Leere Herzen
von Juli Zeh
Eine Agentur vermittelt (im Jahr 2025) zum Suizid fest entschlossene Mitmenschen an unterschiedlichste Organisationen, die für ihre jeweiligen Zwecke spektakuläre Selbstmordanschläge inszenieren. Der Roman zeigt auf, wie Egoismus und Gleichgültigkeit zu solch einer Gesellschaft der Inhumanität führen konnten.
Eine Selbstmord-Gesellschaft
Juli Zehs große Erfolge beruhen auf ihrem Gespür für zeittypische Kernthemen und Stoffe von politischer, sozialer, moralischer Relevanz, die sie in packenden Plots mit immensem Detailwissen aufzubereiten und interessant und realitätsnah zu erzählen versteht. Auch ihr neuer Roman lebt von seinen engen Bezügen zu unbefriedigenden Zuständen und Tendenzen in unserer Gesellschaft. Er spielt im Deutschland des Jahres 2025.
In den zwei Wahlperioden bis dahin hat sich die Gesellschaft zum Schlechteren verändert. Die Politikverdrossenheit hat weiter um sich gegriffen (»Nicht-Wähler gewinnen Wahlen, während engagierte Demokraten mit dem Wählen aufhören«), politisches Geschehen wird gleichgültig hingenommen wie das Wetter (»nur Idioten beschweren sich darüber«). Angela Merkel hat man aus der Kanzlerschaft gedisst. Ihre Nachfolgerin ist Regina Freyer von der Partei BBB (»Besorgte-Bürger-Bewegung«). Ihre Regierung hat sich zugunsten der »Effizienz« demokratischer Kontrollgremien entledigt, breite Bevölkerungskreise durch ein »bedingungsloses Grundeinkommen« und Ablenkungs- und Entspannungsprogramme ruhiggestellt und Ausländer durch Sonderabgaben und dergleichen abgeschreckt. Das weltpolitische Zukunftsszenario der Autorin ist noch kühner: Die Freunde Trump und Putin haben den Syrienkrieg beendet, wodurch die Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Palästina möglich wurde und das Schreckgespenst des islamistischen Terrors wie eine Seifenblase zerplatzte. Jetzt ist der Nahe Osten Hauptabnehmer amerikanischer Produkte, während zwischen den USA und Europa ein Wirtschaftskrieg wütet.
Beispielhaft für die zukünftige Gesellschaft – unter beruflichen, sozialen, kulturellen und privaten Aspekten – porträtiert die Autorin zwei Braunschweiger Ein-Kind-Familien. Britta, Richard und die siebenjährige Vera leben auf der schicken Sonnenseite in gesichertem Wohlstand. Richard verwaltet Risikokapital in seinem Start-up, aber das Geld bringt Britta nach Hause. Auf das Gebahren ihrer lukrativen Firma fokussiert sich der Plot.
Ihre Freunde Janina, Knut und Cora, ebenfalls sieben, stecken dagegen in prekären Verhältnissen fest. Theaterautor Knut (ein »Weichei«) wartet schon länger auf seinen Durchbruch, Janina macht einfache Büroarbeiten für schlecht zahlende Kunden und hängt einem eskapistischen Traum vom romantischen alten Häuschen mit bunt bepflanzter Schubkarre im Gärtchen auf dem Lande nach.
Vera lernt in der Schule Programmieren (»die übliche Silicon-Valley-Pädagogik«) und darf nicht fernsehen, Cora besucht ein »musisches Kinder-College« mit Smartphoneverbot. Wenn sie bei Vera zu Gast ist und die Eltern bei Bier und Prosecco plaudern, ziehen sich die Kinder Veras Lieblingsserie »Megamania« auf Netflix rein, spielen Ballerspiele mit Veras HiTech-Gadgets und juchzen »Kollateralschaden«, wenn sie putzige Aliens (»Glotzis«) abgeknallt haben.
Britta, nach außen hin cool und leidenschaftslos, leidet unter ständigen Bauchschmerzen, die sie wie manch anderes wegzudrücken versucht. Die Ideale und Werte, die ihre Eltern ihr noch vorlebten, sind verlorengegangen und mit ihnen ihr Glaube »an eine bessere Welt«. In ihrem Herzen herrscht Leere, auf ihre Seele drückt ein schlechtes Gewissen. Denn ihr ist klar, dass ihr eigenes Unternehmen »als Dienstleister ... die kollektive Reise in den Abgrund unterstützend begleitet«.
Vordergründig firmiert »Brücke« als »Heilpraxis für Psychotherapie ..., Self-Managing, Life-Coaching, Ego-Polishing«. Das Schild lockt die Schwachen, Geschädigten, Gescheiterten an, die sich aufgegeben haben bis zum Lebensüberdruss. Die empathiefreie, auf Effizienz bedachte Gesellschaft produziert immer mehr dieser Verlierer. Doch Britta und ihr Kollege Babak, ein homosexueller Nerd mit irakischem Migrationshintergrund, haben keineswegs die hehre Absicht, diesen Menschen aufzuhelfen, damit sie wieder Fuß fassen, sondern sie wollen schlichtweg Gewinn aus ihnen ziehen, und das auf makaberste Weise.
Zu diesem Zweck werden die Hilfesuchenden nach der Intensität ihrer Daseinsmüdigkeit selektiert. Sie durchlaufen ein schockierendes Programm, das in zwölf Stufen ihre Sterbensbereitschaft ausreizt. In jeder Phase brechen ein paar Kandidaten die so genannte Heiltherapie ab und kehren lieber freiwillig in ihr tristes Leben zurück. Wer aber durchhält, hat sich als zum Äußersten entschlossener Selbstmörder qualifiziert – und wird der »Brücke« bares Geld bringen. Denn es gibt genug Interessenten für diese menschliche Ware kurz vor dem Verfallsdatum. Nationalisten, Separatisten, Öko-Aktivisten, Islamisten und andere Gruppen wenden sich vertrauensvoll an die »Brücke«, wenn sie für eine spektakuläre Aktion einen Selbstmordattentäter suchen, und die Firma liefert diskret, zuverlässig und geprüfte Qualität.
Dumm nur, dass auf einmal ein Konkurrenzunternehmen namens »Empty Hearts« auf den hochspezialisierten, brisanten Markt drängt. Großes Aufsehen erregt ein Attentat am Leipziger Flughafen, das allerdings an seiner äußerst dilettantischen Ausführung scheitert. Wie es mit der »Brücke« weitergeht, wer hinter »Empty Hearts« steckt und welche Strategien man verfolgt, dem geht der wendungsreiche Krimi-Handlungsstrang nach.
Noch ehe die Autorin loslegt, wischt sie uns eine Provokation hin: »Da. So seid ihr.« Sorgt sie sich etwa, dass wir Leser ohne den Fingerzeig nicht begreifen könnten, wie tiefgreifend sich heutige Gesellschaften bereits gewandelt haben? Dass jeder aufgerufen ist, der Verhärtung und Verrohung entgegenzutreten? Dass nur neues Engagement das Schlimmste verhindern kann? Als traue sie der Wirksamkeit ihrer eigenen Satire nicht, lässt sie ihre Protagonistin Britta, Repräsentantin einer abgetauchten Intelligenzija, ihre späten Einsichten deklamieren: »Ich habe nie BBB gewählt ... Ich habe einfach entschieden, mein eigenes Ding zu machen. Jahrelang war ich mir zu fein für die Nachrichtenportale. Leute wie ich tragen die Schuld an den Zuständen, nicht die Spinner von der BBB.« Mittelschicht-Möchtegern Janina hatte sich seichter aus dem öffentlichen Diskurs verabschiedet. »Ich genieße es in vollen Zügen, dass mich die allermeisten Dinge nichts angehen«, begründete sie der Freundin ihre stete Fröhlichkeit »in der heutigen Zeit«. Britta meint, Janina habe »ihr Wahlrecht im Geiste gegen eine Waschmaschine eingetauscht«.
Im Prinzip ist »Leere Herzen« eine Dystopie. Aber die Fiktion ist zu nah an unserer realen Gegenwart, um als Dystopie zu funktionieren. Die paar Jahre Abstand schaffen keine Verfremdung, die geschilderten Zustände von morgen und übermorgen sind den gewohnten von heute noch zu ähnlich, als dass sie grundsätzliche Bestürzung, Wut und Widerstände auslösen könnten.
Überdies ist der Plot doch etwas zu krud und enthält allerlei Leerstellen. Auch Erzählduktus und Sprachstil erreichen nicht die Kraft, für die »Unterleuten«, Juli Zehs bislang größter Erfolg (2016), weithin gepriesen wurde. Als spannende, geistreiche Krimiunterhaltung mit einer Portion Gesellschaftskritik ist »Leere Herzen« uneingeschränkt empfehlenswert, aber der bedeutungsschwangere Anstrich verblasst schnell, sobald das Buch zu Ende gelesen ist.