Rezension zu »Leere Herzen« von Juli Zeh

Leere Herzen

von


Eine Agentur vermittelt (im Jahr 2025) zum Suizid fest entschlossene Mitmenschen an unterschiedlichste Organisationen, die für ihre jeweiligen Zwecke spektakuläre Selbstmordanschläge inszenieren. Der Roman zeigt auf, wie Egoismus und Gleichgültigkeit zu solch einer Gesellschaft der Inhumanität führen konnten.
Belletristik · Luchterhand · · 352 S. · ISBN 9783630875231
Sprache: de · Herkunft: de

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Eine Selbstmord-Gesellschaft

Rezension vom 23.12.2017 · 49 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Juli Zehs große Erfolge beruhen auf ihrem Gespür für zeit­typi­sche Kern­themen und Stoffe von politi­scher, sozialer, morali­scher Relevanz, die sie in packenden Plots mit immensem Detail­wissen aufzu­berei­ten und interes­sant und realitäts­nah zu erzählen versteht. Auch ihr neuer Roman lebt von seinen engen Bezügen zu un­befriedi­genden Zuständen und Tenden­zen in unserer Gesell­schaft. Er spielt im Deutsch­land des Jahres 2025.

In den zwei Wahlperioden bis dahin hat sich die Gesell­schaft zum Schlech­teren verändert. Die Politik­verdrossen­heit hat weiter um sich gegriffen (»Nicht-Wähler gewinnen Wahlen, während engagierte Demokraten mit dem Wählen aufhören«), politisches Geschehen wird gleich­gültig hingenom­men wie das Wetter (»nur Idioten beschweren sich darüber«). Angela Merkel hat man aus der Kanzler­schaft gedisst. Ihre Nachfol­gerin ist Regina Freyer von der Partei BBB (»Besorgte-Bürger-Bewegung«). Ihre Regierung hat sich zugunsten der »Effizienz« demokra­tischer Kontroll­gremien entledigt, breite Bevöl­kerungs­kreise durch ein »bedin­gungs­loses Grund­einkom­men« und Ablen­kungs- und Ent­spannungs­programme ruhigge­stellt und Ausländer durch Sonderab­gaben und derglei­chen abge­schreckt. Das weltpoli­tische Zukunfts­szenario der Autorin ist noch kühner: Die Freunde Trump und Putin haben den Syrien­krieg beendet, wodurch die Zwei-Staaten-Lösung für Israel und Paläs­tina möglich wurde und das Schreckge­spenst des islamisti­schen Terrors wie eine Seifen­blase zerplatzte. Jetzt ist der Nahe Osten Haupt­abneh­mer amerikani­scher Produkte, während zwischen den USA und Europa ein Wirtschafts­krieg wütet.

Beispielhaft für die zukünftige Gesellschaft – unter beruf­lichen, sozialen, kultu­rellen und privaten Aspekten – porträtiert die Autorin zwei Braun­schweiger Ein-Kind-Familien. Britta, Richard und die sieben­jährige Vera leben auf der schicken Sonnen­seite in gesicher­tem Wohlstand. Richard verwaltet Risiko­kapital in seinem Start-up, aber das Geld bringt Britta nach Hause. Auf das Gebahren ihrer lukra­tiven Firma fokus­siert sich der Plot.

Ihre Freunde Janina, Knut und Cora, ebenfalls sieben, stecken dagegen in prekären Verhält­nissen fest. Theater­autor Knut (ein »Weichei«) wartet schon länger auf seinen Durch­bruch, Janina macht einfache Büro­arbeiten für schlecht zahlende Kunden und hängt einem eskapis­tischen Traum vom romanti­schen alten Häuschen mit bunt bepflanzter Schub­karre im Gärtchen auf dem Lande nach.

Vera lernt in der Schule Pro­grammie­ren (»die übliche Silicon-Valley-Pädagogik«) und darf nicht fernsehen, Cora besucht ein »musisches Kinder-College« mit Smart­phone­verbot. Wenn sie bei Vera zu Gast ist und die Eltern bei Bier und Prosecco plaudern, ziehen sich die Kinder Veras Lieblings­serie »Mega­mania« auf Netflix rein, spielen Baller­spiele mit Veras HiTech-Gadgets und juchzen »Kollate­ralscha­den«, wenn sie putzige Aliens (»Glotzis«) abge­knallt haben.

Britta, nach außen hin cool und leidenschaftslos, leidet unter ständigen Bauch­schmer­zen, die sie wie manch anderes wegzu­drücken versucht. Die Ideale und Werte, die ihre Eltern ihr noch vorleb­ten, sind verloren­gegan­gen und mit ihnen ihr Glaube »an eine bessere Welt«. In ihrem Herzen herrscht Leere, auf ihre Seele drückt ein schlechtes Gewissen. Denn ihr ist klar, dass ihr eigenes Unterneh­men »als Dienst­leister ... die kollek­tive Reise in den Abgrund unter­stüt­zend begleitet«.

Vordergründig firmiert »Brücke« als »Heilpraxis für Psycho­thera­pie ..., Self-Mana­ging, Life-Coaching, Ego-Polishing«. Das Schild lockt die Schwachen, Ge­schädig­ten, Ge­scheiter­ten an, die sich aufge­geben haben bis zum Lebens­über­druss. Die empathie­freie, auf Effizienz bedachte Gesell­schaft produ­ziert immer mehr dieser Verlierer. Doch Britta und ihr Kollege Babak, ein homo­sexuel­ler Nerd mit iraki­schem Migrations­hinter­grund, haben keines­wegs die hehre Absicht, diesen Menschen aufzu­helfen, damit sie wieder Fuß fassen, sondern sie wollen schlicht­weg Gewinn aus ihnen ziehen, und das auf maka­berste Weise.

Zu diesem Zweck werden die Hilfesuchenden nach der Intensität ihrer Daseins­müdig­keit selektiert. Sie durch­laufen ein scho­ckieren­des Programm, das in zwölf Stufen ihre Sterbens­bereit­schaft ausreizt. In jeder Phase brechen ein paar Kandi­daten die so genannte Heil­thera­pie ab und kehren lieber freiwil­lig in ihr tristes Leben zurück. Wer aber durchhält, hat sich als zum Äußers­ten ent­schlosse­ner Selbst­mörder qualifi­ziert – und wird der »Brücke« bares Geld bringen. Denn es gibt genug Interes­senten für diese mensch­liche Ware kurz vor dem Verfalls­datum. Nationa­listen, Separa­tisten, Öko-Aktivis­ten, Islamisten und andere Gruppen wenden sich vertrauens­voll an die »Brücke«, wenn sie für eine spektaku­läre Aktion einen Selbst­mord­atten­täter suchen, und die Firma liefert diskret, zuver­lässig und geprüfte Quali­tät.

Dumm nur, dass auf einmal ein Konkurrenz­unterneh­men namens »Empty Hearts« auf den hoch­speziali­sierten, brisanten Markt drängt. Großes Aufsehen erregt ein Atten­tat am Leipziger Flug­hafen, das aller­dings an seiner äußerst dilettan­tischen Ausfüh­rung scheitert. Wie es mit der »Brücke« weiter­geht, wer hinter »Empty Hearts« steckt und welche Strategien man verfolgt, dem geht der wendungs­reiche Krimi-Hand­lungs­strang nach.

Noch ehe die Autorin loslegt, wischt sie uns eine Provoka­tion hin: »Da. So seid ihr.« Sorgt sie sich etwa, dass wir Leser ohne den Finger­zeig nicht begreifen könnten, wie tiefgrei­fend sich heutige Gesell­schaf­ten bereits gewandelt haben? Dass jeder aufgeru­fen ist, der Verhär­tung und Verro­hung entgegen­zutreten? Dass nur neues Engage­ment das Schlimmste verhin­dern kann? Als traue sie der Wirksam­keit ihrer eigenen Satire nicht, lässt sie ihre Prota­gonis­tin Britta, Reprä­sentan­tin einer abge­tauch­ten Intel­ligen­zija, ihre späten Einsich­ten dekla­mieren: »Ich habe nie BBB gewählt ... Ich habe einfach ent­schieden, mein eigenes Ding zu machen. Jahre­lang war ich mir zu fein für die Nach­richten­portale. Leute wie ich tragen die Schuld an den Zustän­den, nicht die Spinner von der BBB.« Mittel­schicht-Möchte­gern Janina hatte sich seichter aus dem öffentli­chen Diskurs verab­schie­det. »Ich genieße es in vollen Zügen, dass mich die aller­meis­ten Dinge nichts angehen«, begrün­dete sie der Freundin ihre stete Fröh­lich­keit »in der heutigen Zeit«. Britta meint, Janina habe »ihr Wahl­recht im Geiste gegen eine Wasch­maschine einge­tauscht«.

Im Prinzip ist »Leere Herzen« eine Dystopie. Aber die Fiktion ist zu nah an unserer realen Gegen­wart, um als Dystopie zu funktio­nieren. Die paar Jahre Abstand schaffen keine Ver­frem­dung, die geschil­derten Zustände von morgen und über­morgen sind den gewohnten von heute noch zu ähnlich, als dass sie grund­sätz­liche Bestür­zung, Wut und Wider­stände auslösen könnten.

Überdies ist der Plot doch etwas zu krud und enthält allerlei Leer­stellen. Auch Erzähl­duktus und Sprach­stil erreichen nicht die Kraft, für die »Unter­leuten«, Juli Zehs bislang größter Erfolg (2016), weithin gepriesen wurde. Als spannende, geist­reiche Krimi­unterhal­tung mit einer Portion Gesell­schafts­kritik ist »Leere Herzen« unein­ge­schränkt empfehlens­wert, aber der bedeu­tungs­schwan­gere Anstrich verblasst schnell, sobald das Buch zu Ende gelesen ist.


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