Sternstunde
von Karin Kalisa
Der Stern von Bethlehem nichts als ein eiskalter Brocken aus Weltraumstaub und Gas? Die achtjährige Kim – fast selber ein Sternen- und Christkind – ist bestürzt, als sie das erfährt. Jetzt muss sie ihre kindliche Vorstellung vom Stern überdenken. Ein kluger Wissenschaftler hilft ihr.
Kein Stern mehr für Stella?
Die Goldschmidts sind keine Durchschnittsfamilie. Vater Michael ist viel unterwegs, um als Kirchenrestaurator aus verblassten oder verschmutzten Deckengemälden frisches Leben zu zaubern. Mutter Marylou kann als Porzellanmalerin im über hundert Jahre alten Haus der Familie arbeiten. Ihre Tochter nannten sie nach Marylous irischer Großmutter Kimberly, kurz »Kim«. Dass das Mädchen just an einem Heiligabend zur Welt kam, erfreute die Eltern derart, dass sie ihr den »himmlisch-heiligen« Zweitnamen Stella gaben. Schon ihr großer Bruder war an einem besonderen Tag geboren, dem 6. Januar, und das sollte sich in seinem Namen niederschlagen. Doch welchen der Heiligen Drei Königsnamen sollte er tragen? Die Eltern würfelten, und das Los fiel auf Balthasar – woraus bald »Sari« wurde.
Die achtjährige Kim ist ein vernünftiges, einsichtiges und pflichtbewusstes Kind und eine aufregende Identifikationsfigur. Ihre Welt ist keineswegs, wie man befürchten könnte, heil und süßlich. Das dünne, kurzhaarige Mädchen, das sich für Sterne begeistert, die Kleidung des Bruders und seinen abgeschrappten Schulranzen aufträgt, ist nicht der Typ, um den sich die Gleichaltrigen scharen. Die folgen lieber dem Mainstream und lassen Kim alleine stehen oder mobben sie sogar. Aber einer von ihnen erweist sich als ein ganz anderer, als sein Verhalten nahelegt – am Ende gar als Freund. Zwar hat Kim eine intakte Familie um sich, aber auch da herrscht nicht immer eitel Sonnenschein. Größten Verdruss brachte ihr ausgerechnet ihr Hobby, die Sterne. Doch Bilder davon aus den kostbaren Kunst- und Fotobänden des Vaters herauszuschneiden, das geht ja nun gar nicht.
Die Handlung, wie sich Kims kindlich-schlichte Weltsicht hin zu einer rationalen, erwachsenen öffnet, nimmt an einem adventlichen Spätnachmittag ihren Lauf. Sari ist bei Freunden, der Vater steckt irgendwo im Stau fest, und die Mutter hat’s eilig, denn sie muss zum Elternabend. Wenigstens kann sie noch schnell den Mohnstollen in den Ofen schieben und der Tochter auftragen, den Schalter auf Null zu drehen, »wenn an der Backnadel hier kein Mohnkörnchen mehr hängenbleibt«.
Jetzt ist Kim allein zu Haus. In sich versunken sitzt sie auf dem Küchenfußboden, starrt in die »Höhle« des Backofens, wo das Teiggebilde langsam zu richtiger Form und Farbe reift, während im Hintergrund Musik, Verkehrsmeldungen, Nachrichten aus dem Radio dudeln. In ihrem Kopf schweben träge Wölkchen, so verschwommen, »dass man sie noch nicht mal Gedanken nennen konnte«.
Bis das Wort »Weihnachtsstern« sie aus der Lethargie reißt. Der Sprecher von »Wissenschaft am Nachmittag« spricht im Radio von ihm. Dass die drei Könige vor zweitausend Jahren Gelehrte waren, die den Himmel erforscht hatten und einem Stern nachgingen, der nach ihren Berechnungen gar kein Stern sein konnte, ist für Kim nichts Neues. Schließlich ist das ihr Stern – dessen Name sie trägt und der schon so lange »durch ihr Leben funkelte«. Die Wissenschaft gehe heute davon aus, dass es ein Komet gewesen sei, ein Himmelskörper »aus gefrorenem Gas und Staub«, der im Jahr 2061 wiederkehren werde. Während sich das Redaktionsteam mit guten Wünschen für Advent und Weihnachten verabschiedet, steht Kim erschüttert in der dämmrigen Küche vor dem hell erleuchteten Backofen und versteht die Welt nicht mehr.
Dies ist die Ausgangssituation nach wenigen Seiten. Bald lernt Kim den Astrophysiker Arthur Sanftleben kennen und schätzen. Wenn sie den alten Herrn besucht, darf sie durch sein Teleskop schauen und staunen über die rätselhafte Welt in unvorstellbarer Ferne. Fachkundig und geduldig erläutert er seiner aufmerksamen jungen Zuhörerin alles über den Abendhimmel und die Sternenbilder, über Zusammensetzung, Entstehung und Lebenszeit der Sterne, über die Entdeckung der Kometen Hale-Bopp und Hyakutake. Kims drängende Frage nach dem Stern von Bethlehem erfordert eine besonders komplizierte Antwort, bei der es um ein Zusammenspiel der Planeten Jupiter und Saturn geht.
Die freie Autorin Karin Kalisa ist zwar keine Astrophysikerin, aber eine weit herumgekommene Wissenschaftlerin (asiatische Sprachen, Philosophie, Ethnologie), die den Stoff kompetent und angemessen zu vermitteln weiß. Vor allem nimmt sie ihre jungen Leser ernst, wenn sie die für Kinder schwierige, ziemlich abstrakte Materie auf liebevolle, verständliche Art aufbereitet. Mit Kim und ihrer harmonischen, unaufgeregten Familie hat sie für ihre Geschichte einen friedlichen Ruhepol erschaffen.
Bücher und Musik-CDs für die Advents-
und Weihnachtszeit finden Sie hier.
Der Untertitel bezeichnet dieses Buch als »Wintererzählung«, wodurch es wohl von der Masse der Advents- oder Weihnachtsgeschichten, von pseudo-religiöser Jesulein-Romantik ebenso wie von der Kling-Glöckchen-Wunderwelt abgesetzt werden soll. So weit, so gut. Nicht ganz klar ist, welche Funktion die Religion einnimmt. Trotz des zentralen »Stern von Bethlehem«-Themas und der Anzeichen, dass die Goldschmidts eine gläubige Familie sind, bleibt die christliche Bedeutung von Weihnachten ausgeklammert, als wollte die Autorin jede Frömmelei vermeiden und nur eine Art säkulare Jahresendhimmelskörper-Geschichte erstellen. All dies ist natürlich keine Kritik, sondern nur eine Orientierungshilfe.
Karin Kalisas »Sternstunde« ist eine ungewöhnliche, kitschfreie, weihnachtlich bestäubte Erzählung aus einer Nische unserer Zeit, in der eine moderne Familie bewusster, nachdenklicher, verständnisvoller und aufgeschlossener lebt als viele andere. Das von Stephanie Pfeiffer zauberhaft illustrierte Büchlein besticht durch Schönheit und Niveau seiner Sprache, seine Einfühlsamkeit und einen anspruchsvollen Inhalt – ein wunderschönes Geschenk für kluge Kinder ab Kimberlys Alter.