Die Geschichte eines Lügners
von John Boyne
Ein ambitionierter junger Schriftsteller, dem es an eigener literarischer Kraft mangelt, saugt Ideen und Talent aus seinen Kollegen und feiert damit Erfolge.
Der Aussauger
Maurice Swift fühlt sich zu Höherem geboren. Er ist jung, attraktiv und gewandt, hält sich für unwiderstehlich, und auch seine dunklen Seiten sind ihm keineswegs verborgen: Er ist skrupellos, hinterlistig, bösartig. Kurzum: ein Narzisst, wie er im Buche steht. Leider ist ihm aber der gebührende Erfolg im Leben noch versagt geblieben. Der Zwanzigjährige muss sein Geld mit einer banalen, besonders devoten Tätigkeit verdienen – er kellnert in einem Hotel. Immerhin ist es nicht irgendeines, sondern das Savoy in Westberlin (die Mauer ist noch nicht gefallen).
Was Maurice vorschwebt, ist ein recht eigenwilliges Ziel. Ausgerechnet als Literat will er berühmt werden. Leider klaffen Wunsch und Wirklichkeit, Traum und Talent bei ihm besonders weit auseinander. Da ist noch nichts, was er als wegweisend präsentieren könnte.
Dann befeuert eine Prise Zufall seinen Start in die Welt der Schriftstellerei. An der Hotelbar sitzt Erich Ackermann bei einem Glas edlen Weines und bereitet sich auf eine Lesung aus seinem Roman vor, der soeben mit einem »Prize« (womöglich dem Booker Prize?) ausgezeichnet wurde. Der Sechsundsechzigjährige ist eine Berühmtheit. Er wurde in Berlin geboren, wuchs während des Nationalsozialismus dort auf, verließ nach dem Krieg sein Vaterland, studierte englische Literatur in Cambridge und lehrte später selber an der renommierten Universität. Jetzt hat der angesehene Autor ein Sabbatical angetreten, um auf Lesereise durch Europa zu gehen. Berlin soll den Anfang machen.
Dem Angestellten im Savoy ist all dies bestens bekannt, und er ergreift seine Chance beherzt. Kurz nach Dienstschluss stellt er sich Ackermann als großer Bewunderer vor, sie verabreden sich zu einem Drink, werden rasch Freunde und gehen zum »Du« über. Maurice traut sich, seinen geheimen Wunsch zu äußern und erwähnt seine Schreibversuche. Das raffinierte Räderwerk ist in Gang gesetzt.
Bei Erich Ackermann, einem einsamen Menschen, löst die Begegnung geradezu einen Sturm aus. Schon beim ersten Anblick des jungenhaften Kellners ist er überwältigt und berauscht, so dass er sich kaum mehr auf seinen Lesetext konzentrieren kann. Er hat seine homoerotische Neigung nie gelebt, aber jetzt würde er den attraktiven Maurice gern ständig in seiner Nähe haben. Er bietet ihm an, ihn als bezahlter Assistent auf seiner Lesereise zu begleiten.
Maurice’ interessierte Neugier vertieft Erichs Vertrauen und löst schließlich sogar seine Zunge, die er hinsichtlich seiner Jugend in Nazi-Deutschland aus gutem Grund seit Jahren im Zaum gehalten hat. Daher weiß niemand von Erichs damaliger Zufallsbekanntschaft, dem Juden Oskar, Kellner wie Maurice. Der junge Mann malte gerne, insbesondere erotische Bilder seiner Freundin, was bei Erich rasende Qualen der Eifersucht auslöste. Als Oskar ihm anvertraute, mit der Frau ins sichere Ausland fliehen zu wollen, denunzierte ihn sein vermeintlicher Freund bei der Gestapo.
Maurice saugt die atemberaubende Liebesgeschichte nicht nur begierig auf, sondern verleibt sie sich als seinen eigenen Stoff ein. Dass er während der Reise längst Kontakte zu einem Verleger geschlossen hat, erleichtert seinen Aufstieg. Der Roman »Zwei Deutsche«, eine fiktionale Geschichte mit wahrem Kern über den Tod bringenden Verrat eines verstoßenen jungen Liebenden, wird zum Bestseller, der bisher unbekannte Maurice Swift mit nur 24 Jahren zum berühmten Schriftsteller. Für Erich Ackermann aber wird das Buch zum fatalen Dolchstoß.
Nach großartigen Erfahrungen, wie er sich mit spielerischer Leichtigkeit seines Umfelds zu bedienen, Männer und Frauen zu betören vermag, legt der talentierte Mister Swift jetzt erst richtig los. Mit der simplen Intention, sich fremde Gedankenwelten anzueignen, gründet er eine Literaturzeitschrift und bietet Nachwuchsautoren an, ihre Ideen, Konzepte und Texte zu veröffentlichen. Die wirklich guten Beiträge lehnt er ab, um sie für sich zu reservieren, als Material für einen neuen Romanerfolg. Dass er, um seine Ziele zu erreichen, sogar über Leichen geht, ist der spannende Handlungsfaden, der sich erst langsam entrollt und bis zum letzten Kapitel trägt, in dem der Hochstapler entlarvt wird. Die Geister der Vergangenheit stehen wieder auf, verlangen Genugtuung und Abbitte.
Anfangs fällt es etwas schwer, in den Unterhaltungsroman einzusteigen, da die dominierenden Themen des Literaturbetriebs und der Befindlichkeiten der beiden Männer etwas spröde daherkommen. Der Funke springt erst über, als Maurice Swift eine Schriftsteller-Kollegin ehelicht und in der Beziehung sein krankhaft ehrgeiziger Charakter in all seiner hinterlistigen Durchtriebenheit offenbar wird. Jetzt will man einfach wissen, wie weit er wohl noch gehen wird. Wann fliegt der Betrug endlich auf?
John Boyne, 1971 in Dublin geboren, wurde durch einen Jugendroman weltweit bekannt. »The Boy in the Striped Pyjamas« (2006, sein Opus 5) wurde in mehr als fünfzig Sprachen übersetzt und verfilmt (»Der Junge im gestreiften Pyjama«). Weitere Werke und Auszeichnungen folgten. »A Ladder to the Sky« (2018, op. 19) wurde von Maria Hummitzsch und Michael Schickenberg übersetzt und erweist seinen Autor erneut als empfehlenswerten Literaten. Die Kernhandlung mit ihrem ungewöhnlichen Plot umfasst die Jahre 1988 bis 2013, die Kapitel und zwei eingeschobene Zwischenspiele erzählen sie aus unterschiedlichen Perspektiven und Innenansichten, kreisen aber stets um Maurice und seinen Narzissmus in all seinen Auswüchsen. Der Roman ist konsequent und stimmig konstruiert, die eloquente Sprache eingängig. Man hat die über vierhundert Seiten dieser »Geschichte eines Lügners« schnell gelesen. Ob sie Qualitäten hat, die einen »Prize« verdienen, wage ich allerdings zu bezweifeln.