Das Verschwinden der Erde
von Julia Phillips
Zwei Mädchen verschwinden an einem Sommertag. Über ein ganzes Jahr hin treffen wir Frauen und Männer aus ihrem Umfeld und entdecken ihre Beziehungen untereinander und zu dem Verbrechen. Der ungewöhnliche Schauplatz spielt eine Hauptrolle.
Wanderungen durch ein neuronales Netz
Schon der außergewöhnliche, geheimnisumwitterte Handlungsort am östlichsten Ende Russlands verlockt zum Lesen. Von 1939 bis 1990 war die sibirische Halbinsel Kamtschatka militärisches Sperrgebiet. In der Bucht vor der Hauptstadt Petropawlowsk lauerte die Flotte der mächtigen sowjetischen Atom-U-Boote den gesamten Kalten Krieg hindurch auf ihren Einsatz in einem neuen heißen Krieg. Abgeriegelt vom Rest der Welt, blieben Tausende von Kilometern offener Tundra und Bergregionen mit heißen Thermalfeldern, Geysiren und Vulkanen unberührt.
Doch menschenleer war die Naturlandschaft (seit 1996 als UNESCO-Weltnaturerbe geschützt) keineswegs. Bevor Russland Anfang des 18. Jahrhunderts das Gebiet annektierte, hatten dort verschiedene Ethnien über Jahrhunderte ein einfaches, naturnahes Leben geführt. Einen radikalen Wandel brachte die Öffnung nach 1996, in deren Folge bis heute Zugezogene, Migranten und Touristen (insbesondere auf asiatischen Kreuzfahrtschiffen) einfallen und das ruhige, wohlgeordnete, vermeintlich sichere Leben der Bewohner durchrütteln.
In diesem exotisch anmutenden geografischen und gesellschaftlichen Kontext trägt sich die Handlung des in mehrfacher Hinsicht überraschenden Romandebüts von Julia Phillips zu. Wie kommt die junge Amerikanerin (1989 in New Jersey geboren) an diesen Schauplatz im Land des früheren Erzfeindes? Sie verbrachte 2011 im Rahmen eines Stipendiums eine Zeitlang dort, lernte seine Menschen, seine Eigenheiten und seine Atmosphäre kennen und konstruierte für ihren Erstling einen komplexen, facettenreichen Plot, der eng damit verwoben ist. »Disappearing Earth« erschien 2019 in den USA, Pociao und Roberto de Hollanda haben das Buch jetzt ins Deutsche übersetzt.
Es geht um das Verschwinden zweier Mädchen, für dessen Aufklärung die Polizei nur wenig Engagement aufbringt. Die Ereignisse ziehen sich über eineinhalb Jahre hin. Sie werden in separaten Episoden erzählt, die, nach Monaten gegliedert, voneinander unabhängig erscheinen und doch von unauffälligen Fäden zusammengehalten werden. So blitzen bei der Lektüre gelegentlich Sachverhalte, Verbindungen, vage Erinnerungen auf, die erst am Schluss ein Gesamtbild ergeben. Die bemerkenswert komplexe und facettenreiche Gestaltung fesselt uns jedenfalls vom Anfang bis zum Ende.
Insgesamt entsteht ein detailreiches, differenziertes Bild der Halbinsel Kamtschatka und ihrer Menschen. In den Erzählungen aus mehreren Perspektiven werden Widersprüche sichtbar, die schon durch die unterschiedlichen Lebensräume bedingt sind: Stadt und Land, Wälder, Berge und Tundra. Aber auch die geschichtliche Entwicklung führt zu harschen Brüchen zwischen und innerhalb der Generationen und Ethnien bis hinein in die Sprache. Die Phrase, dass früher alles besser war, hört man häufig, und alte Vorurteile, Klischees und Rollenmuster leben in vielen Köpfen weiter. Dennoch prallen Kulturen, Traditionen, politische Gesinnungen aufeinander, und manch Hochgeschätztes fällt der Modernität – nicht zuletzt der Billigmode, den Handys und Spielkonsolen – zum Opfer. Frauen sind von den Verwerfungen besonders betroffen. Viele von ihnen hegen Sehnsüchte nach einem anderen Leben, stehen aber andererseits unter großem Erwartungsdruck ihres sozialen Umfeldes und können dem kaum entkommen, ohne heftige Partnerschafts- und Familienkonflikte und tiefgreifende seelische Probleme durchleiden zu müssen.
Die Handlung beginnt an einem Ferientag im August, als sich die Schwestern Aljona und Sofija, 11 und 8 Jahre alt, alleine am Meeresufer bei Petropawlowsk herumtreiben und in das Auto eines fremden Mannes einsteigen. Erst im letzten Kapitel, im Juli ein Jahr später, begegnen wir ihnen wieder. In jedem der Kapitel dazwischen rückt jeweils eine andere Protagonistin mit ihrer Geschichte in den Fokus, ohne dass wir ahnen, was sie mit den beiden oder ihrem Verschwinden zu tun haben mögen. Die Vulkanologin Oksana etwa wurde schon im August als Augenzeugin verhört, hatte aber nichts Überzeugendes beizutragen. Im Mai-Abschnitt erfahren wir von den Enttäuschungen, die sie belasten. Ihr Mann hatte sie verlassen, ihre Freundschaften haben sich als oberflächlich erwiesen, und nun ist ihr geliebter Schlittenhund ausgebüxt. Erst unter ihrem aktuellen eigenen Verlustschmerz kann sie nachvollziehen, wie die Mutter der beiden Mädchen leidet.
Im September hängen überall in der Stadt Plakate der vermissten Mädchen, und natürlich sind viele Eltern beunruhigt, wie auch die von Diana. Deren Mutter, die den gloriosen Zeiten der untergegangenen Sowjetordnung nachtrauert, ist freilich klar, wo die Schuld zu suchen ist: Die disziplinlosen Eltern der verschwundenen Mädchen waren schließlich »fast immer weg«. »Kein Wunder« also, dass ihnen einmal so etwas passieren musste. Und der moderne Staat lässt auch zu viel durchgehen. Hier wimmelt es nur so von Fremden, und das sind »alles Kriminelle«. Ein besonderer Dorn im Auge ist ihr Olja, die Dreizehnjährige, mit der Diana häufig in der Stadt herumhängt und gemeinsam übernachtet. Oljas Mutter hat in Kyoto studiert, Weltoffenheit und Japanischkenntnisse mitgebracht und begleitet jetzt häufig japanische Touristengruppen durchs Land. Dann haben die eigenständige, selbstbewusste Olja und ihre Schulfreundin Diana freie Bahn, und kein Verbot kann sie zügeln.
Drei Jahre zuvor war die achtzehnjährige Lilja aus der kleinen indigenen Volksgruppe der Ewenen spurlos verschwunden. Niemand außer ihrer Mutter dachte damals, dass sie einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Die Polizei tat die Vermisstenanzeige schnell ab: Eine Jugendliche, die die weite Welt sehen wollte. Schließlich war auch ihre ältere Schwester Natascha schon abgehauen, weil (so der Tratsch der Nachbarn) die dominante Mutter ebenso wenig zu ertragen war wie der spleenige Bruder. Der faselt unentwegt von Außerirdischen und ist überzeugt, »dass man seine Schwester zu den Sternen entführt hatte«. Seit dem Verschwinden quälen Natascha Schuldgefühle, dass sie sich zu wenig gekümmert habe. Warum hatte Lilja sich ihr nicht anvertraut? Nun lässt der Fall der womöglich entführten beiden Mädchen all diese Empfindungen wieder aufwallen, sowohl bei Natascha als auch bei ihrer Mutter, die ihre Gefühle und erlittenen Verletzungen seit drei Jahren unterdrücken musste. Unterschwellig spürt man das Gefälle zwischen der indigenen Minderheit einer Hirtenkultur und den anerkannten Leistungsträgern der Gesellschaft, den Entscheidern in den Behörden.
Es ist die faszinierende Atmosphäre der fernöstlichen Region mit ihrer Naturkulisse und dem heterogenen Gemisch aus indigenen Traditionen, verstaubten Ansichten aus Sowjetzeiten und hereinbrechender moderner Welt, die Julia Phillips’ Gestaltung durchaus universeller Ereignisse, Schicksale und Konflikte von anderen unterscheidet. Zudem fesselt das ungewohnte strukturelle Konzept, das die Leser nicht auf dem üblichen Suchweg entlang führt, sondern in jedem Monatskapitel erneut erst einmal orientierungslos lässt, bis sich nach und nach die Verknüpfungen ergeben. Wer sich darauf einlässt, jagt über die Textzeilen, stets auf der Suche nach Zusammenhängen im Nebel der Ahnungen, nach neuen Informationen. Dabei bringen oft bloße Namensnennungen etwas mehr Klarheit, eine Erinnerung an zuvor gelesene Momente aus einem Leben. Manche Figuren sind längst im Dunklen vorhanden, warten sozusagen geduldig auf den Moment ihres Auftritts, um dann wieder zu verschwinden. So setzt sich ein mit Feingefühl konstruiertes Gesellschaftsbild zusammen, dazu ein Spinnengewebe unterschiedlicher Verbindungen einzelner Personen zum Verbrechen der verschwundenen Kinder und, im zeitlichen Fortschreiten, innere Veränderungen bei manchen Charakteren. Seelische Schmerzen werden akzeptiert, verdrängt, verschwinden oder führen zum Zusammenbruch.
Was anfangs anmuten mag wie eine Sammlung zusammenhangloser Kurzgeschichten entwickelt sich zum vielfarbigen Bild eines Landes im Umbruch, voller Kontraste und Widersprüche, von der Trostlosigkeit der verfallenen Plattenbauten bis zur atemberaubenden Schönheit der Natur.