Rezension zu »Der Lärm der Zeit« von Julian Barnes

Der Lärm der Zeit

von


Im Mai 1937 wartet ein Mann jede Nacht neben dem Fahrstuhl seiner Leningrader Wohnung darauf, dass Stalins Schergen kommen und ihn abholen. Der Mann ist der Komponist Schostakowitsch, und er wartet am Lift, um seiner Familie den Anblick seiner Verhaftung zu ersparen. Im neuen Roman von Julian Barnes wird das von Repressionen geprägte Leben von Schostakowitsch in meisterhafter Knappheit dargestellt – ein großartiger Künstlerroman, der die Frage der Integrität stellt und traurige Aktualität genießt.
Belletristik · Kiepenheuer & Witsch · · Gebunden · 256 S. · ISBN 9783462048889
Sprache: de · Herkunft: gb

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Ein steiniger Weg

Rezension vom 25.04.2017 · 42 x als hilfreich bewertet mit 2 Kommentaren

Dmitri Schostakowitsch, einer der größten Komponisten des 20. Jahr­hunderts, hatte das Unglück, in einer Zeit und in einem Land zu leben, wo er es nie­mandem recht machen konnte, selbst wenn er das gewollt hätte. Das außer­gewöhn­liche Talent, 1906 geboren, entwickelte bereits als Jugend­licher eine klare musika­lische Persön­lich­keit und starke innovative Schub­kraft, die ihm schnell einen welt­weiten Ruf verschaffte. Seine zweite Oper, »Lady Macbeth von Mzensk«, wurde 1934 in Lenin­grad urauf­geführt und blieb dort zwei Jahre mit großem Erfolg auf dem Spiel­plan. Zuvor hatten zwei Ballette und drei Sinfo­nien den Ruhm des noch nicht einmal Dreißig­jährigen begründet.

In den Jahren seines Aufstiegs hatten allerdings auch die Nachfolger der Oktober­revolutio­näre ihre Herr­schaft gefestigt und ein grausames Regime der Willkür und des Schreckens errichtet, das seine Unter­tanen mit bis dahin unge­kannter Rigoro­sität kontrol­lierte. Bespitze­lung, Verhöre und Folter unter­drückten jegliche Kritik im Keim. So lange man in künst­lerischem Schaffen hinrei­chendes Engage­ment für die Erfolge der Ideo­logie erkennen konnte, genoss es das Wohl­wollen der Herr­schenden, andern­falls wurde es schlichtweg verboten.

Schostakowitsch konzipiert sein Werk keines­wegs einsinnig. Zwar stellt er sich mit seiner zweiten Sin­fonie, einer Auftrags­arbeit zum zehnten Jahres­tag der Revolution, in den Dienst von Stalins Diktatur, versteckt darin aber dennoch Kritik an den politi­schen, wirtschaft­lichen und sozialen Verhält­nissen. Die Methode, durch geschicktes Erzeugen und Arrangieren von Stimmun­gen, durch Anspie­lungen und Auf­greifen unerwünsch­ter Traditio­nen Kritik zu vermit­teln, bleibt auch den Zensoren nicht verborgen, so dass die erste Oper »Die Nase« (1930) und das Ballett »Der Bolzen« (1931) nach kurzer Zeit abge­setzt werden.

Das Schicksal des Komponisten wendet sich endgültig, launen­haft und aus geradezu trivialen Gründen, als »der Stählerne«, wie Stalin sich selbst benannte, am 16. Januar 1936 einer Aufführung der kommunis­ti­schen Vorzeige­oper im Bolschoi-Theater beiwohnt. Hinter einem Vorhang verborgen, von Stahl­platten gegen Attentats­versuche geschützt, missfällt dem Diktator zutiefst, was an sein Ohr dringt. Es sind vor allem die fortis­simi der Schlag­zeuger und Blech­bläser, die unter­halb seiner Loge ihr Bestes geben. Von aller Welt gefeiert oder nicht, die Oper vertreibt den Diktator verärgert aus dem Theater. Binnen kürzes­ter Zeit schwenkt die bis dahin enthusias­tische offizielle Kritik im Sinne Stalins um. »Chaos statt Musik« und von verfemten Ideolo­gien geprägt sei das Werk, und das Leben seines Schöpfers hängt am seide­nen Faden.

Julian Barnes hat über das Leben dieses bedeutenden Künstlers und bemerkens­werten Menschen einen aufwüh­lenden, desillusio­nierenden Roman geschrieben. Indem Schosta­kowitsch stets seinen eigenen Weg ging, war er den einen zu wenig partei­konform, zu wenig heroisch, verherr­lichte beispiels­weise zu wenig die Siege der Roten Armee, während er gleich­zeitig den anderen zu regime­ergeben, zu unkritisch, zu undistan­ziert war. So fiel er allseits in Ungnade, wurde zwischen Ideolo­gien zerrieben.

Nach Stalins vernichtendem Urteil verbringt der Komponist die Nächte wie viele seiner Lands­leute beklei­det auf gepack­tem Koffer, denn die Agenten der Geheim­polizei NKWD »holten einen immer mitten in der Nacht«. Die Vorberei­tung auf das Schlimmste, die Sorge um seine Frau und die einjährige Tochter Galja, die man zur Umerzie­hung in ein Waisen­haus für Staats­feinde stecken würde, lassen an Schlaf nicht denken. Gleich beim »Anblick der Uniform«, dem »Nicken des Erkennens« würde er den eintref­fenden Beamten seine Pianisten­hände entgegen­strecken, damit sie ihn schnell weg­bringen, ohne seine Familie zu gefährden.

So wie die Gedanken des Künstlers zu jener Zeit auf jedes Geräusch, jedes Wort, jedes Ereignis hin unauf­halt­sam wandern, so wie sie Jahr­zehnte später zurück zu den verschie­denen Phasen und Themen seines Lebens schweifen, so arrangiert der Autor sein vielfäl­tiges Material in über­schau­baren Textpäck­chen. Er­zäh­lungen, Berichte, Dokumente, Proto­kolle wechseln einander ab wie die zeit­lichen Ebenen der bewegten Vita dieses außer­gewöhn­lichen wie umstrit­tenen Mannes, dem gerecht zu werden nicht leicht ist.

Die Häppchenkost ist abwechslungsreich, doch schwer verdaulich, lasten doch über allem die immer drücken­dere, lebens­bedroh­liche Staats­macht und die Depres­sion, die ihr unberechen­bares, menschen­ver­ach­tendes Handeln bald bei ihrem Spiel­ball und Opfer auslöst. Wo jeder, Verwandter, Freund oder Fremder, sich als Feind erweisen kann oder für vorgeb­liche Sünden eines anderen bezahlen muss, geht jegliche Gewiss­heit, jede moralische Orien­tierung leicht verloren.

Nachdem man Schostakowitsch die Lebens­grund­lage entzogen hat, wird der »Volks­feind« immer wieder vorge­laden und zu seinen »Freunden« verhört. Gab es Einladun­gen mit politischen Themen, Hinweise auf das Mord­komplott des Rote-Armee-Marschalls Tuchat­schewski gegen den Genossen Stalin? Längst sind alle im Umkreis des Marschalls vom Erdboden verschwunden und hingerichtet. Was immer er jetzt aussagt, würde den tödlichen Kreis erweitern. War er also nicht selbst schon tot, da auch ihn jeder­zeit jemand als Komplize eines Atten­täters denun­zieren konnte, so wie er unter Folter allem sofort zustimmen, »alle mit hinein­ziehen« würde?

Doch die Macht lässt den weltberühmten Musiker leben, um ihn als Mensch zu zermürben und für ihre Zwecke gefügig zu halten. 1949 wird er nach New York entsandt, um streng über­wacht de Sowjet­union bei der »Friedens­konferenz inter­nationaler Wissen­schaftler und Künstler« zu repräsen­tieren. Ihn befremdet die Un­verfroren­heit, mit der die jubeln­den Menschen ihn »im Voll­gefühl über­legener Werte« bedrängen: »Hey, Schosti, lächeln!« Auf der anderen Seite ver­weigert ihm der Exilant Strawinsky den Wunsch einer Begeg­nung. Mit »sowje­tischen Künstlern« wolle er nichts zu tun haben. (Die Verach­tung wird später eine gegen­seitige, wenn Schosta­kowitsch seinem Lands­mann vorhält, er habe in gleich­gültiger Ruhe auf »seinem amerika­nischen Olymp gethront«, während in Russ­land Hetz­jagden auf seine Künstler­kollegen und deren Familien veran­staltet wurden.) Gleich­zeitig durchlebt der »Star« der sowje­tischen Dele­gation sein eigenes Fege­feuer der Zweifel, empfindet nichts als »Ekel« und »Verachtung« für seine Rolle, die ihm keine freie Rede gestattet. Er verliest einen vorge­fertig­ten Text über seine achte Sinfonie, der zu Hause »unge­sunder Indivi­dualis­mus« und »Pessi­mismus« ange­lastet wird, verspricht, künftig »melo­dische Musik für das Volk« abzu­liefern, wie die Partei es wünscht, ergänzt immer­hin, »immer und aufrichtig« Musik geschrieben zu haben, die nicht »gegen das Volk« sein könne, da doch auch er selbst in gewisser Weise ›Volk‹ sei. Die Rede ist ein großer Erfolg, doch Stalin ist erbost, lässt weitere Repres­salien folgen, und der gebrochene Mann zieht sich ins Private zurück, um Präludien und Fugen zu kom­ponieren. Der einzige Weg, um nicht den Verstand zu verlieren?

Dass Dmitri Schostakowitsch als Marionette der Macht weiterleben sollte, ist ein bitterer Sarkas­mus des Schicksals. »Statt ihn umzubringen, hatten sie ihn leben lassen, und indem sie ihn leben ließen, hatten sie ihn umgebracht.«

Nach Stalins Tod 1953 folgt unter Nikita Chruschtschow eine Zeit des »Tauwetters«. Doch der Künstler wird nur zum Spielball eines neuen Macht­habers. Mit Preisen und Ehrungen über­schüttet, gibt Schosta­ko­witsch schließlich dem Druck der Macht, die ihn zer­trümmert hatte, nach und tritt ohne große Not in die Partei ein. Den Kommunisten Picasso kritisiert er als reichen Feigling, der »seine ekelhafte Friedens­taube malt«, unter­schreibt aber selbst einen wider­lichen Brief gegen den oppositio­nellen Schrift­steller Alexander Solschenizyn, den er bewundert und gegen den er sich dennoch ein­spannen lässt. »Der Lärm der Zeit hatte ihn taub gemacht.«

Schostakowitschs steiniger, gefährlicher Weg zwischen sich anpassen, sich arrangieren, sich vorsichtig wider­setzen ist hin­reichend erforscht und erörtert, auch fiktional ver­arbeitet, zum Beispiel in Sarah Quigleys Roman »Der Dirigent« (2012) [› Rezension]. Was kann Julian Barnes an Lesens­wertem hinzufügen?

Neben der Vielfalt der Textsorten ist es insbesondere der unglaublich eindringliche Stil, der dem Leser die düstere Zeit vermittelt und auf dem schmalen Grat voran­schreiten lässt, der dem Menschen und Künstler Schosta­kowitsch für die Gestal­tung seines Lebens und seiner Kunst blieb. Es ist die Kraft seiner Worte, in unschein­bar einfache, kurze Sätze gefasst, die gewaltige Aus­sagen transpor­tieren. So ist mit »The noise of time« Julian Barnes: »The noise of time« bei Amazon , über­setzt von Gertraude Krueger, eine Biografie sui generis in Moll ent­standen, die die deprimie­rende Atmosphäre eines Tage­buchs mit der grau­samen Sachlich­keit von Proto­kollen und Dokumen­tationen verbindet und viele Fragen offen lassen muss. Der Leser wird von philo­sophisch relevanten Gedanken ebenso gefesselt wie von Ironie und bitterem Sarkas­mus, wenn etwa von west­lichen »Humanitäts­aposteln« berichtet wird, die genehmigte Russland­reisen unter­nehmen, um den »echten Russen« kennen­zuler­nen. Bis zur letzten Seite bleibt dieser Roman packend.


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Kommentare

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Zu »Der Lärm der Zeit« von Julian Barnes wurden 2 Kommentare verfasst:

Eike schrieb am 27.06.2017:

schon packend, wie eben das Schicksal des Komponisten selbst, aber für mich teilweise nervend redundant berichtet, nicht romanhaft erzählt.

Rivera schrieb am 10.08.2017:

Gerade dieser Stil hat mich gefesselt. Nach außen wenig emotional, aber dafür jedes inhaltliche Wort. Einfach perfekt. Vielen Dank Julian Barnes.

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