Ihr Königreich
von Jo Nesbø
Die Beziehung zwischen zwei ungleichen Brüdern wandelt sich. Hat Roy den jüngeren Carl in der Jugend stets beschützt und aus mancher Not herausgehauen, stehen sie sich nach Carls Rückkehr in sein Heimatdorf als Rivalen gegenüber. Und längst vergessen geglaubte Unglücksfälle drängen wieder ans Tageslicht.
Eine Familie am Abgrund
Der Bauernhof der vierköpfigen Familie Opgard liegt auf einer Berghöhe in der Nähe des norwegischen Dorfes Os. Wer hinauf oder ins Tal hinab möchte, muss auf einer Strecke mit zahlreichen Haarnadelkurven an einem Abgrund entlang fahren. Wie ein schwarzes Loch scheint die Tiefe immer wieder Menschen und Autos zu verschlingen, die der Gefahr zu nahe kommen oder unachtsam sind. Das symbolstarke Verhängnis ereilt nicht zuletzt die Eltern Opgard selber.
Der abgelegene Ort ist Schauplatz eines Familiendramas. Anders als wir es vom Autor dieses Romans kennen, sind es nicht körperliche Grausamkeiten, die die Handlung prägen, sondern die Psychologie, die Einflussnahme der Charaktere aufeinander, das Spiel um Unterwerfung, Ausbeutung, Dominanz, um Stärke und Schwäche. Die Wurzeln sind in der Philosophie zu finden, auf die Raymond Opgard seine beiden Söhne von Jugend an einschwört: »Wir sind eine Familie. Wir haben einander und sonst niemanden. Freunde, Geliebte, Nachbarn, die Dorfbewohner und Landsleute, alles Illusion. Wenn es eines Tages wirklich darauf ankommt, sind sie nichts wert. Dann heißt es, wir gegen sie […]. Wir gegen alle anderen.«
Roy, der Ich-Erzähler, ist der ein Jahr ältere und der härtere der beiden Brüder, die im sonderbaren Mikrokosmos dieser Familie auf dem wenig ertragreichen Bauernhof aufwachsen. Bei einem Onkel macht der wortkarge, introvertierte, argwöhnische junge Mann eine Lehre als Automechaniker.
Ganz anders Wesensart und Leben seines Bruders Carl. Der oberflächliche Luftikus, »ein Optimist, der mehr versprach, als er halten konnte«, mischt auf Dorffesten gern die Damenwelt auf, verlobt sich mit der Tochter des Bürgermeisters – und beginnt gleichzeitig ein Techtelmechtel mit deren bester Freundin. Manche Eifersüchtelei, die auf Carls Konto geht, muss der robustere große Bruder für ihn mit Faustschlägen aus der Welt schaffen.
Roys dominante Rolle entschied sich in einer zentralen Episode ihrer Jugend. Da verletzte Carl den Jagdhund, den der Vater über alles liebte, mit der Flinte, schaffte es aber nicht, das Tier mit dem Messer von seinen Sterbensqualen zu erlösen. Das übernahm Roy und wurde so zum Ausputzer in chaotischen Notlagen, zum Lenker und Beschützer seines Bruders. Doch er erfand auch das Bild von Carl als mutigem, verantwortungsvollem, entscheidungsstarkem Sohn, das den Vater beeindruckte und stolz machte: »zwei Söhne, die sich heute als Männer bewiesen haben.«
Nach dem Unfalltod der Eltern trennen sich die Wege der beiden ungleichen Brüder. Carl geht in die USA, um zu studieren, wird weiterhin von Frauen umschwärmt, wandelt sich zum Dandy und macht große Geschäfte als Investor. Roy pachtet eine Tankstelle mit kleiner Autowerkstatt. Völlig allein lebt er als Erwachsener noch immer auf dem elterlichen Hof.
Zwei Jahrzehnte später fährt dort ein schwerer Cadillac DeVille vor, wie ihn auch Vater Raymond Opgard gefahren hatte. Ihm entsteigen der hochgewachsene Carl sowie seine Ehefrau, die karibische Schönheit Shannon Alleyne. Der Finanzguru und die Architektin haben mehr im Gepäck als nur die Kleidung für eine Stippvisite in der Heimat. Sie möchten die öde Bergregion in eine grandiose Zukunft führen und versprechen der kleinen Dorfgemeinschaft Wohlstand und Sicherheit. Wir wittern von Anfang an, dass Carls gigantische Pläne wohl kaum uneigennützig sein werden, doch die von Natur aus eigentlich zurückhaltenden Hinterwäldler sind beeindruckt. Nach und nach entwickelt der Autor, indem die Erzählung zwischen den verschiedenen Zeitphasen hin und her springt, die Hintergründe aus Carls Jahren in Amerika.
Verdachtsmomente gibt es zuhauf in diesem Roman. Schon der Tod der Opgard-Eltern lässt dem Dorfpolizisten Sigmund Olsen keine Ruhe. Er befragt Carl und besichtigt den Unfallort, muss für seine kritische Neugier aber teuer bezahlen. Erst im Rückblick erfahren wir das gesamte Ausmaß der düsteren Familientragödie, die auf dem Hof lastet, das gesamte Leben der Betroffenen überschattet und manche ihrer Entscheidungen bestimmt.
Der norwegische Bestsellerautor Jo Nesbø hat sich als Garant für spannende Kriminalromane etabliert. Die Reihe mit dem alkoholkranken Hauptkommissar Harry Hole schockte zudem durch ein gerüttelt Maß an Brutalität. Der neueste Titel »Kongeriket« (kein »Harry Hole-Band«, aber ebenfalls von Nesbø-Stammübersetzer Günther Frauenlob übersetzt) weicht inhaltlich und im Spannungsaufbau deutlich von der Kultserie ab. Er ist weniger als Krimi konzipiert denn als Psychostudie über die beiden ambivalenten Protagonisten. Roy ist im Grunde der aufrichtigere Mensch. Er setzt sich für seine Mitarbeiter ein, kämpft gegen Ungerechtigkeiten, sehnt sich nach Geborgenheit und Liebe. Aber ihn belastet und überfordert die ihm zugefallene Aufgabe, seinen jüngeren Bruder zu beschützen. Um ihr gerecht zu werden, lädt er immer mehr Fragwürdiges auf sich und kann sein Urteil, versagt zu haben, trotzdem nicht abmildern. Permanente Gefühle von Schuld und Scham sind die quälende Folge.
Am Ende des Romans bleibt dennoch nur wenig Nachhall. Zu komplex ist die Erzählstruktur mit ihren verästelten Haupt- und zahlreichen Nebensträngen (von denen etliche kaum Erkenntnisgewinn bringen), zu groß die Zahl der Personen (viele nicht bedeutsamer als die Gesichter auf Werbeplakaten am Wegesrand), zu kleinschrittig die unzähligen Verstrickungen, Verwicklungen, Wendungen und Turbulenzen des Geschehens. Aber »Ihr Königreich« ist allemal ein guter Unterhaltungsroman – ein anderer, ein leiserer Jo Nesbø.