Immer wieder anders ...
Die junge Frau betritt das Münchner Café und steuert den mit reichlich Kuchen beladenen Tisch am Ende des Raumes an. Ein bleicher, gar nicht männlich wirkender Mann dominiert die Runde »von Vasallen und Speichelleckern«, neben ihm eine »stark geschminkte, dauergewellte Platinblonde«. Man kennt sich: »Unsere englische Freundin«, stellt der Mann das Fräulein Ursula vor und bietet ihr einen Stuhl neben sich an. Sie stellt ihre schwere Handtasche ab, bestellt Schokolade, probiert den ihr angebotenen Pflaumenstreusel, tupft mit dem Taschentuch, dem ihre Initialen eingestickt sind, ein paar Krümel von ihren Lippen, beugt sich zu ihrer Tasche hinunter, zieht den »alten Armeerevolver ihres Vaters aus dem Ersten Weltkrieg« heraus, sagt »Führer, für Sie«, zielt und drückt ab.
Welcher Leser würde nach dieser Episode vom November 1930, die den Roman eröffnet, nicht erwarten, dass nun der Werdegang einer mutigen (fiktiven) Britin erzählt würde, die ihr Leben aufs Spiel setzte, um den unheimlichen Aufsteiger Adolf Hitler zu töten, ehe er größeres Unheil anrichten kann? Der bereits pathetisch vorbesetzte deutsche Titel, so könnte man assoziieren, bezieht sich auf das unvollendet gebliebene Projekt einer Attentäterin, die die Weltgeschichte hätte ändern können.
Doch weit gefehlt. Der englische Originaltitel führt nicht so in die Irre und trifft Inhalt und Intention der englischen Bestseller-Autorin Kate Atkinson weit besser. Denn »Life After Life« ist eine breit angelegte Familiensaga zwischen 1910 und 1967, in der nichts Bestand hat, sondern alles fließt. Kate Atkinson erzählt gar keinen Werdegang, sondern variiert Lebensläufe, erschafft immer wieder neue Biografien. Was wäre geschehen, wenn ...? Ursula steht zwar im Mittelpunkt, doch viele andere Figuren werden gleichermaßen Wandlungen unterzogen. So ergibt sich ein kaleidoskopartiges Spiel, das den Leser zunächst verwirrt, bis er sich in das Prinzip der lebenserschaffenden und -verwerfenden Maßnahmen fügt. Dann verstehen wir: Das Attentat, das Millionen Menschenleben gerettet hätte, ist nichts als eine Laune der Schicksalsgöttin Kate Atkinson, eine Seifenblase.
Schon Ursulas Start ins Leben vollzieht sich in mehreren Alternativen, die ohne offenkundiges System übers Buch verteilt präsentiert werden. Fest steht allein der Termin, der 11. Februar 1910.
Mutter Sylvie Todd liegt in den Wehen. Eine Frühgeburt. Arzt Dr. Fellowes reitet heran, doch heftiges Schneetreiben vereitelt die rechtzeitige Ankunft. Das Baby wird tot geboren. Die Nabelschnur hat sich um seinen Hals gewickelt.
Mutter Sylvie Todd liegt in den Wehen. Arzt Dr. Fellowes erreicht das Anwesen Fox Corner in letzter Sekunde. Er kann die Nabelschnur, die das Baby erstickt hätte, mit seiner Schere durchtrennen.
Mutter Sylvie Todd liegt in den Wehen. Sie ist mit Hausmädchen Bridget allein in Fox Corner. Die Nabelschnur hat sich um den Hals des Neugeborenen gewickelt. Beherzt schneidet Sylvie zu. »Schnipp, schnapp. Übung macht den Meister.«
Baby Ursula liegt friedlich schlummernd in seinem Bettchen. Die dicke Katze Queenie springt in die verlockend weiche kleine Bettstatt, breitet sich wohlig aus, nimmt dabei Ursula die Luft zum Atmen. Mutter Sylvie kämpft um das Leben ihrer kleinen Tochter. Sie bläst ihr Odem in Mund und Nase ein.
Ein Lebensbeginn, der ebensogut ein Sterben sein kann, um wiedergeboren zu werden. Auf so dünnem Eis verläuft auch Ursulas Kindheit. Sie erkrankt schwer an einer Grippe, verunglückt (Variante: zögert, wird zum Essen gerufen), als sie auf das überfrorene Dach des Hauses klettert, um ihre geliebte Strickliesel aus der Dachrinne zu holen. Sie ertrinkt beim Toben in den Wellen des Meeres (Variante: wird von einem Maler, der die spielenden Kinder beobachtet hatte, gerettet). 1940 wirkt Ursula wie ihr Bruder Maurice bei der Luftabwehr in London mit, wird während der schweren deutschen Bombardements verschüttet, um später errettet zu werden.
Die permanenten Revisionen nahezu aller Figuren lassen nur einen rudimentären Handlungsverlauf als gemeinsamen Nenner stehen, und der ist schwer auszumachen. Nur soviel bleibt: Ursula wächst bei ihren Eltern Sylvie und Hugh und ihren drei Geschwistern Maurice, Pamela und Teddy in Fox Corner, einem herrschaftlichen britischen Anwesen, umsorgt von Dienstboten auf. Als Teenager wird sie von einem amerikanischen Freund ihres Bruders vergewaltigt und geschwängert, aber das Baby wird abgetrieben. (Variation: es war nur ein zarter Kuss, eine leidenschaftliche Umarmung.) Ihre Beziehungen zu Männern sind physische und psychische Leidenswege. Sie heiratet heimlich den nicht standesgemäßen Derek Oliphant, einen frustrierten Lehrer, der sich als gewalttätiger Ehemann und Lügner entpuppt. Dann unterhält sie eine Affäre mit einem älteren verheirateten Mann aus der obersten Admiralität, doch ihm bedeutet sie nicht mehr als ein beiläufiges Liebesgeplänkel.
Die bewegte Zeitgeschichte – Entbehrungen der Wirtschaftskrise, Nöte der Kriegsjahre – fließt in kurzen Kapiteln, nach Jahr und Monat datiert, aber niemals chronologisch geordnet, abrupt und heftig in die Handlung ein. Ursula macht eine Europareise und lebt zeitweise in Berlin und München. Dort schließt sie Freundschaft mit Eva Braun, ist zu Gast auf dem Obersalzberg und lernt den »Führer« kennen. Gut, wenn unsere Lebenswege im Würfelbecher entstehen, wie die Autorin es uns hier vorführt, dann mag auch diese Zufallskonstellation zustande kommen, aber sie wirkt denn doch arg befremdlich und noch künstlicher als manch andere gesuchte Variante in diesem Gesamtkonstrukt. In Deutschland erreicht Ursula die Nachricht vom Tod ihres Vaters. In einer anderen Variante ist sie in England, als ihr Vater an einem Herzinfarkt stirbt und die Familie zur Beerdigung nach Fox Corner anreist – ob so oder so: Wie belanglos scheint das jetzt alles ...
Es sind einfach zu viele Bälle, die Kate Atkinson zu jonglieren versucht. Dem Leser wird der feste Boden entzogen, und er findet kein verlässliches Gerüst, um das soeben Geschehene einzuordnen, ehe es ohnehin wieder revidiert wird. Beim Versuch, die widerspenstigen Puzzlesteinchen zusammenzufügen, knirscht es ständig, und ein Gesamtbild will sich einfach nicht ergeben.
»Die Unvollendete« ist ein unterhaltsames Konglomerat, eine Spielwiese, auf der Kate Atkinson ihrer Experimentierfreude freien Lauf gelassen hat. Ihr großartiges Sprachtalent (Übersetzung: Anette Grube) lässt ihr alle Möglichkeiten intensiven Erzählens, und mit dem Stift hält sie unbegrenzte Schöpfermacht in der Hand. Schade nur, dass am Ende Beliebigkeit statt Gestaltung steht.