Neun Kreise des Grauens
Dunkler kann ein Buchumschlag kaum gestaltet sein als der des neuesten Romans der Bestsellerautorin Jodi Picoult. Im unteren Drittel sehen wir schräg von hinten die Silhouette des Kopfes eines ernsten jungen Mädchens; ihre goldbraunen langen Haare wehen im leichten Wind und sind der einzige Lichtblick. Die flache Landschaft vor ihr, über die hinweg sie zum Horizont schaut, ist fast schwarz; über dem Horizont türmen sich finster dräuende Gewitterwolken. Verweist der Buchtitel "Schuldig" auf eine Schuld des Mädchens, oder ist sie auf der Suche nach einem schuldig Gewordenen?
Da ist der englische Titel der Originalfassung von 2006 – "The Tenth Circle" – in seiner Bildlichkeit inspirativer. In der Tat bezieht er sich auf einen •fiktiven) Roman in Comicform, geschaffen von dem Protagonisten von "Schuldig", dem Zeichner Daniel Stone. Etliche Sequenzen grausamer, aggressionsgeladener Horrorzeichnungen aus diesem Roman im Roman hat Picoult in ihr Buch eingebunden. Der Plot des Comics ist, wie sich der Held durch neun Kreise des Grauens kämpft, um seine Tochter aus den Klauen Luzifers, der einstmals aus dem Paradies in das Zentrum der Hölle vertrieben wurde, zu retten.
Daniel Stone war in der Eishölle Alaskas mitten unter den Eskimos aufgewachsen, wo seine Mutter als Lehrerin arbeitete. In der Gemeinschaft der Einheimischen wurde er als Weißer allerdings nie akzeptiert; sein einziger Freund war Cane, ein "Yupik". Als Daniel 18 Jahre alt ist, erschießt sich Cane mit einem Gewehr in der Turnhalle der Schule, und Daniel, der ihn findet, gerät unter Mordverdacht. Fluchtartig verlässt er Alaska. Doch zeitlebens verfolgen Daniel die furchtbaren Jahre in der mystischen Welt der Eskimos, die an Geister, Wiedergeburt, Verwandlung von Tier zu Mensch und umgekehrt glauben, und der für ihn unverständlich grausame Tod des einzigen Freundes. Einzig in seinen Zeichnungen findet er eine Möglichkeit, seinen Emotionen Ausdruck zu verleihen, Ruhe zu finden, und sie bringen ihm auch Erfolg.
Jetzt ist er mit Laura, einer Professorin, verheiratet. Sie haben eine gemeinsame Tochter, Trixie, der seine ganze Aufmerksamkeit und Fürsorge gilt.
Lauras Spezialgebiet sind die Werke von Dante Alighieri •1265-1321), insbesondere sein Versepos "Die Göttliche Komödie": Darin schildert der Ich-Erzähler seine weite Reise zuerst durch das – in neun Höllenkreise unterteilte – Inferno, dann durch das Purgatorium, in dem die Seelen noch auf Vergebung für ihre Sünden hoffen dürfen, ehe er schließlich nach weiteren Stationen in das himmlische Paradies gelangt, welches ebenfalls in neun Himmelssphären unterteilt ist.
Wie nah sie selber – Laura, Daniel und Trixie – der Hölle auf Erden sind und welche Kreise sie durchlaufen müssen, um ihre Tochter am Ende zu retten, ist der eigentliche Gegenstand von Jodi Picoults Roman, und es geht dabei um Fragen von Schuld, Sühne und Vergebung. Plot, Themen und literarische Motive bilden ein dichtes Geflecht.
Die erst vierzehnjährige Trixie ist mit dem begehrten, gut aussehenden Eishockeyspieler Jason, einem Star ihrer Highschool, befreundet. Als er nach kurzer Zeit wieder Schluss mit ihr macht, bricht für Trixie eine Welt zusammen. Freundin Zephyr organisiert eine abendliche Party, in deren Verlauf Trixie Jason mit heißen Sexspielen eifersüchtig machen soll. Beim Strip-Poker steht Trixie schließlich ohne BH im Raum.
In der Frühe kehrt Trixie völlig aufgelöst nach Hause und berichtet sofort haarklein, was geschehen war und wie: Jason habe sie vergewaltigt. Das Karussell setzt sich in Bewegung: Krankenhaus, Polizeiverhöre, psychiatrische Begleitung, Mobbing in der Schule, und Zephyr unterstellt Trixie, sie wolle Jason fertig machen ... Trixie weiß sich aus ihrem Loch nicht mehr zu befreien, ritzt sich erst ihre Arme, schneidet sich dann die Pulsadern auf. Laura findet sie, so dass man Trixie retten kann. Doch wie geht es Jason? Er erhält strenge Auflagen vom Jugendgericht. Gegen die Vorwürfe, Trixie vergewaltigt zu haben, wehrt er sich, denn sie sei mit den Intimitäten einverstanden gewesen.
Beständig dreht und wendet sich das Blatt: Wer lügt hier, wer sagt die Wahrheit? Die Gefühle jedes einzelnen sind aufs Tiefste verletzt, die Emotionen schlagen hoch. Der, der sich im Recht glaubt, aber beschuldigt wird, muss verzweifeln. Natürlich glaubt Daniel nur seiner Tochter, "denn nichts ist leichter als Selbstbetrug" •Diese Weisheit stammt übrigens von einem Redner, dessen Namen der Leser als Rätsel in Daniels Comics versteckt findet.). Daniel kann sich nicht vorstellen, dass sein kleines Mädchen schon längst sexuelle Erfahrungen hatte, sich bewusst aufreizend kleidete. Und da auch die Polizei Trixie schon lange nicht mehr für glaubwürdig hält, ist die Konfrontation zwischen Daniel und Jason nicht aufzuhalten. Es kommt zu einer Schlägerei, und Jason springt von einer Brücke. War es Selbstmord – oder hat ihn jemand gestoßen?
Der ohnehin schon sehr vielschichtige, düster-psychologische Roman erhält nun zusätzlich den Charakter eines Krimis. Die Polizei ist intensiv gefordert, den Aussagen stehen klare Beweise und DNA-Analysen gegenüber.
"Schuldig" beschreibt eine furchtbare Familientragödie. Die Vergewaltigung eines jungen Mädchens mit den darauf folgenden demütigenden Untersuchungen und Befragungen lenkt den Leser und sein Mitgefühl auf die Betroffene. Doch für mich ist eigentlich Daniel, der den starken, schützenden Vater gibt, die leidgeprüfteste Figur. Mit dem Tod Jasons und dem im Raum stehenden Verdacht gegen einen Unschuldigen wiederholt sich seine eigene Geschichte, und obendrein muss er noch verkraften, dass Laura eine Affäre mit einem Studenten hatte ...
"Schuldig" ist ein lesenswertes Buch, zeigt die Autorin doch, wie vielschichtig Fragen nach Schuld beantwortet werden müssen. Ist ein Mörder gefasst, so wird er juristisch schuldig gesprochen, die Tat wird gesühnt. Doch für die Leiden Trixies, Daniels und so vieler anderer, die seelische Höllenqualen leiden, kann niemand schuldig gesprochen werden. Sie sind Opfer ihrer Lebensumstände geworden.