängen.
Therese, selbstbewusster Spross der von ihrem Landgut vertriebenen stolzen Familie Trotha, hat sich für ein Jurastudium an der Universität eingeschrieben. Damit dringt sie (zusammen mit einer weiteren Kommilitonin) in eine Männerdomäne vor. Professor und Mitstudenten lassen keine Gelegenheit aus, die beiden vorzuführen, sich lauthals über sie lustig zu machen. Der Professor legt »Fräulein Trotha« ans Herz, »Rechtsanwaltsgehilfin« zu werden, denn dort habe sie »die Gelegenheit, einen guten Ehemann mit einem mittleren Einkommen zu finden«.
Die Schärfe des männlichen Widerstands ist heute kaum nachvollziehbar. Aber Frauen, die berufstätig sein wollen, waren zu jener Zeit Exotinnen, unverstanden selbst von vielen ihrer Geschlechtsgenossinnen, womöglich verachtet. Tradition und Gesetz hatten den Platz der Frau als ›Untertanin‹ ihres Ehemannes festgeschrieben: »Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, so weit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist« (§ 1356 BGB, 1958 bis 1977). Für einen Arbeitsvertrag, selbst für einen Fortbildungskurs, musste eine Frau im ›freien Westen‹ die Unterschrift ihres Mannes vorlegen.
Obwohl Therese viele Steine in den Weg gelegt werden, legt sie ein Staatsexamen mit Prädikat ab, wird eine der jüngsten Richterinnen Deutschlands und schließlich 1. Vorsitzende am Landgericht Koblenz. Auch als emanzipierte Privatperson erregt sie Aufsehen: unverheiratet, aber durchaus mit wechselnden Männern an ihrer Seite, modisch streng gekleidet, Zigarette rauchend in ihrem flotten Karmann-Ghia-Cabriolet.
Parallel zu Thereses Werdegang wird uns der von Gisela Liedke erzählt, auch sie eine willensstarke, durchsetzungsfähige junge Frau, aber im Gegensatz zu Therese (Typ graue Maus) eine auf hübsches Aussehen bedachte Erscheinung.
Demnächst wird Gisela Felix heiraten, einen Halbbruder von Therese Trotha. Zur Hochzeit reisen Felix’ Mutter Charlotte sowie seine Patentante Edith an, eine jüdische Cousine von Charlotte, die vor Kriegsbeginn in die USA emigriert war. Entsprechend ihrem neuen juristischen Status wird die Eheschließung Giselas Freiheit einschränken, nicht aber ihren Tatendrang und nicht ihren geheimen Traum, elegante, extravagante Schnitte zu entwickeln und selbst Haute Couture zu schneidern. Vorsichtig unterläuft sie die Wünsche ihres Mannes, was für eine Arbeitsstelle sie suchen solle, und bewirbt sich stattdessen auf die Anzeige eines alteingesessenen Modeunternehmens. Dort muss sie sich vorerst mit biederen Alltagskleidern beschäftigen, doch wird sie sich dank ihres Talents gegen alle Widerstände durchsetzen. Der Markt ist reif, denn die deutsche Hausfrau wünscht sich sehnlichst, ausgefallene Mode zum bezahlbaren Preis selber nähen zu können.
Katharina Fuchs’ leicht zu lesender Unterhaltungsroman lässt dank unendlich vieler atmosphärischer Details (Maggi-Würze, Fernsehkoch Clemens Wilmenrod, die Fußball-Weltmeisterschaft, ein Flug mit der Lufhansa …) eine Zeit »neuleben«, die so nah und doch so fern ist. Mit Dutzenden von überzeugend gestalteten Figuren repräsentiert die Autorin das gesellschaftliche Spektrum im gespaltenen Deutschland der Zeit zwischen dem Trauma des Krieges und der Hoffnung auf eine bessere Zukunft, zwischen blanker Not und langsamer wirtschaftlicher Erholung.
Politisch ist das Land vom Ost-West-Gegensatz geprägt, und der beeinflusst auch den komplexen privaten Plot. So machen sich im Westen Ressentiments, Neid und Missgunst gegen »die Vertriebenen« und gegen Flüchtlinge aus dem Osten breit, deren materielle Schäden und Sorgen durch steuerfinanzierten »Lastenausgleich« und »Eingliederungsdarlehen« behoben werden sollen. Im Osten muss man sich mit den Konsequenzen der Planwirtschaft und der ideologischen Diktatur entweder arrangieren oder Widerstand leisten, wie es Felix in seiner Studienzeit wagt. Die Risiken sind, wie man weiß, gewaltig – es kann um Leben und Tod gehen.
Spätestens dann muss es vorbei sein mit nostalgischen Sehnsüchten nach der gar nicht guten alten Zeit.