Sechs Reisende suchen einen Mörder
Sechs Personen würfelt der Zufall am 24. Dezember in einem Bahnabteil dritter Klasse zusammen. Um 11.37 Uhr verlässt ihr Zug Euston Station, London, mit dem Ziel Manchester. Doch das seit Tagen anhaltende Schneegestöber macht der schweren Dampflok das Fortkommen unmöglich. Fauchend kommt der Zug bald auf freier Strecke zum Stillstand. Die Schneemassen sind unüberwindlich.
Was tun? Je nach ihren unterschiedlichen Temperamenten äußern die Leidensgenossen ihre Ideen. Den Weihnachtsabend im Zug verbringen will keiner. Man könnte versuchen, sich zu Fuß zum Bahnhof Hemmersby in etwa zehn Kilometer Entfernung durchzuschlagen. Vor so einem tollkühnen Vorhaben kann der Schaffner angesichts der hoffnungslosen Wetteraussichten freilich nur warnen.
Egal – Dr. Edward Maltby, 60, bricht als Erster auf. Wissenschaftliche Neugier treibt ihn vorwärts. Ihm war zu Ohren gekommen, dass König Charles I. (seit 1649 enthauptet) gesehen worden sei, und als Mitglied der Königlich-Parapsychologischen Gesellschaft hat ihn der Ehrgeiz ergriffen, den König zu interviewen.
Ihm folgen die Geschwister David und Lydia Carrington (anheimelnde Weihnachten im Kreis ihrer Familie vor Augen), der Buchhalter Robert Thomson (»um seiner finanziellen Zukunft willen« zum Pflichtbesuch bei seiner alleinstehenden Tante unterwegs) und die attraktive Revuetänzerin Jessie Noyes (auf ein Engagement am Ziel hoffend). Doch schnell verlieren sie Maltby aus den Augen. Die weiße Wand der Schneeflocken wird undurchdringlich, die Fußspuren im Schnee verwehen, sie verlieren jegliche Orientierung.
Statt Hemmersby erblicken die vier Wanderer in der Einsamkeit auf einmal ein tief verschneites Landhaus vor sich. Im Inneren finden sie die wohlige Wärme knisternder Kaminfeuer, einen Kessel mit heißem Teewasser, einen fein gedeckten Tisch, eine gut gefüllte Vorratskammer, aber keine lebende Person. Aus einem schwer vergoldeten Rahmen betrachtet sie das in Öl gemalte Porträt eines Respekt einflößenden alten Herrn. Merkwürdige Geräusche vom Dachboden und ein Brotmesser auf dem Küchenfußboden geben ihnen zu denken: Irgend etwas kann doch hier nicht mit rechten Dingen zugehen! Dennoch verlocken die vorgefundenen Annehmlichkeiten dazu, sich in Valley House wenigstens für den Weihnachtsabend gemütlich und besinnlich einzurichten. Angesichts der Umstände und der Weihnachtszeit wird der Hauseigentümer, wenn er von wo auch immer zurückkehrt, gewiss Gastfreundschaft walten lassen.
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Überraschenderweise stehen plötzlich zwei Schneemänner vor der Tür. Der eine ist der verschollene Dr. Maltby, der andere ein grobschlächtiger Fremder, der sich in breitem Cockney-Dialekt unter dem Allerweltsnamen »Mr Smith« vorstellt und auf neugierige Fragen ungewöhnlich rüde reagiert. Schließlich strandet wenig später auch der sechste Passagier des Abteils, Mr Hopkins, im weihnachtlich anmutenden Haus. Man hatte vermutet, er sei im Zug zurückgeblieben, und war darüber nicht unglücklich, denn er war dort durch ständiges Nörgeln und Angeben aufgefallen. Trotz seiner behaupteten Erfahrungen mit »richtigem Schnee« am Yukon wäre er hier ganz in der Nähe fast verschüttet worden und erfroren, hätten Thomson und die Geschwister Carrington nicht seine Hilferufe vernommen und ihn mit vereinten Kräften ins Valley House geschleppt.
Wieder zu sechst vereint, schlittert die Gruppe jetzt in ein mysteriöses Verbrechensszenario, das die erhoffte Besinnlichkeit ihres Weihnachtsabends nicht recht aufkommen lässt. Dabei geht es um das Vermächtnis des verstorbenen alten Hausherrn auf dem Ölgemälde. Die Zufallsgäste tun ihr Möglichstes, um all die Geheimnisse und seltsamen Ereignisse, in die sie jetzt verwickelt werden, zu durchschauen. Für zusätzliche Konfusion und unsere Unterhaltung sorgen persönliche Animositäten, Rivalitäten und Techtelmechtel zwischen den unfreiwillig vereinten Hobby-Ermittlern sehr unterschiedlicher Couleur.
Erstaunlich, dass »Mystery in White – a Christmas Crime Story« , 1937 veröffentlicht, erst jetzt in einer deutschen Ausgabe erscheint (übersetzt von Eike Schönfeld). Joseph Jefferson Farjeon (1883-1955) war zwischen den Weltkriegen ein bekannter und erfolgreicher Autor, auf einer Stufe mit den etwa gleichaltrigen Kolleginnen Agatha Christie und Dorothy L. Sayers.
Eine Menge Schnee, ein einsames Spukhaus, ein wenig spiritistische Beschwörung, eine kleine Liebelei und einige Tote – das sind die Zutaten dieses unterhaltsamen, dialogreichen Krimis zur Weihnachtszeit. Sein zentrales Konzept ist das Spiel mit den Lesererwartungen. Sechs seltsame Typen in einem Eisenbahnabteil – man ahnt, dass das nicht gut gehen kann. Doch nicht im Zug geschieht das Verbrechen, und ebenso wenig in der grausamen Schneewüste, durch die Farjeon seine Figuren irren lässt, ehe der Zufall sie wider Erwarten erneut vereint. Dann hält der Autor sie in einer klassischen Zwangslage gefangen, abgeschnitten von der Außenwelt, auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen und mit mysteriösen Geschehnissen konfrontiert. Mit dem Erscheinen eines rätselhaften Fremden nimmt die Krimihandlung erst richtig Fahrt auf und führt in vielen überraschenden Wendungen endlich zur Auflösung. Anders als zur Zeit seiner Erstveröffentlichung verleiht das Ambiente, von der Dampflok in Euston Station bis zur Eleganz des edlen Landhauses mit Butler, dem Ganzen heute eine hübsch nostalgische Atmosphäre.