Dein Fortsein ist Finsternis
von Jón Kalman Stefánsson
Die fantastische Reise eines Mannes auf der Suche nach seinen verlorenen Erinnerungen und seiner Identität. Eine Fülle an Figuren, Schicksalen, Geschichten, Eindrücken, Bildern, Visionen, Landschaften und Gedanken setzen ein komplexes Bild dessen zusammen, was Menschsein heißt.
Gib den Toten einen Namen
Was formt den Menschen? Wie formt ein Mensch seine Mitmenschen? die Nachwelt?
Vielleicht sind dies einige der Fragen, denen der isländische Autor Jón Kalman Stefánsson in seinen Romanen nachgeht. In vielfältigen Abwandlungen finden wir sie sinngemäß gestellt oder angedeutet, oder wir ahnen sie auf dem Grund des Meeres von Geschichten, die er uns erzählt. So banal formuliert werden sie nicht – und schon gleich nicht beantwortet.
Der Roman »Dein Fortsein ist Finsternis« ist Stefánssons elfter, der in deutscher Übersetzung (von Karl-Ludwig Wetzig) erschienen ist, und für mich ist es das ungewöhnlichste, rätselhafteste Stück Literatur, das ich seit langer Zeit gelesen habe. Auf fünfhundert Seiten folgt eine Erzählung auf die andere, mit immer wieder neuen Gestalten, an unterschiedlichen Schauplätzen, zu unterschiedlichen Phasen der Weltgeschichte. Neben einem Dutzend Protagonisten begegnen uns manche Figuren, Ereignisse und Gegenstände früher oder später wieder, andere niemals mehr, und einem ›realistischen‹ Handlungsablauf folgen oder einen stringenten Plot rekonstruieren oder eine Inhaltsangabe verfassen zu wollen ist vergebliche Liebesmüh’. Im Verlauf des Erzählflusses verschwimmen und vermischen sich Ebenen der Zeit und des Realitätsgrades, ein Handlungsfaden verliert sich, um später wieder aufzutauchen, wobei sein Eindringen in die neue Geschichte dann zunächst verwirrt, bis man sich erinnert und sich ein Aha-Effekt einstellt.
Was Stefánsson zu bieten hat, ist seine blühende Fantasie, seine unglaubliche sprachliche Kreativität, Kraft und Dichte seiner an Lyrik erinnernden Prosa, Originalität und Zauber seiner Bilder, die Tiefe der Gedankenwelt, die er evoziert. Keiner der großen Gegenstände der Weltliteratur fehlt: Liebe, Tod, Kunst (besonders Musik), Transzendenz, Gefühle, Natur, Gesellschaft, Religion …. Das meiste von dem, was er erzählt und wie er es tut, ist durchaus im Heute verortet (blauer Volvo, Coronapandemie, japanische Touristen), manches erinnert aber auch an Sagen, Mythen, Träume, Surreales. Man kann sich in diesem Buch verlieren, aber auch verzweifeln, wenn man Konkretes sucht (dabei sehr hilfreich: das Verzeichnis der Personen und ihrer Charakteristiken auf den letzten Seiten).
Seine Figuren sind keine Menschen wie du und ich. So wie sie erzählt werden, führen sie zwar augenscheinlich ein Leben wie jedermann, und Schicksalsschläge werfen sie aus der Spur wie unsereinen, doch schon am Anfang bekommen wir den Eindruck, dass es wohl eher philosophische Chiffren sind, die in den magischen Landschaften Islands auf der Suche nach ihren Ursprüngen und ihrer Identität sind. Das 1. Kapitel ist überschrieben: »Erzähl meine Geschichte, und ich bekomme meinen Namen zurück.« Und in einer Art Vorwort auf der nächsten Seite erklärt der Erzähler (hier drastisch zusammengefasst): »Was wichtig ist und dauerhaft Einfluss auf dich hat, […] kann so tief eindringen, dass es sich in den Genen niederschlägt, wo es an andere Generationen weitergegeben wird […]. In diesem Sinn existieren manche von uns noch lange, nachdem wir bereits verschwunden und vollständig vergessen sind. Die Vergangenheit lebt so ewig in uns weiter. Sie ist der unsichtbare, geheimnisvolle Kontinent, von dem du manchmal im Halbschlaf eine Ahnung bekommst.« Der Kreis schließt sich, wenn es später heißt: »Es ist unsere Pflicht, uns zu erinnern, Vergessen ist Verrat am Leben.«
Gleich die erste Geschichte greift dieses Thema auf. Sie konfrontiert ihren Ich-Erzähler mit der katastrophalen Erkenntnis, dass er sich an absolut nichts mehr erinnern kann. Wie hingeworfen sitzt er auf einer Bank in einer kalten Kirche im Nirgendwo. In der Ferne blöken Schafe, Vögel zwitschern. Er fragt sich, ob er träumt – oder tot ist. Ist der hagere Mann in der hintersten Bankreihe, der ihn spöttisch betrachtet, der Teufel, »gekommen, um deine Seele zu holen«? Es entwickelt sich eine Art Gespräch, teils vielleicht vernehmbar, teils eher innerlich. Dies ist ein charakteristisches Stilelement Stefánssons, das ihm erlaubt, einen Gedankengang in sämtlichen Varianten darzustellen, gleich wieder zu hinterfragen und auszuweiten.
Die beiden Männer verlassen die Kirche und passieren den uralten Friedhof (auf einem Grabstein steht »Dein Andenken ist Licht. Dein Fortsein ist Finsternis«). Dort erkennt eine Frau (Rúna) den Ich-Erzähler wieder, was Hoffnung auf eine Rekonstruierbarkeit seiner Vita nährt. Sie schickt ihn weiter zu ihrer Schwester Sóley, die früher offenbar mit ihm befreundet war, aber selbst seine Gefühlswelt ist jetzt leer wie alles andere. So zieht man weiter, eine mehr oder weniger merkwürdige Episode reiht sich an die nächste. Einprägsam sind die dramatischen Geschichten von zwei Verlobten, denen ein einfacher Bauer nach einer Autopanne zu Hilfe kommt und mit seinen blauen Augen die junge Frau derart verzaubert, dass sie all ihre Pläne umwirft, und die von einem unehelich geborenen Jungen, der bei seinen Großeltern aufwachsen muss, weil seine Mutter, obwohl sie in ihrer Familie die Liebe vermisst, die sie bei dem anderen Mann gefunden hat, es nicht fertigbringt, Ehemann und Kinder zu verlassen.
So wuchern die Begebenheiten um den Ich-Erzähler mit und ohne seinen Begleiter in die verschiedensten Richtungen weiter wie ein Efeugewächs, an dem sich sehr alte Geschichten und ganz Jetztzeitige wie halb verdorrte und frisch hellgrün blühende Triebe kaum entwirrbar umeinander winden. Wie die Blätter sind die Figuren, längst verstorbene und heute lebende, irgendwie miteinander verbunden, sei es, weil sie verwandt sind (oder verwandte Seelen), sei es, weil sie in dem einsamen Tal am Fjord gelebt haben oder das Schicksal sie andernorts zusammengeführt hat. In dem dichten Rankenwerk ist der Ich-Erzähler nicht, wie zu erwarten wäre, unser Pfadfinder (der freilich seinen eigenen Weg noch suchen muss), sondern er entschwindet ebenso wie die anderen Figuren immer mehr bis zur Unsichtbarkeit, um dann andernorts wiederzukehren.
Wie ein roter Faden ziehen sich Verweise auf den Leitgedanken des Vergessens und Leben spendenden Erinnerns durch den Text: »Das grüne Gras fängt den Sonnenschein und leitet ihn zu [den Toten in ihren Gräbern] nach unten in die Dunkelheit.« – »Merk dir die Namen […], sie treten wieder hervor, wenn sie gerufen werden.« – »Ja, weißt du nicht mehr, dass ich zu dir komme, wenn ich sterbe?« So vermag selbst ein unscheinbarer Regenwurm als »bescheidener Poet« eine symbolische Brücke über Jahrhunderte zu schlagen.
Melancholie, das Hinabsinken, bis man glaubt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und sich danach sehnt, immer noch tiefer zu sinken, ist der Grundton dieses faszinierenden, doch gewöhnungsbedürftigen Romans. Rettung verheißen die Beschreibungen von tief empfundener Liebe, die einen Zusammenhalt bis zum Tod verspricht (»halt mich fest, Liebster«), doch ist sie stark genug, die Vergänglichkeit zu überwinden?
In den letzten Kapiteln kämpft der Erzähler noch immer mit seinem Gedächtnis, aber er kommt an – vielleicht nicht am Ziel seiner Reise oder seines Lebens, aber bei dem »Fest, auf dem sich alle wiedersehen, die wir kennen, Lebende wie Tote«. Wir Leser sind reicher um viele denkwürdige Fragen und noch denkwürdigere Antworten (nicht zuletzt, »dass Fragen manchmal das Leben bedeuten, Antworten aber den Tod«) und frappierende Lebensweisheiten wie zum Beispiel »Man kann nicht als Mensch leben, ohne wenigstens einmal zu zerstören, was einem lieb und teuer ist«. Aber am Ende des Romans bleibt auch »noch so vieles unklar, so vieles ohne Antwort. So viel übrig.«