Rezension zu »Dein Fortsein ist Finsternis« von Jón Kalman Stefánsson

Dein Fortsein ist Finsternis

von


Die fantastische Reise eines Mannes auf der Suche nach seinen verlorenen Erinnerungen und seiner Identität. Eine Fülle an Figuren, Schicksalen, Geschichten, Eindrücken, Bildern, Visionen, Landschaften und Gedanken setzen ein komplexes Bild dessen zusammen, was Menschsein heißt.
Belletristik · Piper · · 544 S. · ISBN 9783492071277
Sprache: de · Herkunft: is

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Gib den Toten einen Namen

Rezension vom 02.04.2023 · 14 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Was formt den Menschen? Wie formt ein Mensch seine Mitmenschen? die Nachwelt?
Vielleicht sind dies einige der Fragen, denen der islän­dische Autor Jón Kalman Stefáns­son in seinen Romanen nachgeht. In vielfäl­tigen Abwand­lungen finden wir sie sinngemäß gestellt oder ange­deutet, oder wir ahnen sie auf dem Grund des Meeres von Ge­schichten, die er uns erzählt. So banal formu­liert werden sie nicht – und schon gleich nicht beant­wortet.

Der Roman »Dein Fortsein ist Finsternis« ist Ste­fáns­sons elfter, der in deutscher Über­setzung (von Karl-Ludwig Wetzig) erschie­nen ist, und für mich ist es das unge­wöhn­lichste, rätsel­haf­teste Stück Literatur, das ich seit langer Zeit gelesen habe. Auf fünf­hundert Seiten folgt eine Erzählung auf die andere, mit immer wieder neuen Gestalten, an unter­schied­lichen Schau­plätzen, zu unter­schied­lichen Phasen der Weltge­schichte. Neben einem Dutzend Protago­nisten begegnen uns manche Figuren, Ereig­nisse und Gegen­stände früher oder später wieder, andere niemals mehr, und einem ›realis­tischen‹ Hand­lungs­ablauf folgen oder einen strin­genten Plot rekon­stru­ieren oder eine Inhalts­angabe verfassen zu wollen ist vergeb­liche Liebesmüh’. Im Verlauf des Erzähl­flusses ver­schwim­men und vermi­schen sich Ebenen der Zeit und des Realitäts­grades, ein Hand­lungs­faden verliert sich, um später wieder aufzu­tauchen, wobei sein Ein­dringen in die neue Ge­schichte dann zunächst verwirrt, bis man sich erinnert und sich ein Aha-Effekt einstellt.

Was Stefánsson zu bieten hat, ist seine blühende Fan­tasie, seine unglaub­liche sprach­liche Kreati­vität, Kraft und Dichte seiner an Lyrik er­innern­den Prosa, Origina­lität und Zauber seiner Bilder, die Tiefe der Gedan­kenwelt, die er evoziert. Keiner der großen Gegen­stände der Welt­litera­tur fehlt: Liebe, Tod, Kunst (besonders Musik), Trans­zendenz, Gefühle, Natur, Gesell­schaft, Religion …. Das meiste von dem, was er erzählt und wie er es tut, ist durchaus im Heute verortet (blauer Volvo, Corona­pan­demie, japani­sche Touristen), manches erinnert aber auch an Sagen, Mythen, Träume, Surreales. Man kann sich in diesem Buch verlieren, aber auch verzwei­feln, wenn man Konkretes sucht (dabei sehr hilfreich: das Verzeich­nis der Personen und ihrer Charak­teristi­ken auf den letzten Seiten).

Seine Figuren sind keine Menschen wie du und ich. So wie sie erzählt werden, führen sie zwar augen­schein­lich ein Leben wie jedermann, und Schick­sals­schläge werfen sie aus der Spur wie unser­einen, doch schon am Anfang bekommen wir den Eindruck, dass es wohl eher philoso­phische Chiffren sind, die in den magischen Land­schaften Islands auf der Suche nach ihren Ursprün­gen und ihrer Identität sind. Das 1. Kapitel ist über­schrieben: »Erzähl meine Ge­schichte, und ich bekomme meinen Namen zurück.« Und in einer Art Vorwort auf der nächsten Seite erklärt der Erzähler (hier drastisch zusam­menge­fasst): »Was wichtig ist und dauerhaft Einfluss auf dich hat, […] kann so tief ein­dringen, dass es sich in den Genen nieder­schlägt, wo es an andere Genera­tionen weiter­gegeben wird […]. In diesem Sinn exis­tieren manche von uns noch lange, nachdem wir bereits ver­schwun­den und voll­ständig vergessen sind. Die Ver­gangen­heit lebt so ewig in uns weiter. Sie ist der unsicht­bare, ge­heimnis­volle Kontinent, von dem du manchmal im Halb­schlaf eine Ahnung bekommst.« Der Kreis schließt sich, wenn es später heißt: »Es ist unsere Pflicht, uns zu erinnern, Vergessen ist Verrat am Leben.«

Gleich die erste Geschichte greift dieses Thema auf. Sie konfron­tiert ihren Ich-Erzähler mit der katastro­phalen Er­kennt­nis, dass er sich an absolut nichts mehr erinnern kann. Wie hinge­worfen sitzt er auf einer Bank in einer kalten Kirche im Nirgendwo. In der Ferne blöken Schafe, Vögel zwit­schern. Er fragt sich, ob er träumt – oder tot ist. Ist der hagere Mann in der hin­tersten Bankreihe, der ihn spöttisch betrach­tet, der Teufel, »gekommen, um deine Seele zu holen«? Es ent­wickelt sich eine Art Gespräch, teils viel­leicht vernehm­bar, teils eher innerlich. Dies ist ein charak­teristi­sches Stil­element Ste­fáns­sons, das ihm erlaubt, einen Ge­danken­gang in sämt­lichen Varianten darzu­stellen, gleich wieder zu hinter­fragen und auszu­weiten.

Die beiden Männer verlassen die Kirche und passieren den uralten Friedhof (auf einem Grabstein steht »Dein Andenken ist Licht. Dein Fortsein ist Fins­ternis«). Dort erkennt eine Frau (Rúna) den Ich-Erzähler wieder, was Hoffnung auf eine Rekon­struier­bar­keit seiner Vita nährt. Sie schickt ihn weiter zu ihrer Schwester Sóley, die früher offenbar mit ihm befreun­det war, aber selbst seine Gefühls­welt ist jetzt leer wie alles andere. So zieht man weiter, eine mehr oder weniger merk­würdige Episode reiht sich an die nächste. Einpräg­sam sind die dramati­schen Ge­schich­ten von zwei Verlobten, denen ein einfacher Bauer nach einer Autopanne zu Hilfe kommt und mit seinen blauen Augen die junge Frau derart verzau­bert, dass sie all ihre Pläne umwirft, und die von einem unehelich geborenen Jungen, der bei seinen Groß­eltern auf­wachsen muss, weil seine Mutter, obwohl sie in ihrer Familie die Liebe vermisst, die sie bei dem anderen Mann gefunden hat, es nicht fertig­bringt, Ehemann und Kinder zu verlassen.

So wuchern die Begebenheiten um den Ich-Erzähler mit und ohne seinen Begleiter in die ver­schie­den­sten Rich­tungen weiter wie ein Efeu­gewächs, an dem sich sehr alte Ge­schich­ten und ganz Jetzt­zeitige wie halb verdorrte und frisch hellgrün blühende Triebe kaum ent­wirr­bar um­einan­der winden. Wie die Blätter sind die Figuren, längst verstor­bene und heute lebende, irgendwie mit­einan­der verbunden, sei es, weil sie verwandt sind (oder verwandte Seelen), sei es, weil sie in dem einsamen Tal am Fjord gelebt haben oder das Schicksal sie andern­orts zu­sam­menge­führt hat. In dem dichten Ranken­werk ist der Ich-Erzähler nicht, wie zu erwarten wäre, unser Pfad­finder (der freilich seinen eigenen Weg noch suchen muss), sondern er ent­schwin­det ebenso wie die anderen Figuren immer mehr bis zur Unsicht­barkeit, um dann andern­orts wieder­zukehren.

Wie ein roter Faden ziehen sich Verweise auf den Leitge­danken des Verges­sens und Leben spen­den­den Erinnerns durch den Text: »Das grüne Gras fängt den Sonnen­schein und leitet ihn zu [den Toten in ihren Gräbern] nach unten in die Dunkel­heit.« – »Merk dir die Namen […], sie treten wieder hervor, wenn sie gerufen werden.« – »Ja, weißt du nicht mehr, dass ich zu dir komme, wenn ich sterbe?« So vermag selbst ein unschein­barer Regen­wurm als »beschei­dener Poet« eine symbo­lische Brücke über Jahr­hun­derte zu schlagen.

Melancholie, das Hinabsinken, bis man glaubt, den Boden unter den Füßen zu verlieren, und sich danach sehnt, immer noch tiefer zu sinken, ist der Grundton dieses faszinie­renden, doch gewöh­nungs­bedürf­tigen Romans. Rettung verheißen die Beschrei­bungen von tief empfun­dener Liebe, die einen Zu­sammen­halt bis zum Tod ver­spricht (»halt mich fest, Liebster«), doch ist sie stark genug, die Vergäng­lichkeit zu über­winden?

In den letzten Kapiteln kämpft der Erzähler noch immer mit seinem Gedächt­nis, aber er kommt an – viel­leicht nicht am Ziel seiner Reise oder seines Lebens, aber bei dem »Fest, auf dem sich alle wieder­sehen, die wir kennen, Lebende wie Tote«. Wir Leser sind reicher um viele denk­würdige Fragen und noch denk­würdi­gere Antworten (nicht zuletzt, »dass Fragen manchmal das Leben bedeuten, Antworten aber den Tod«) und frappie­rende Lebens­weis­heiten wie zum Beispiel »Man kann nicht als Mensch leben, ohne wenigs­tens einmal zu zerstören, was einem lieb und teuer ist«. Aber am Ende des Romans bleibt auch »noch so vieles unklar, so vieles ohne Antwort. So viel übrig.«


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