Immer locker bleiben: Es kommt, wie es kommt!
Mit seinem Debütroman »Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand« hat der Schwede Jonas Jonasson innerhalb kürzester Zeit die Herzen vieler Leser erobert. Sein Roman unterhält jedermann, ob jung oder alt. Der Sprachstil ist leicht und flüssig, kurzweilig und spritzig, gespickt mit umgangssprachlichen Ausdrücken. Der Autor ist ein wahrer Künstler des Fabulierens; furios tobt sich seine Phantasie aus. Seine Hauptfiguren – die Freunde, mit denen der Hundertjährige sich umgibt – lügen, dass sich die Balken biegen – Baron von Münchhausen ist ein Waisenkind dagegen. Jonasson gestaltet seine Erzählung witzig und humorvoll: Selbst lebensbedrohliche Situationen im Leben des Hundertjährigen stecken voller Komik.
Nach einem turbulenten Leben wohnt der 99-jährige Allan Karlsson die letzten Jahre in einem Häuschen zusammen mit einem Kater und einer Schar Hennen. Eines Tages erwischt der Fuchs den Kater und reißt einige Hühner. Allan will Rache nehmen: »Du kannst Krieg haben, du Scheißfuchs.« Er legt einen Sprengsatz, der zündet tatsächlich, alles fliegt in die Luft, samt Scheune und Wohnhaus, und Allan, den man auf seinem Sessel sitzend findet, erhält im Altenheim Malmköping eine neue Bleibe. Schwester Alice, die »alte Giftspritze«, erläutert ihm haarklein die Hausordnung mit genau einzuhaltenden Zeiten und zahlreichen Verboten. Hier leben? Der Alte beschließt im Schlaf zu sterben.
In vier Monaten wird er 100 Jahre alt. Die Vorbereitungen zum Festakt laufen auf Hochtouren. Die Musi wird spielen, Stadtrat, Pfarrer und andere Würdenträger werden gratulieren, Reden werden geschwungen, die Presse wird das Ereignis ausschlachten. Aber bitteschön nicht mit Allan.
Am Morgen des Ehrentages flüchtet der Alte. Spontan und ohne Plan klettert er aus dem Fenster, landet in den Blumenrabatten – oh Schreck, er trägt ja noch seine »Pisspantoffeln« (Der Erdanziehung gehorchend, fällt immer ein Tropfen zielstrebig auf dieselbigen ...) –, aber es gibt kein Zurück mehr. Auf direktem Weg läuft er zum Bahnhof. Er will weg, nur schnell und egal wohin. Im Wartesaal wird er von einem schmierigen, ungehobelten jungen Mann mit dem Leitspruch »Never again« auf der Jacke angepöbelt. Er müsse mal aufs Klo, und da sein Koffer nicht durch die Tür passe, möge der alte »Tattergreis« doch ein Auge drauf werfen.
Da kommt schon der Bus vorgefahren. Wie praktisch, dass der Koffer Rollen hat – da ist es Allan ein Leichtes, das Eigentum des Unsympathen zu klauen. Als der, um ein Vielfaches erleichtert, sein stilles Örtchen verlässt, verflucht er den Alten: »Du bist so gut wie tot, du alter Wichser.« Und das kann man nachvollziehen, befinden sich doch 50 Millionen Kronen aus Drogengeschäften im Koffer ...
Mit diesem unerwarteten Gewinn beginnt für Allan ein später neuer Lebensabschnitt. Eine Meute von Polizisten, die »Never again«-Mafia-Truppe und eine Horde Journalisten jagen ihn. Doch Allan etabliert mit den Freunden, die er auf seiner Reise kennenlernt, in sein Geheimnis einweiht und zu Komplizen macht, ein eingeschworenes Team. Trotz etlicher Leichen, die leider und unvermeidlich am Wegesrand zurückbleiben müssen, löst sich später alles in Wohlgefallen auf: Eine saubere, stimmige Lügengeschichte überzeugt den Staatsanwalt von der allgemeinen Unschuld – und so endet dieser Plot wie im Märchen: Allan und seine Freunde reisen nach Bali, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute dort.
Im Jahr 1905 beginnt der zweite Handlungsstrang. Da verarbeitet Jonas Jonasson, was sich in 100 Jahren Weltgeschichte zugetragen hat. Genauer gesagt: Indem er Allan von einem Schauplatz zum anderen schubst, erschafft der Autor ein bewundernswert kompaktes, treffsicher komprimiertes, in seiner Struktur stimmiges Panoptikum von Staaten und ihren Lenkern, Realitäten und Ideologien. Doch Achtung: Wer auf Humbug hereinfällt, ist selber Schuld. (Zum Beispiel gibt Allan, Sprengstoffspezialist durch learning by doing und ahnungslos in Physik, Robert Oppenheimer den entscheidenden Hinweis zum Bau der Atombombe ...)
Kapitelweise wechseln sich Episoden aus Allans Odyssee in der Gegenwart und seine Auftritte auf dem Parkett der Weltpolitik ab. Allan, der Naiv-Unpolitische, purzelt ungewollt und zufällig mitten in die Krisenherde der Welt. Er erhält Einladungen von Regierenden unterschiedlichster Couleur – Stalin, Truman und Franco, um nur wenige seiner Gastgeber zu nennen -, denn alle versprechen sich Vorteile – zumindest guten Rat, wenn nicht gleich die Atombombe. Dass Allan ungeplant und ziellos (»Es kommt, wie es kommt.«) Einfluss auf das Schicksal der Welt nimmt, lässt Geschichte oft als sinnlose, paradoxe Groteske erscheinen, wie einige Beispiele illustrieren: Allan soll auf Wunsch des Schahs von Persien einen Anschlag auf Churchill durchführen – und vereitelt ihn dann auf geschickte Weise selbst. Allan bekämpft mit Chiang Kai-shek (der porträtiert wird als Pantoffelheld seiner Frau Song Meiling, einer guten Freundin Roosevelts und Strippenzieherin) den Vormarsch Maos und der Kommunisten – und befreit später Maos Frau Jiang Qing aus dem Gefangenenlager der Kuomintang. Mao, sein neu gewonnener Freund, bedankt sich dafür fürstlich bei ihm – mit Geld, das auf Umwegen aus den USA stammt. Allan arbeitet für die CIA in Moskau und wirbt einen sowjetischen Physiker an – doch dessen Wissen gibt er jeder Seite weiter, wobei Dichtung und Wahrheit gewissenhaft und glaubwürdig vermischt werden. Konsequenterweise reagiert Allan allergisch, sobald die Machthaber ihn ideologisieren wollen, denn als Sozialist, Republikaner, Kommunist oder Faschist lässt er sich nie abstempeln.
Diesen auf anspruchsvolle Weise amüsanten Roman mit einer sympathischen Kunstfigur als Protagonist habe ich in die Liste meiner ganz privaten aktuellen Lesetipps aufgenommen.