Elefantenliebe
Jenna Metcalf war drei Jahre alt, als ihre Mutter Alice sie verließ. Nie konnte sie verstehen warum. Ihre ersten frühkindlichen Erinnerungen – ein zarter Kuss auf der Stirn, ein hingehauchtes »Liebling« – lassen keinerlei Vorzeichen erahnen. Mit dreizehn hat der Verlustschmerz überhandgenommen. Das Mädchen begibt sich auf die Suche nach den Spuren der Mutter und ihrem Verbleib.
Material bietet sich Jenna genug. Sie hat nicht nur Alices Notizbücher, sondern auch jede Menge Zeitungsartikel, Webseiten und Forschungsarbeiten zur Verfügung. Denn Alice war eine bekannte Neurobiologin. Sie hatte in Botswana das Verhalten von frei lebenden Elefanten studiert und speziell ihre kognitiven Fähigkeiten untersucht. Dann verliebte sie sich in den Verhaltensforscher Thomas Metcalf, der in New Hampshire ein Schutzreservat für ehemalige Zoo- und Zirkuselefanten leitete. Sie gab ihre Forschungen in freier Wildbahn auf, um nun das empathische Trauerverhalten der afrikanischen und asiatischen Elefanten im Reservat des »New England Elephant Sanctuary« zu beobachten. Tochter Jenna wird geboren, doch Thomas zermürben die gravierenden Sorgen um die Finanzierung seines Projekts und den Erfolg seiner Zuchtbemühungen.
Ein schrecklicher, rätselhafter Zwischenfall zerstört drei Jahre später die junge Familie. Im Gehege liegt der leblose Körper einer Tierpflegerin, die offenkundig von einem Elefanten niedergetrampelt wurde. Etwa eine Meile entfernt findet man Alice Metcalf blutüberströmt und bewusstlos. Sie wird ins Krankenhaus gebracht und verschwindet noch in der Nacht spurlos. Die Polizei kann keinerlei weitere Erkenntnisse über die beiden Hergänge zutage fördern, ordnet den Todesfall als »Unfall« ein und schließt die Akten.
Thomas Metcalf ist am Ende. Er versinkt dauerhaft in seiner eigenen Gedankenwelt und endet in einer psychiatrischen Einrichtung. Die Großmutter nimmt das elternlose Kleinkind bei sich auf und zieht es groß. Doch die Umstände von Alices Verschwinden sind für alle Zeiten ein Tabuthema, das Großmutter in Rage bringt, sobald Jenna es anzuschneiden versucht.
Was das Mädchen besonders bedrückt, je mehr es sich in die Forschungsergebnisse seiner Mutter einarbeitet, ist die Diskrepanz zwischen der ausgeprägt starken Bindung zum Nachwuchs, die Alice bei Elefantenmüttern beobachtet und bewundert, und ihrer Haltung dem eigenen Kind gegenüber. Wenn ein Kalb stirbt, trauert die Elefantenkuh tagelang, lässt den Leichnam nicht allein, umkreist ihn, deckt ihn mit Zweigen zu. Es fällt Jenna schwer zu verstehen, dass ihre Mutter nicht so viel mütterliche Fürsorge aufgebracht, sondern ihre geliebte Tochter allein zurückgelassen haben sollte. Zu ergründen, dass sie vielleicht in einer Notlage so zu handeln gezwungen war, könnte sie eher akzeptieren, als sich weiterhin vernachlässigt und hintangestellt fühlen zu müssen.
In Jodi Picoults spannendem Roman »Leaving Time« (von Elfriede Peschel übersetzt) erzählen vier Protagonisten (jeweils in der Ich-Form) abwechselnd und in der Chronologie vor- und zurückspringend ihre Kapitel. Jenna schaut auf ihre Kindheit zurück und berichtet von ihren Recherchen; Alice erzählt von ihren erfüllenden Forschungen in Afrika und ihrer problemreichen Zeit mit Thomas und Jenna in New Hampshire; außerdem kommen zwei Personen zu Wort, denen Jenna begegnet und die sie einspannt, um ihr bei der Spurensuche mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Beide sind im Leben abgestürzt und erhalten jetzt so etwas wie eine zweite Chance. Mit Virgil Stanhope nimmt Jenna einen Profi ins Team. Er brachte damals die bewusstlose Alice Metcalf ins Krankenhaus und ermittelte als Polizist im Fall der getöteten Tierpflegerin. Jetzt arbeitet er als Privatdetektiv. Mit der hoffnungslos unfähigen Hellseherin Serenity Jones, die ihrer übersinnlichen Kräfte selbst nicht so ganz sicher ist, kommt hingegen ein irrationales Element ins Spiel, das durch parapsychologische, übersinnliche Ereignisse im weiteren Verlauf der Handlung gestärkt wird. Obwohl mir derlei äußerst suspekt ist, bekommt das Konzept in der Rückschau eine gewisse Legitimation.
Denn mit Jenna und ihren beiden Assistenten tauchen wir immer tiefer in eine komplexe Geschichte ein, spielen diverse mögliche Szenarien durch, die zur Katastrophe hätten führen können, und stellen uns darauf ein, dass sich alle am Ende mit brutalen Wahrheiten auseinandersetzen müssen. Doch nichts ist so, wie es scheint. Dieser Roman endet mit einer derart unerwarteten Wendung, dass man sprachlos, schockiert und mit ungläubigem Staunen zurückbleibt.
Das argloseste Wesen in diesem Roman ist sicherlich der Elefant, der gutmütige, edle, faszinierende Riese. In Alices Kapiteln erfahren wir auf unterhaltsame Weise viel über seine beeindruckende Intelligenz und den stabilisierenden Zusammenhalt in der Herde. Es scheint, dass er Wut, Trauer, Zu-, Abneigung und Schmerz empfinden kann und den Wert der Treue schätzt. Die Parallelen zwischen den Dickhäutern und dem Menschen werden deutlich herausgestellt. Umso schlimmer, wie übel der Mensch diesem Tier mitspielt. Die Autorin erspart uns nicht die grausame Realität. Teils unfassbar traurige Episoden erzählen von leidenden, qualvoll sterbenden Elefanten.
Die menschliche Hauptperson ist Jenna, ein vor der Zeit gereifter, selbstsicherer Teenager, vorwitzig und lebensklug, wie man ihn in der Realität kaum antreffen wird. Ihr Erzählstil ist frisch und amüsant, aber ihre Denkweise zu souverän, zu abgeklärt. Die Dreizehnjährige dirigiert die Erwachsenen ein bisschen zu überheblich und oft empathielos. Bevor sie Virgil Stanhope engagiert (»Wir sollten das bei einem Kaffee besprechen.«), hat sie ihn schon im Griff: »Sie hätten versuchen sollen, [die verschwundene Alice Metcalf] zu finden. Und das haben Sie nicht getan. Sie sind mir jetzt also was schuldig.« Was ist davon zu halten, dass ein so junges Mädchen mutterseelenallein und ohne Ticket einen Bus besteigt und 1600 Kilometer weit zu einem Elefantenreservat fährt, wo die Tiere ihres Vaters nach der Schließung seines Sanctuary untergebracht wurden? Obendrein lässt sie ihre fürsorgliche Großmutter ohne jede Kontaktmöglichkeit zurück. Zwar hat sie »ihr einen Zettel hinterlegt, aber absichtlich mein Mobiltelefon ausgeschaltet, weil ich ihre Reaktion eigentlich gar nicht hören möchte, wenn sie ihn findet.« Dafür, so schwant es ihr, wird es »mit Sicherheit Hausarrest geben, bis ich ... sechzig bin.«
So viel sei verraten: Es kommt viel schlimmer.