Glück und Glas
Der Schweizer Autor Joël Dicker meldet sich zurück. Nach seinem erfolgreichen Bestseller-Debüt »Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert« ist jetzt der Nachfolger auf Deutsch erschienen. Im Mittelpunkt der »Geschichte der Baltimores« steht erneut der Schriftsteller Marcus Goldman, der sich dieses Mal aber der eigenen Familienhistorie annimmt. Denn »die Baltimores« sind tatsächlich der strahlendere, glücklichere Zweig der Goldman-Familie, der im neuenglischen Baltimore, Maryland, erblühte, während »die Montclairs«, also die Goldmans aus dem unglamourösen Provinzstädtchen Montclair, New Jersey, als Inbegriff des Versagens und der Schuld gelten. Dies ist jedenfalls die schlichte Weltsicht, die Marcus' Großeltern kultivieren.
Ursprünglich gab es nur eine Familie Goldman, und es war die angesehenste der Gegend. Großvater Max Goldman betrieb eine florierende Firma für medizinischen Bedarf und legte damit den Grundstock des Wohlstands seiner Familie. Die Söhne Saul und Nathan sollten im Verlauf der Sechziger und Siebziger Jahre das Unternehmen fortführen. Beide schaffen sich eigene solide Grundlagen: Nathan studiert Ingenieurwissenschaften, steigt als Direktor in die Firma ein, heiratet und bekommt einen Sohn, Marcus. Saul wird (entgegen dem Wunsch des Vaters) Jurist, heiratet Anita und bekommt ebenfalls einen Sohn, Hillel. Doch dann eskaliert ein Streit zu einem radikalen Bruch zwischen Saul und dem stolzen Patriarchen Max. Obwohl die Familien einige Jahre später wieder zusammenfinden, haben sich ihre Wege zwischenzeitlich in jeder Beziehung weit voneinander entfernt.
In den Neunzigerjahren wohnen die Großeltern in einer kleinen Wohnung in Miami, Saul mit Hillel in Baltimore und Nathan mit Marcus in Montclair. Es ist die Zeit, in der Marcus zwischen den beiden Goldman-Zweigen pendelt, die lebende Verbindung bildet, was ihn später in die Lage versetzt, zum Chronisten der breit angelegten, ereignisreichen Familiensaga zu werden. Schon früh hat er gelernt, dass er nicht mit goldenen Löffeln im Mund geboren wurde. Seine Mutter verdient als Verkäuferin in einem Modegeschäft ein wenig dazu, die Familie fährt einen mickrigen Honda. In den Ferien, an langen Wochenenden und an Feiertagen aber lernt der Junge die andere Seite kennen. Bei den »Baltimores« verbringt er die »schönste Zeit der Kindheit und Jugend«.
Die »Baltimores« – das sind Wesen einer anderen Dimension, »Lieblinge der Götter« im gleißenden Licht allumfassenden Glücks, von Erfolg und Reichtum gekrönt, von den Großeltern hochgeschätzt und unverblümt bevorzugt. Onkel Saul, Staranwalt, engagiert sich auch für sozial Schwächere, Tante Anita ist Ärztin, Cousin Hillel besucht eine Privatschule. Sie wohnen in Oak Park, wo alles größer, schöner, »glücklicher, erfüllter, ehrgeiziger« ist und selbst die sonntäglichen Jogger »athletischer« dahertraben. Wenn Saul in seiner Chauffeur gesteuerten Luxuslimousine aus seiner Kanzlei heimkehrt, versichern ihn die kaum wahrnehmbaren Handzeichen zwischen dem Sicherheitsbediensteten und ihm, dass er hierher gehört, in eine Welt des und der Erlesenen, abgeschottet gegen jegliche Unbill, wo Dienstboten alle lästigen Aufgaben im und am luxuriösen, monumentalen Haus übernehmen.
Der junge Besucher aus der Montclair-Gegenwelt wird hier vollständig absorbiert. Schon während der Zugfahrt tauscht er seinen engen »Montclair-Anzug« gegen edles »Baltimore-Tuch«. Onkel und Tante verwöhnen ihn großzügig, Cousin Hillel und er verstehen sich wie Brüder. Kürzlich hat die Familie einen Jungen aufgenommen, der Saul in einem Heim für schwer Erziehbare aufgefallen war. Woodrow Finn (»Woody«), etwa gleichaltrig wie die Cousins, stammt aus einer zerrütteten Familie. Obwohl er wiederholt wegen kleiner Delikte, zu denen andere ihn angestiftet haben, von der Polizei aufgegriffen wurde, steckt in ihm ein guter Kern. Ohne Wenn und Aber ist Woody als »Baltimore« integriert und lebt als solcher standesgemäß in Saus und Braus.
Hillel, Woody und Marcus entwickeln sich zu einer unzertrennlichen, brüderlichen »Dreifaltigkeit«. Die »allerbesten Freunde« geloben einander, ihr Blut vermischend, immerwährende Treue. Als sie fünfzehn Jahre alt sind, nehmen sie die neu hinzugezogene siebzehnjährige Alexandra Neville in ihren Bund auf. Wie kaum anders zu erwarten, finden Marcus und das Mädchen bald zueinander, denn beide sind Künstlernaturen. Später folgen beide ihren Erfolgsspuren: Während die Songwriterin von Millionen Fans angehimmelt wird, avanciert Marcus zum »aufstrebenden Stern am amerikanischen Literaturhimmel«.
Auch Sportskanone Woody öffnet sich eine glänzende Karriere. Der Highschool-Trainer entdeckt sein Ausnahmetalent, Woody trainiert hart und ehrgeizig, Hillel coacht ihn. Doch kurz vor Unterzeichnung eines millionenschweren Profivertrages in der National Football League fliegt er wegen Dopings auf. Woody beharrt auf seiner Unschuld, vermutet eine Verschwörung, stürzt ab, will nicht mehr bei den »Baltimores« leben. Die Dramatik nimmt Fahrt auf, stürzt einer brodelnden Katastrophe entgegen, die sich schließlich in einer melodramatischen Szene entlädt.
Marcus Goldmans Roman ist die Einlösung eines Versprechens an seinen geliebten Onkel Saul, eine Art Denkmal für seine Cousins, die Goldman-Jungs, und eine Abbitte für seine eigenen schuldhaften Verstrickungen. Dank seiner ausgefuchsten Struktur kann man das Buch nur schwer zur Seite legen. Das Familienepos wird in Rückblenden aufbereitet, unterbrochen von dem Handlungsstrang um die Beziehung zwischen dem Erzähler und Alexandra, Jugendfreundin, Geliebte und Superstar. Diese Einschübe und jede Menge Brüche im Handlungsverlauf sorgen dafür, dass wir immer dann, wenn die Spannung ihren Höhepunkt erreicht, innehalten und uns gedulden müssen – die Fortsetzung folgt an anderer Stelle.
Obendrein kündigt bereits der Prolog eine verhängnisvolle Entwicklung an, ein Unheil, das über fünfhundert Seiten hin alles erzählte Glück wie eine dunkle, sich zu einem Gewitter auftürmende Wolke überschattet. So verfällt man den »Baltimores« regelrecht, erwartet die angekündigte Katastrophe, wann und aus welchem Grunde die »Lieblinge der Götter« wohl aus dem Paradies verstoßen werden. Auch dem Protagonisten bleibt manches Geheimnis über Jahre verborgen, manches Ereignis rätselhaft, bis er erst am Ende (im Jahr 2012) alle Zusammenhänge erfassen wird.
»Le Livre de Baltimore« (übersetzt von Brigitte Große) ist aber kein Krimi, sondern ein emotionsgeladener Unterhaltungsroman voller schicksalhafter Wendungen. Vertrauensvolle Freundschaft, Suche nach Anerkennung, Erfolgs- und Gewinnstreben, Rivalität, Eifersucht und Neid sind starke Triebkräfte für großes Kino. Und Dicker lässt seine Tinte oft ziemlich dick auslaufen. Damit alles schön deutlich wird, gibt es nur schwarz oder weiß, oben oder unten, konträre Extremformen in allen Lebenslagen. Ein paar Zwischentöne, etwas Differenzierung hätten der Realitätsnähe gut getan und dem Buch etwas mehr Tiefgang verschafft.