Rezension zu »Die Geschichte eines Lügners« von John Boyne

Die Geschichte eines Lügners

von


Ein ambitionierter junger Schriftsteller, dem es an eigener literarischer Kraft mangelt, saugt Ideen und Talent aus seinen Kollegen und feiert damit Erfolge.
Belletristik · Piper · · 432 S. · ISBN 9783492059633
Sprache: de · Herkunft: gb

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Der Aussauger

Rezension vom 01.03.2021 · noch unbewertet · noch unkommentiert

Maurice Swift fühlt sich zu Höherem geboren. Er ist jung, attraktiv und gewandt, hält sich für unwider­stehlich, und auch seine dunklen Seiten sind ihm keines­wegs verborgen: Er ist skrupel­los, hinter­listig, bösartig. Kurzum: ein Narzisst, wie er im Buche steht. Leider ist ihm aber der gebüh­rende Erfolg im Leben noch versagt geblieben. Der Zwanzig­jährige muss sein Geld mit einer banalen, besonders devoten Tätigkeit verdienen – er kellnert in einem Hotel. Immerhin ist es nicht irgend­eines, sondern das Savoy in West­berlin (die Mauer ist noch nicht gefallen).

Was Maurice vorschwebt, ist ein recht eigen­williges Ziel. Ausge­rechnet als Literat will er berühmt werden. Leider klaffen Wunsch und Wirklich­keit, Traum und Talent bei ihm besonders weit ausein­ander. Da ist noch nichts, was er als weg­weisend präsen­tieren könnte.

Dann befeuert eine Prise Zufall seinen Start in die Welt der Schrift­stellerei. An der Hotelbar sitzt Erich Ackermann bei einem Glas edlen Weines und bereitet sich auf eine Lesung aus seinem Roman vor, der soeben mit einem »Prize« (womöglich dem Booker Prize?) ausge­zeichnet wurde. Der Sechsund­sechzig­jährige ist eine Berühmt­heit. Er wurde in Berlin geboren, wuchs während des National­sozialis­mus dort auf, verließ nach dem Krieg sein Vaterland, studierte englische Literatur in Cambridge und lehrte später selber an der renom­mierten Univer­sität. Jetzt hat der ange­sehene Autor ein Sabba­tical ange­treten, um auf Lesereise durch Europa zu gehen. Berlin soll den Anfang machen.

Dem Angestellten im Savoy ist all dies bestens bekannt, und er ergreift seine Chance beherzt. Kurz nach Dienst­schluss stellt er sich Ackermann als großer Bewun­derer vor, sie verab­reden sich zu einem Drink, werden rasch Freunde und gehen zum »Du« über. Maurice traut sich, seinen geheimen Wunsch zu äußern und erwähnt seine Schreib­versuche. Das raffi­nierte Räder­werk ist in Gang gesetzt.

Bei Erich Ackermann, einem einsamen Menschen, löst die Begeg­nung geradezu einen Sturm aus. Schon beim ersten Anblick des jungen­haften Kellners ist er über­wältigt und berauscht, so dass er sich kaum mehr auf seinen Lesetext konzen­trieren kann. Er hat seine homo­erotische Neigung nie gelebt, aber jetzt würde er den attrak­tiven Maurice gern ständig in seiner Nähe haben. Er bietet ihm an, ihn als bezahlter Assistent auf seiner Lesereise zu begleiten.

Maurice’ interessierte Neugier vertieft Erichs Vertrauen und löst schließ­lich sogar seine Zunge, die er hinsicht­lich seiner Jugend in Nazi-Deutsch­land aus gutem Grund seit Jahren im Zaum gehalten hat. Daher weiß niemand von Erichs damaliger Zufalls­bekannt­schaft, dem Juden Oskar, Kellner wie Maurice. Der junge Mann malte gerne, insbe­sondere erotische Bilder seiner Freundin, was bei Erich rasende Qualen der Eifer­sucht auslöste. Als Oskar ihm anver­traute, mit der Frau ins sichere Ausland fliehen zu wollen, denun­zierte ihn sein vermeint­licher Freund bei der Gestapo.

Maurice saugt die atemberaubende Liebes­geschichte nicht nur begierig auf, sondern verleibt sie sich als seinen eigenen Stoff ein. Dass er während der Reise längst Kontakte zu einem Verleger geschlos­sen hat, erleich­tert seinen Aufstieg. Der Roman »Zwei Deutsche«, eine fiktio­nale Geschichte mit wahrem Kern über den Tod brin­genden Verrat eines versto­ßenen jungen Liebenden, wird zum Best­seller, der bisher unbe­kannte Maurice Swift mit nur 24 Jahren zum berühmten Schrift­steller. Für Erich Ackermann aber wird das Buch zum fatalen Dolchstoß.

Nach großartigen Erfahrungen, wie er sich mit spieleri­scher Leichtig­keit seines Umfelds zu bedienen, Männer und Frauen zu betören vermag, legt der talen­tierte Mister Swift jetzt erst richtig los. Mit der simplen Intention, sich fremde Gedanken­welten anzu­eignen, gründet er eine Literatur­zeit­schrift und bietet Nachwuchs­autoren an, ihre Ideen, Konzepte und Texte zu veröffent­lichen. Die wirklich guten Beiträge lehnt er ab, um sie für sich zu reser­vieren, als Material für einen neuen Roman­erfolg. Dass er, um seine Ziele zu erreichen, sogar über Leichen geht, ist der spannende Handlungs­faden, der sich erst langsam entrollt und bis zum letzten Kapitel trägt, in dem der Hoch­stapler entlarvt wird. Die Geister der Vergan­genheit stehen wieder auf, verlangen Genug­tuung und Abbitte.

Anfangs fällt es etwas schwer, in den Unter­haltungs­roman einzu­steigen, da die dominie­renden Themen des Literatur­betriebs und der Befind­lich­keiten der beiden Männer etwas spröde daher­kommen. Der Funke springt erst über, als Maurice Swift eine Schrift­steller-Kollegin ehelicht und in der Beziehung sein krankhaft ehrgei­ziger Charakter in all seiner hinter­listigen Durch­trieben­heit offenbar wird. Jetzt will man einfach wissen, wie weit er wohl noch gehen wird. Wann fliegt der Betrug endlich auf?

John Boyne, 1971 in Dublin geboren, wurde durch einen Jugend­roman weltweit bekannt. »The Boy in the Striped Pyjamas« (2006, sein Opus 5) wurde in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt und verfilmt (»Der Junge im gestreif­ten Pyjama«). Weitere Werke und Auszeich­nungen folgten. »A Ladder to the Sky« (2018, op. 19) wurde von Maria Hum­mitzsch und Michael Schicken­berg übersetzt und erweist seinen Autor erneut als empfeh­lenswer­ten Literaten. Die Kern­handlung mit ihrem ungewöhn­lichen Plot umfasst die Jahre 1988 bis 2013, die Kapitel und zwei einge­schobene Zwischen­spiele erzählen sie aus unterschied­lichen Perspek­tiven und Innen­ansichten, kreisen aber stets um Maurice und seinen Narziss­mus in all seinen Aus­wüchsen. Der Roman ist konse­quent und stimmig konstru­iert, die eloquente Sprache eingängig. Man hat die über vier­hundert Seiten dieser »Geschichte eines Lügners« schnell gelesen. Ob sie Quali­täten hat, die einen »Prize« verdienen, wage ich aller­dings zu bezweifeln.


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