Niemals ohne sie
von Jocelyne Saucier
Ein tragisches Ereignis reißt eine chaotisch-turbulente kanadische Großfamilie mit 21 Kindern auseinander. Dreißig Jahre später kommt die Wahrheit ans Licht.
Nur zusammen sind wir stark
Albert Cardinal ist ein Sonderling. Er ist besessen von Mineralien und Steinen und den Schätzen, die sie ihm verheißen. 1944 entdeckt er in Norcoville (einem fiktiven Ort in Westkanada) ein riesiges Zinkvorkommen. Fest entschlossen, das große Geld zu machen, kauft er für die Seinen ein Haus. Es umfasst vier Wohnungen, die er zu einer vereint, indem er die Zwischenwände herausbricht. Denn es soll kein alltägliches Vater-Mutter-Kind-Grüppchen beherbergen. In den vier Wohn- und vier Badezimmern tummelt sich eine lebhafte Kinderschar, die nach ihrer Komplettierung durch Matz, den Jüngsten, in den Sechzigerjahren einundzwanzig Köpfe umfasst.
Im Alltag der Kinder herrscht reine Anarchie. Alle tragen einen charakteristischen Spitznamen – Zorro, Nofretete, Fakir, Mahatma, Tootsie … –, während ihre eigentlichen Namen relativ bedeutungslos sind und nur ab und zu Verwendung finden. Alles gehört allen – »nichts, rein gar nichts, nicht einmal ein Schlafplatz« war als persönlicher Besitz anerkannt, alles musste ständig erstritten, verteidigt, erobert werden. Man prügelt sich um die besten Sitzplätze auf den verschlissenen Sofas, um Leitwolfpositionen oder nur zum Zeitvertreib, aber der Liebe untereinander tut all das keinen Abbruch. Jedes einzelne Kind gewinnt damit große Selbstsicherheit und teilt das kollektive Überlegenheitsgefühl, das sich im Umgang mit den Siedlerkindern der Umgebung manifestiert: nichts als Verachtung für die törichten, hinterwäldlerischen, knechtischen »Landeier«, an denen sie sich belustigen.
Im Chaos dieser Kinderschar hat die Mutter ihre eigene Persönlichkeit abgeschliffen. Von früh bis spät rackert sie sich ab, »von der Zeit geknechtet«, »getrieben von Dringlichkeiten«, ständig in Bewegung zwischen ihren Arbeiten in vier Küchen und sonstwo im Haus. Dabei murmelt sie unentwegt vor sich hin »wie eine Erleuchtete«, versunken in ihre Rezepte, Planungen, Gedanken, währenddessen sie bisweilen ihre Kinder verwechselt und vergisst, was sie gerade gehört oder selbst gesagt hat. Ruhe schenkt ihr nur alle Dreivierteljahre die kurze Phase einer weiteren Entbindung, für die sie sich ein Weilchen in ihr Schlafzimmer zurückzieht wie andere Leute für ein Nickerchen. Unterstützung erhält sie von Jeanne d’Arc, ihrer ältesten Tochter, die ihr mit der Zeit die meisten erzieherischen und pflegenden Aufgaben abnimmt. Stolz erwähnt sie ihr gegenüber einmal: »Ich habe kein einziges Kind verloren.« Wäre ihr das jemals geschehen, wäre es ihr ein Albtraum aus der Hölle gewesen.
Dieser ergreifende Roman einer außergewöhnlichen Familie lässt den Leser bis zum frappierenden Ende nicht mehr los. Sind es zunächst die schier unglaublichen Szenen aus dem irrwitzigen Alltag dieses Ameisenhaufens aus Charakterköpfen, die uns lachen, weinen und wundern lassen, so fasziniert uns, wenn wir uns an die Familie Cardinal einigermaßen gewöhnt haben, die weitere Entwicklung der schicksalhaften Handlung, die die untrennbar verschworen scheinende Gemeinschaft mit einem Schlag in alle Winde verstreut. Jahrzehnte später bringt eine Zusammenkunft erschütternde Geheimnisse an den Tag.
Albert Cardinal überlässt seine Fundstätte einer Bergbaugesellschaft zur Ausbeutung und erhält dafür Aktien. Leider verzocken die Manager im anfänglichen Hype des Weltmarkts ihr Kapital gründlich. Nachdem die Zinkpreise ins Bodenlose gesunken sind, schließt die Mine 1957. Die meisten Familien verlassen jetzt Norco, einige mit Gewinn, andere mit herben Verlusten, aber die Cardinals bleiben, jetzt wieder die »Kings« des zurückgelassenen Terrains. Den Mann, der den Bodenschatz aufgespürt hatte, bemitleiden die Leute als armen Spinner, weil er sich als unfähig erwiesen hat, etwas aus seinem Glücksfund zu machen, und »arm wie eine Kirchenmaus« blieb. In der Tat steht Albert Cardinal mit seinem gesamten unverkauften und unverkäuflichen Aktienpaket finanziell wieder bei Null. Von der Bergbaugesellschaft fühlt er sich über den Tisch gezogen. Ausgerechnet ihm hatte man niemals einen gut bezahlten Arbeitsplatz angeboten. Aber letztlich kratzt ihn das alles nicht, denn jetzt hat er seine Mine wieder zurück für sich allein, und er ist sicher, dass er hier irgendwann auf eine wertvolle Goldader stoßen wird. Der Ort verfällt, die Natur erobert ihn zurück. In den verlassenen Häusern toben sich die Kinder wie die Vandalen zerstörend und brandschatzend aus.
Mit Matz’ siebtem Geburtstag hat alles ein jähes Ende. Das ist traditionell der Tag für einen väterlichen Initiationsritus. Die gesamte Familie (außer der Mutter, die keine Zeit für solchen Müßiggang hat) schaut zu, wenn das Geburtstagskind zum ersten Mal eine Stange Dynamit zünden darf. Der Vater erteilt Anweisungen, die anderen grölen »zum Geburtstag viel Glück«. Doch es wird das Gegenteil eines »Happy birthday«. Noch am selben Tag zerstreuen sich die Älteren in alle Winde und nehmen ein Geheimnis mit.
Aus gegebenem Anlass ruft Albert Cardinal dreißig Jahre später alle seine Kinder zusammen. Solch ein Familientreffen war von allen sehnsüchtig erhofft worden – und wird doch eine für alle schwierige Zeit der Aufarbeitung.
Nacheinander lässt die Autorin die Ereignisse von sechs der jetzt erwachsenen Kinder erzählen, die sich gemeinsam erinnern wollen. Jedes fügt dem bereits Bekannten neue Details hinzu, was manche individuelle Perspektive revidiert. Wir erfahren, wie das traumatische Ereignis den Lebensweg der Hauptakteure ganz unterschiedlich beeinflusst hat, wie jeder von ihnen mit seinen Gewissensnöten fertig zu werden versuchte. Auch die inzwischen greisen Eltern, die früher manche Rätsel aufgegeben hatten, rücken ins Scheinwerferlicht: »Vater, ein Phantom seines wahren Ichs, der seine Persönlichkeit vor uns verbarg«; Mutter, gehetzt und kopflos, stets in panischer Angst, das eine oder andere Kind vergessen zu haben, kennt sie alle »besser als wir selbst. Sie hat uns aus der Wolle ihrer Seele gestrickt, sie kennt uns auf rechts und auf links, sie findet jede verlorene Masche wieder«.
Der Frankokanadierin Jocelyne Saucier ist mit »Les héritiers de la mine« , dem zweiten ihrer bislang vier Romane (bereits 2000 erschienen, aber erst jetzt von Sonja Finck und Frank Weigand für den Insel-Verlag erstmals ins Deutsche übersetzt), ein inhaltlich und sprachlich außergewöhnliches, emotional tief berührendes und spannendes Werk gelungen.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2019 aufgenommen.