Sisi
von Karen Duve
Eine Serie aufschlussreicher Momentaufnahmen aus dem Leben der kaum vierzigjährigen Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn offenbart ein verstörendes Bild einer Frau von großer Kraft und vielen Schwächen, von Siegen und Niederlagen.
Die Entzauberung einer Legende
Dieses Buch ist eine Fleißarbeit. Über Jahre verschaffte sich Karen Duve einen riesigen Fundus an Material über »Sisi«, eine historische Figur, zu der viele doch schon alles zu wissen glaubten. Daraus entstand nicht etwa eine Biografie, sondern ein ungewöhnlich strukturierter Roman. Er schlägt keinen großen Bogen von der Geburt bis zum Grab der Kaiserin Elisabeth (1837-1898), sondern beschränkt sich auf nur zwei Jahre – 1876/77 – in ihrem ereignisreichen Leben. Die kurze Zeitspanne aber breitet sie derart intensiv aus, hautnah an ihrer Heldin, ihrem Alltag, ihren Gedanken und Empfindungen, dazu prallvoll von bedeutsamen und trivialen Details und Sacherläuterungen, dass sich uns beim Lesen all der vielen erzählten Szenen ein Bild zusammenfügt wie ein riesiges Mosaik, in dem markante Wesenszüge deutlich hervortreten. Dazu bedarf es keiner fortlaufenden Handlung und keines Spannungsbogens. Die Autorin ordnet ihren Stoff einfach in relativ kurzen Kapiteln zu einzelnen Themen an.
Was wir sehen, ist kaum in Einklang zu bringen mit den sonnigen Eindrücken, die wir aus den drei »Sissi«-Filmen mit Romy Schneider (1955 bis 1957) im Hinterkopf haben. Kaiserin Elisabeth, jetzt 39 bis 40 Jahre alt, erscheint als problematischer, widersprüchlicher Charakter, herrisch und kompromisslos, egoistisch und narzisstisch, rastlos auf der Suche nach Erfüllung und doch von Frustrationen gequält und von Ängsten verfolgt, rebellisch und doch in Zwängen gefangen – eine gealterte Frau, die so gar nicht unsere Herzen gewinnen kann.
Das Image des strahlend schönen Mädels, etwas draufgängerisch, etwas verwöhnt, das mit seinem Charme den feschen jungen Franz Josef und sein ganzes Volk bezauberte und (nach einer gewissen Zähmung) zur Kaiserin aufstieg, haben nicht erst die bunten »Sissi«-Filme verbreitet, sondern schon der Hof in Wien. In unzähligen Porträts ließ der Kaiser ihre jugendliche Schönheit dokumentieren. Mit der Zeit ist all dies für Elisabeth zu einer schweren Hypothek geworden. »Die Schönheit der Kaiserin ist legendär. Dabei ist sie schon achtunddreißig Jahre alt.« Und mit vierzig hat es sich für die meisten Frauen ausgelebt, so plaudert ihr Leibarzt. Wer genau hinschauen darf, kann Makel entdecken – »den Ansatz eines Doppelkinns«, die Zähne, wegen deren Zustand Ihre Majestät spricht und lächelt, ohne die Lippen zu bewegen. Jetzt sind Abbildungen, die Verfall erkennen lassen, unerwünscht.
Mit ihrem eigenen Image als »schönste Frau Europas« Schritt zu halten ist für Elisabeth inzwischen eine Obsession. Zum Erhalt ihrer Ausstrahlung erlegt sie sich ein exzessives Fitness- und Körperpflegeprogramm auf, das ihren gesamten Tagesablauf bestimmt: Gewaltmärsche, Sport, Diäten, eisige Bäder und stundenlange Pflege ihrer überlangen Haare.
Neben dem Selbstbild und dem Reisen gehört die größte Leidenschaft der Kaiserin den Pferden. Doch auch das Reiten betreibt sie als Manie mit einem Bewusstsein für die Außenwirkung. Jagdgesellschaften mit abschließenden glamourösen Festen waren ein irrwitzig kostspieliger Zeitvertreib des Adels und auch beim einfachen Volk beliebt, gab es doch immer viel zu erleben, zu gaffen und zu berichten (»Eine Parforcejagd bringt Pracht und Sensation.«). Wenn gar die legendäre Kaiserin von Österreich-Ungarn mit ihrer Entourage anreiste, bot ihr jeder Gastgeber gern eine große Bühne – das würde ihren und seinen Ruhm im Volke mehren. Genau damit stimmt uns der Roman ein. Auf dem Gelände eines englischen Schlosses herrscht geschäftiges Treiben, denn der fünfte Earl of Spencer hat zur Fuchsjagd geladen. In zahllosen Details (Ausstattung, Natur, Gespräche, Vorgänge, Erklärungen, Gedanken …) schildert die Autorin die lebhafte Szene – ein Meisterstück ihrer subtilen Kunst zu schildern und zwischen den Zeilen Signale zu senden.
Gelegentlich liest sich Duves Roman wie ein Sachbuch über aristokratischen Reitsport und Jagden im 19. Jahrhundert. Das stellt das Wissen bereit, um Sisis Fanatismus einzuordnen. Sie lässt keine der renommierten Fuchs-, Parforce- und Treibjagden in England, Österreich und Ungarn aus. Wie sie vor dem Aufbruch über einer quirligen Meute von Jagdhunden thront, dann im Damensattel kühn ihren Begleitern davonstürmt und ohne Rücksicht auf Leib und Leben über Gräben, Zäune und Baumstämme springt, ist sie eine faszinierende Ikone, erwirbt sich einen Ruf als beste Reiterin Europas. Karen Duve schaut hinter die Fassade: »Achtunddreißig tote Tiere sind es diesmal. Das ist ein schöner Ausdruck repräsentativer Lebenslust.« Den Sarkasmus der Autorin würde Sisi wohl kaum teilen. »Sie will schnell sein, uneinholbar, ihren finsteren Gedanken entkommen […]. Wenn sie galoppiert, lodert eine Glut in ihr.«
Was treibt diese Frau in ihre selbstzerstörerischen Exzesse? Sie scheint zerrieben zwischen dem Wunsch nach Einflussnahme (die ihr in der Politik nicht gewährt wird), dem Bedürfnis nach Zuneigung und Liebe (die sie von ihrem Gemahl nicht wie gewünscht erhält und die sie ihren Kindern selbst nicht schenken kann), dem Kampf gegen Einschnürung (wie sie das Hofzeremoniell vorschreibt), dem Drang nach Freiheit und Selbstverwirklichung (in dem ihr der Kaiser teure Spielräume lässt), dem permanenten Druck, ihrer öffentlichen Rolle als Kaiserin, Idol, Frau und Mutter gerecht zu werden, und dem Hinnehmen-Müssen ihrer Grenzen in ihrer Zeit.
Unseren Blick auf die komplizierte Protagonistin erweitern Menschen aus deren vertraulichstem Umkreis, wie ihr Ehemann Franz Joseph. Der Herrscher über ein riesiges Vielvölkerreich scheint die Wünsche, Eskapaden und Marotten seiner meist abwesenden Gemahlin gutmütig zur Kenntnis zu nehmen, ohne ihren psychologischen Hintergrund erschließen zu können. Als sie ein eigenes Badezimmer verlangt, denkt er sich seinen Teil: »Ist man ein Amphib. Die Sisi hat immer die seltsamsten Ideen.«
Die Kaiserin dagegen setzt entschieden ihren Kopf durch, so fragwürdig uns ihr Handeln manchmal erscheinen mag. Ihrer ergebensten Hofdame Marie Gräfin Festetics verbietet sie eine Heirat. Die Willkür setzt der Gräfin, einer scharfsichtigen Beobachterin, zu und zermürbt sie, ohne jedoch ihre Loyalität beschädigen zu können. Elisabeths achtzehnjährige Nichte Marie Louise von Wallersee hatte Sisi schon in früheren Jahren fast wie eine Tochter bei sich aufgenommen. Als ihr Charme, ihre hübsche Ausstrahlung und ihre beachtlichen Reitkünste nun der alternden Kaiserin die Show zu stehlen drohen, ist es vorbei mit der fürsorglichen Liebe, und die berechnende Tante fädelt für sie eine Ehe ein.
Schon bei Duves Vorgängerroman »Fräulein Nettes kurzer Sommer«, der auf ähnliche Weise entstanden und angelegt war, begeisterte uns die hochpräzise Wortwahl und der vielseitige Schreibstil der Autorin [› Rezension]. So blitzt jetzt auch in »Sisi« ihre Sicht auf die Gesellschaft der Zeit in trockenen oder süffisanten Formulierungen, offenem oder verstecktem Humor, sanfter oder beißender Ironie durch – manchmal auch in bitterem Zynismus: »Die englische Fuchsjagd ist die waghalsigste aller überflüssigen Aktivitäten […]. Das House of Lords ist voller Rollstühle – alles Jagdunfälle. In den vornehmen Sanatorien vegetieren die Jagdreiter mit irreparablen Hirnschäden vor sich hin.«
Karen Duves Porträt der Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn ist ein Meisterwerk gründlicher, schonungsloser Wahrheitssuche. Es reißt sämtliche Schalen herunter, mit denen Romy Schneiders »Sissi«-Filme die historische Person verhüllt, verklärt und verfälscht haben. Unter dem lange gehegten zuckersüßen Image eines braven, hingebungsvollen Mädels, wie es der Jugend der Fünfzigerjahre zum Vorbild dienen sollte, wird jetzt eine Frau erkennbar, die, wie viele ihrer modernen Altersgenossinnen, um ihre eigene Persönlichkeitsfindung ringen. Was Sisi dank ihrer privilegierten Position ziemlich hemmungslos ausleben konnte, ist heutzutage auch emanzipierten Frauen aus ›niederen Ständen‹ möglich, aber der Preis ist unter Umständen immer noch hoch. Wo Sisi Befreiung und Teilhabe suchte und mit unnachgiebigem Druck gegen andere und sich selbst durchsetzen wollte, ließ sie schlimmen Charakterzügen ihren Lauf, musste sie ihre Mitmenschen brüskieren, in Obsessionen flüchten, Einsamkeit ertragen, körperliche Qualen erleiden. Am Ende konnte sie die erhofften Erfolge nur in engem Rahmen erzielen. Persönliches Glück, so muss man annehmen, war ihr keineswegs vergönnt.