
Die fabelhafte Welt der Nombeko
Nombeko Mayeki kann sich glücklich schätzen. Sie hat ein Dach über dem Kopf, einen festen Job und neun Jahre Berufserfahrung. Dabei ist sie erst vierzehn. Dass ihre Arbeit anrüchig ist, spielt keine Rolle. Sie ist nur das Sprungbrett für eine märchenhafte Karriere.
Tag für Tag entsorgt sie eimerweise Fäkalien im südafrikanischen Soweto, wo die Verhältnisse zum Himmel stinken. Selbst für den neuen Assistenten des Gesundheitsamtes überschreiten die Ausdünstungen jedes erträgliche Maß. Und so hievt er Nombeko auf den soeben freigewordenen Chefsessel der »Latrinentonnenträger« – die beiden anderen Kandidaten sind gar nicht erst erschienen. Von der neuen Amtsinhaberin wird man später nur Gutes berichten: Sie lässt Plumpsklos aufstellen, beantragt vier neue Waschhäuser (eins davon wird ihr genehmigt) ... den weiteren Werdegang müssen wir hier etwas abkürzen.
Bald jedenfalls katapultiert sie ein unerwarteter Schicksalsschlag auf noch höhere Daseinsebenen. In der Innenstadt von Johannesburg rammt sie Herr van der Westhuizen, volltrunken wie üblich, mit seinem Auto. Da der Gehweg, den sie benutzte, »Weißen vorbehalten« war, ist sie es, die sich vor Gericht verantworten muss. Doch beim Prozess kann sie kaum etwas zu ihrer Verteidigung vorbringen: Ihr Kiefer ist zerdeppert, ein Bein und ein Arm gebrochen. Aber der Geschädigte ist der Fahrzeuglenker, und an ihn soll sie Schmerzensgeld für das »seelische Leid« und die Kosten für die Reparatur des verbeulten Autos entrichten.
Den Betrag könnte Nombeko locker bezahlen. Eingenäht in ihre Jackensäume hortet sie jede Menge Diamanten. Wieso und woher, das erfahren Sie ziemlich am Anfang des Romans. Doch wenn sie auch nur einen davon herausholte, würde sie lebenslänglich im Knast sitzen.
Da eröffnet sich ein für beide Seiten vorteilhaftes Arrangement. Sieben Jahre lang soll Nombeko als Putzfrau dem Herrn zu Diensten sein. Die wandelnde »Flasche Klipdrift-Kognak« ist leitender Ingenieur der Kernforschungsanlage Pelindaba und soll Südafrika in die Liga der Atomstaaten befördern. Doch der arrogante Suffkopf bringt es nicht. Nach einem Jahr vor- und vergeblichen Forschens wird er seinen Job bald an den Nagel hängen müssen. Gut, dass seine neue Domestikin mit überdurchschnittlicher Intelligenz ausgestattet ist. Sie verschlingt die Fachliteratur (das mit der Analphabetin muss man nicht so genau nehmen), und schon hat sie Höhere Mathematik, Chemie und Nuklearphysik im Griff. Nur dank ihrer Einflüsterungen im feudal ausgestatteten Hochsicherheitstrakt kann Südafrika endlich seine erste Atombombe testen.
Das Budget sieht sechs Sprengköpfe vor. Weil aber die eine Hand nicht weiß, was die andere tut, der Ingenieur ständig voll wie eine Haubitze ist und die Putze sich nicht um alles kümmern kann (schließlich ist sie ja zum »Feudeln« hier), gibt es auf einmal ein überzähliges Exemplar. Wohin damit? Nach Israel. Doch dort trifft statt der Hitech-Waffe getrocknetes Antilopenfleisch ein. »Dumm gelaufen«: Die drei Chinesinnen, die die Post der Forschungsanlage eintüten (und sich ein Zubrot mit Fälschungen aus der Han-Dynastie verdienen), haben halt die Aufkleber verwechselt.
Und wer hat nun die siebte Bombe an der Backe? Nombeko natürlich. Und das ausgerechnet im kernwaffenfreien Schweden, wo sie Asyl beantragt hat. Wie macht man das Ding unschädlich? Wie wird man es wieder los? Die besten Ideen fallen Nombeko zu, während sie getrocknetes Antilopenfleisch kaut, aber das ist ja im Nahen Osten.
Für Autor Jonas Jonasson gibt es keine unüberwindlichen Probleme. Den Kopf voller skurriler Ideen, fabuliert er hemmungslos vor sich hin. Ihm wird schon was einfallen. Vielleicht läuft ihm ja ein Pony über den Weg.
Nombekos Ankunft in Schweden nimmt einen Handlungsstrang auf, der sich bisher parallel entwickelt hatte und des Lesers Haare nicht minder sträubt. Ingmar Qvist, rangniedrigster Postbeamter von Södertälje, verfolgt ein Projekt, das weit über seine Lebenszeit hinausreichen würde: die Ausrottung der schwedischen Monarchie. Zu diesem edlen Zweck zeugt er mit der »strebsamen Schneiderin« Henrietta ein Zwillingspärchen, »Holger und Holger«. Holger 1, minderbemittelt wie sein Vater, tritt in dessen Fußstapfen als Radikalinski, der bis zum Äußersten gehen würde. Holger 2 ist dagegen »ein helles Köpfchen«. Warum er mit seiner adligen Tante Gertrud reichlich Kartoffeln ernten wird und sich trotzdem die Existenz-Frage stellt, tja, auch das lässt sich hier nicht so einfach zusammenfassen, wird Ihnen jedoch viel Lesevergnügen bereiten.
Während eine absurde Geschichte der anderen auf dem Fuße folgt, fließt ganz nonchalant die Weltgeschichte seit den Vierziger Jahren mit ein. Manche Süffisanz des Autors bleibt einem im Halse stecken, wenn sie etwa an den Sarkasmus der Aufrüstungspolitik des atomaren Gleichgewichts erinnert: Die versammelte Sprengkraft aller Atombomben auf Erden reichte aus, um den Globus »vierzehn bis sechzehn Mal« in die Luft zu sprengen – aus Sicht der »Pessimisten«; »Optimisten neigten zu zwei Mal«.
Während es Nombekos Schicksal scheint, »ausschließlich von Volltrotteln umgeben zu sein« (darunter die »Trantüten« »A« und »B«, zwei dilettantische Mossad-Agenten), dürfen auch bedeutende Köpfe der realen Historie, etwa König Carl Gustav V., Präsident Carter und Nelson Mandela, mitspielen. Als der Parteisekretär der chinesischen Provinz Guizhou zu Besuch in Südafrika weilt, läuft nichts ohne Nombeko, hat sie doch von den drei chinesischen Postmädels deren Sprache gelernt. Sie begleitet den Tross auf Safari, weicht dem Gast nicht von der Seite und plaudert mit ihm über dies und das. Unter anderem steckt sie ihm, dass Südafrika die Bombe habe. Damit hat sie »einen Freund fürs Leben gewonnen« – es ist Chinas späterer Präsident Hu Jintao.
Jonas Jonassons neuen Roman »Analfabeten som kunde räkna« darf man, wie schon seinen Erstling, trotz des Spiels mit der Realität nicht mit deren Maßstäben messen. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine schwarze Analphabetin aus den Slums von Soweto Karriere macht, ist ja leider immer noch gering. Vielmehr handelt es sich um ein Märchen für Erwachsene mit Happy End. Gut und Böse, Dumm und Schlau sind klar verteilt, die Realität ist teils erschreckend normal, teils wildestes Absurdistan. Die Fabel von der Analphabetin, die nicht nur rechnen, sondern durchaus auch lesen kann, steckt voller Optimismus und bietet fantasievolle Unterhaltung vom Feinsten. Dies ist auch das Verdienst von Wibke Kuhn, die ihre flotte Übersetzung mit herrlichen Gemmen aktueller Umgangssprache (»Vollpfosten«, »Schmierlappen« ...) gespickt hat.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Winter 2013/ 2014 aufgenommen.