Der alte Mann und das Mädchen
Adrian Thomas ist Psychologieprofessor im Ruhestand und hat beschlossen, seinem Leben ein Ende zu setzen. Nach einer neurologischen Untersuchung steht der Befund fest: Demenz, in einer sehr schnell fortschreitenden Variante. Er fährt nach Hause, bleibt noch einen Moment hinterm Lenkrad sitzen – und sieht auf dem Bürgersteig auf der anderen Straßenseite ein 16-jähriges Mädchen in heruntergekommener Kleidung – zerrissene Jeans, Parka, Baseballkappe. An ihrem Rucksack baumelt ein Teddybär. In zielsicherem, forschem Schritt schreitet sie voran.
Da naht ein weißer Lieferwagen, drosselt das Tempo, um dann mit aufheulendem Motor und durchdrehenden Rädern davonzurasen. Das Mädchen ist von der Bildfläche verschwunden. Einen Moment glaubt Adrian, seine Krankheit spiele ihm einen Streich, und alles sei nur Halluzination gewesen. Doch dann ist er sich sicher, Augenzeuge einer Entführung geworden zu sein. Auf der Straße liegt nämlich eine rosarote Baseballkappe, im Innern ein Name: Jennifer ...
Was haben die Entführer mit diesem Mädchen vor? Geht es um Erpressung, oder droht ihr ein anderes Schicksal?
Anfangs empfand ich den Roman "Der Professor" etwas zäh und in die Länge gezogen. Doch bald haben mich die starken Charaktere Jennifer und Adrian fasziniert. Beide sind Gefangene und einsame Menschen. Jeder kämpft mit letzter Kraft, die eine um ihr Leben, der andere gegen seine Krankheit.
Die eindringliche Beschreibung von Jennifers Situation erinnert sehr stark an Berichte entführter und befreiter Personen, wie zuletzt der Aufsehen erregende Fall Natascha Kampuschs. Nach Gefühlen der Angst, Ohnmacht und Resignation kommt eine Phase der Bereitschaft mitzuspielen, durch eigene Intelligenz den Peinigern Paroli zu bieten.
Jennifer hat ihren kleinen Mr. Braunbär, mit dem sie kuscheln und sprechen kann. Ihre Entführer sind fasziniert von ihrer ungewöhnlich coolen Ausstrahlung und entwickeln noch größere Demütigungen. Sie gerät an den Rand des Identitätsverlustes und des psychischen Zerbrechens.
Adrian Thomas pendelt zwischen der Realität und einer imaginären Welt, in der er umgeben ist von seinen verstorbenen Verwandten. Eigentlich wollte er bald bei ihnen sein; nun sprechen sie mit ihm, beraten ihn, geben ihm Denkanstöße und fordern ihn auf, Jennifer zu suchen. Jetzt hat er eine Aufgabe, für die es sich lohnt zu kämpfen. Dabei bleibt ihm nicht viel Zeit, denn wie lange lassen die Entführer Jennifer noch am Leben, und wie lange kann er sich noch auf sein Gehirn verlassen?
John Katzenbach hat einen handwerklich guten Psychothriller geschrieben. Man könnte einwenden, dass die Thematik des kriminalistischen Handlungsstrangs – es geht um Internet-Verbrechen mit pornographischem Hintergrund – sowohl in den Medien als auch in anderen Romanen schon hinreichend thematisiert worden ist. Was meine Begeisterung allerdings stärker bremst, ist, dass die Dramaturgie dieses Thrillers ziemlich geradlinig, ein wenig vorhersehbar verläuft. Es mangelt an unerwarteten Wendepunkten und Handlungsknüllern.
Dies ist der erste John-Katzenbach-Roman, den ich gelesen habe. Die meisten seiner Thriller (wie "Die Anstalt" und "Das Opfer") sind Bestseller, und so wird auch "Der Professor" sicher von seinen Fans mit Begeisterung gelesen werden.