Rezension zu »Niemals ohne sie« von Jocelyne Saucier

Niemals ohne sie

von


Ein tragisches Ereignis reißt eine chaotisch-turbulente kanadische Großfamilie mit 21 Kindern auseinander. Dreißig Jahre später kommt die Wahrheit ans Licht.
Familienroman · Insel · · 255 S. · ISBN 9783458178002
Sprache: de · Herkunft: ca

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Nur zusammen sind wir stark

Rezension vom 26.07.2019 · 4 x als hilfreich bewertet · noch unkommentiert

Albert Cardinal ist ein Sonderling. Er ist besessen von Mineralien und Steinen und den Schätzen, die sie ihm verheißen. 1944 entdeckt er in Norcoville (einem fiktiven Ort in Westkanada) ein riesiges Zink­vorkom­men. Fest ent­schlos­sen, das große Geld zu machen, kauft er für die Seinen ein Haus. Es umfasst vier Wohnungen, die er zu einer vereint, indem er die Zwischen­wände heraus­bricht. Denn es soll kein alltägli­ches Vater-Mutter-Kind-Grüppchen beherbergen. In den vier Wohn- und vier Badezimmern tummelt sich eine lebhafte Kinderschar, die nach ihrer Kom­plettie­rung durch Matz, den Jüngsten, in den Sechziger­jahren ein­undzwan­zig Köpfe umfasst.

Im Alltag der Kinder herrscht reine Anarchie. Alle tragen einen charak­teristi­schen Spitznamen – Zorro, Nofretete, Fakir, Mahatma, Tootsie … –, während ihre eigent­lichen Namen relativ bedeu­tungs­los sind und nur ab und zu Verwendung finden. Alles gehört allen – »nichts, rein gar nichts, nicht einmal ein Schlafplatz« war als per­sönli­cher Besitz anerkannt, alles musste ständig erstritten, verteidigt, erobert werden. Man prügelt sich um die besten Sitzplätze auf den ver­schlis­senen Sofas, um Leit­wolfposi­tionen oder nur zum Zeitver­treib, aber der Liebe unter­einan­der tut all das keinen Abbruch. Jedes einzelne Kind gewinnt damit große Selbst­sicher­heit und teilt das kollektive Über­legenheits­gefühl, das sich im Umgang mit den Siedler­kindern der Umgebung manifes­tiert: nichts als Verachtung für die törichten, hinter­wäldleri­schen, knechti­schen »Landeier«, an denen sie sich belustigen.

Im Chaos dieser Kinderschar hat die Mutter ihre eigene Persönlich­keit abge­schlif­fen. Von früh bis spät rackert sie sich ab, »von der Zeit geknechtet«, »getrieben von Dring­lich­keiten«, ständig in Bewegung zwischen ihren Arbeiten in vier Küchen und sonstwo im Haus. Dabei murmelt sie unentwegt vor sich hin »wie eine Erleuchtete«, versunken in ihre Rezepte, Planungen, Gedanken, während­dessen sie bisweilen ihre Kinder verwechselt und vergisst, was sie gerade gehört oder selbst gesagt hat. Ruhe schenkt ihr nur alle Drei­viertel­jahre die kurze Phase einer weiteren Entbindung, für die sie sich ein Weilchen in ihr Schlaf­zimmer zurückzieht wie andere Leute für ein Nickerchen. Unter­stüt­zung erhält sie von Jeanne d’Arc, ihrer ältesten Tochter, die ihr mit der Zeit die meisten erzieheri­schen und pflegenden Aufgaben abnimmt. Stolz erwähnt sie ihr gegenüber einmal: »Ich habe kein einziges Kind verloren.« Wäre ihr das jemals geschehen, wäre es ihr ein Albtraum aus der Hölle gewesen.

Dieser ergreifende Roman einer außergewöhnlichen Familie lässt den Leser bis zum frappie­renden Ende nicht mehr los. Sind es zunächst die schier unglaub­lichen Szenen aus dem irrwitzigen Alltag dieses Ameisen­haufens aus Charakter­köpfen, die uns lachen, weinen und wundern lassen, so fasziniert uns, wenn wir uns an die Familie Cardinal einiger­maßen gewöhnt haben, die weitere Entwicklung der schick­sal­haften Handlung, die die untrennbar verschworen scheinende Gemein­schaft mit einem Schlag in alle Winde verstreut. Jahrzehnte später bringt eine Zu­sammen­kunft erschüt­ternde Geheimnisse an den Tag.

Albert Cardinal überlässt seine Fundstätte einer Bergbau­gesell­schaft zur Ausbeutung und erhält dafür Aktien. Leider verzocken die Manager im anfäng­lichen Hype des Weltmarkts ihr Kapital gründlich. Nachdem die Zinkpreise ins Bodenlose gesunken sind, schließt die Mine 1957. Die meisten Familien verlassen jetzt Norco, einige mit Gewinn, andere mit herben Verlusten, aber die Cardinals bleiben, jetzt wieder die »Kings« des zurück­gelasse­nen Terrains. Den Mann, der den Bodenschatz aufgespürt hatte, bemitleiden die Leute als armen Spinner, weil er sich als unfähig erwiesen hat, etwas aus seinem Glücksfund zu machen, und »arm wie eine Kirchenmaus« blieb. In der Tat steht Albert Cardinal mit seinem gesamten un­verkauf­ten und un­verkäuf­lichen Aktienpaket finanziell wieder bei Null. Von der Bergbau­gesell­schaft fühlt er sich über den Tisch gezogen. Ausge­rechnet ihm hatte man niemals einen gut bezahlten Arbeits­platz angeboten. Aber letztlich kratzt ihn das alles nicht, denn jetzt hat er seine Mine wieder zurück für sich allein, und er ist sicher, dass er hier irgendwann auf eine wertvolle Goldader stoßen wird. Der Ort verfällt, die Natur erobert ihn zurück. In den verlassenen Häusern toben sich die Kinder wie die Vandalen zerstörend und brand­schat­zend aus.

Mit Matz’ siebtem Geburtstag hat alles ein jähes Ende. Das ist traditio­nell der Tag für einen väterlichen Initiations­ritus. Die gesamte Familie (außer der Mutter, die keine Zeit für solchen Müßiggang hat) schaut zu, wenn das Geburts­tags­kind zum ersten Mal eine Stange Dynamit zünden darf. Der Vater erteilt Anweisungen, die anderen grölen »zum Geburtstag viel Glück«. Doch es wird das Gegenteil eines »Happy birthday«. Noch am selben Tag zerstreuen sich die Älteren in alle Winde und nehmen ein Geheimnis mit.

Aus gegebenem Anlass ruft Albert Cardinal dreißig Jahre später alle seine Kinder zusammen. Solch ein Familien­treffen war von allen sehnsüchtig erhofft worden – und wird doch eine für alle schwierige Zeit der Auf­arbei­tung.

Nacheinander lässt die Autorin die Ereignisse von sechs der jetzt erwachsenen Kinder erzählen, die sich gemeinsam erinnern wollen. Jedes fügt dem bereits Bekannten neue Details hinzu, was manche indivi­duelle Perspektive revidiert. Wir erfahren, wie das trauma­tische Ereignis den Lebensweg der Hauptak­teure ganz unter­schied­lich beeinflusst hat, wie jeder von ihnen mit seinen Ge­wissens­nöten fertig zu werden versuchte. Auch die inzwischen greisen Eltern, die früher manche Rätsel aufgegeben hatten, rücken ins Schein­werfer­licht: »Vater, ein Phantom seines wahren Ichs, der seine Persön­lich­keit vor uns verbarg«; Mutter, gehetzt und kopflos, stets in panischer Angst, das eine oder andere Kind vergessen zu haben, kennt sie alle »besser als wir selbst. Sie hat uns aus der Wolle ihrer Seele gestrickt, sie kennt uns auf rechts und auf links, sie findet jede verlorene Masche wieder«.

Der Frankokanadierin Jocelyne Saucier ist mit »Les héritiers de la mine« Jocelyne Saucier: »Les héritiers de la mine« bei Amazon , dem zweiten ihrer bislang vier Romane (bereits 2000 erschie­nen, aber erst jetzt von Sonja Finck und Frank Weigand für den Insel-Verlag erstmals ins Deutsche übersetzt), ein inhalt­lich und sprach­lich außer­gewöhn­liches, emotional tief berühren­des und span­nendes Werk gelungen.

Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2019 aufgenommen.


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