Auftragskiller, zart besaitet
Good-bye, Harry Hole! Mit seinem neuen Thriller hat der norwegische Bestsellerautor Jo Nesbø einen radikalen Schnitt vollzogen. Den legendären Serienhelden Harry Hole, einen Polizisten der kaputten Sorte, dem er Weltruhm und Wohlstand verdankt, hat er in den Ruhestand verabschiedet. An seine Stelle tritt einer, für den der Ausgemusterte wahrscheinlich nur Verachtung aufgebracht hätte. Der Neue steht auf der anderen Seite des Gesetzes – Olav Johansen ist ein Mörder und, schlimmer noch, ein Weichei. Zumindest auf den ersten Blick.
»Blood on Snow: Der Auftrag«, von Günther Frauenlob übersetzt, spielt im Jahr 1977 kurz vor Weihnachten im damals noch geruhsamen Oslo. Der Drogenhandel auf der »Russlandroute« hat sich gerade etabliert, aber das organisierte Verbrechen steckt noch in den Kinderschuhen. Besonders durchsetzungsstark und klug hat Daniel Hoffmann agiert, der seit einem Studienaufenthalt in Oxford einen Faible für die feine englische Art pflegt und mit »Sir« angeredet zu werden wünscht. Jetzt rückt ihm einer auf die Pelle, den man nur »der Fischer« nennt. Im Gegensatz zu den anderen »Scharlatanen« und »Amateuren«, die sich im Frauenhandel und auf dem Heroinmarkt tummeln, ist »der Fischer« kein Idiot, sondern ein ernstzunehmender Konkurrent.
Gut, dass Hoffmann sich auf die Dienste eines zuverlässigen freien Mitarbeiters stützen kann. Olav Johansen schafft ihm alle lästigen Probleme vom Halse. Ohne viel Federlesens führt er seine Aufträge aus, kassiert seinen Lohn und basta. Seine Berufsbezeichnung ist »Expedient«, vulgo Auftragskiller, und »expediert« werden zumeist Leute des Fischers.
Dabei ist die Geschäftslage optimal. Wie Ich-Erzähler Olav resümiert, drücken all die vielen Junkies so viel Geld ab, dass sich sowohl Hoffmann als auch der Fischer eines hinreichenden Auskommens erfreuen könnten. Ihre todbringenden Hahnenkämpfe hält Olav schlicht für unsinnig und überflüssig. Es sind halt zwei Männer, die beide absolut nicht »mein Talent [haben], sich unterzuordnen«, »einfach mal ein Auge zuzudrücken«.
Olav Johansen gibt sich als Krimineller der paradoxen Art, als sanfter Kapitalverbrecher. Wenn er nicht mordet, führt er ein stilles, zurückgezogenes, einsames Privatleben. Obwohl Legastheniker, müht er sich geduldig im Briefeschreiben (»ich schreibe langsamer, als ein Stalaktit wächst«). Vor allem liest er gerne, einfühlsam und mit Verstand. Sein Lieblingsbuch, »Die Elenden« von Victor Hugo, rührt sein empfindsames Herz schon seit seiner Kindheit, und seither hadert er mit dem Schicksal des Protagonisten Jean Valjean. Jahrelange Haft, bloß weil er ein Stück Brot für die hungernden Kinder seiner Schwester gestohlen hatte? Und danach nur noch der Wunsch, »Vergebung für seine Sünden« zu erlangen und ein »guter Mensch« zu sein? Das nimmt Olav dem Autor nicht ab – und schreibt die Geschichte so um, dass Jean Valjean als ›guter Mörder‹ dasteht. Damit stylt Olav quasi sich selbst.
Wie soll so ein »schwaches, sensibles Seelchen« wie Olav sein Brot verdienen? Was hat er nicht alles ausprobiert. Nach Raubüberfällen setzte ihm das schlechte Gewissen zu, weil er bei den Opfern entsetzliche psychische Folgen ausgelöst hat. Als Fluchtwagenfahrer disqualifiziert ihn sein auffällig unauffälliger Fahrstil, der ihn und zwei andere erst kürzlich in den Knast beförderte. Drogen dealen, Geld eintreiben? Nicht das Richtige für einen, der es »kaum schafft, bis zehn zu zählen«. Und für ein Engagement im Prostitutionsmetier ist sein Herz zu weich, verliert er zu leicht den Kopf. Immerhin bildet die Liste seinen gar nicht so zimperlichen Lebenslauf ab.
Ganz pragmatisch hat Olav gegeneinander abgewogen, was er kann und was nicht. Schlussendlich ist er nur als »Expedient« zu gebrauchen, wobei er sich damit tröstet, dass er nur Männer tötet, »die es irgendwie verdient haben«.
Als Daniel Hoffmann sich jetzt wieder bei ihm meldet, braucht Olav allerdings Bedenkzeit, und er hat gute Gründe zu zögern: »Ich sollte seine Frau expedieren.«
Mich hat »Der Auftrag« hingegen rundweg begeistert. Ein überschaubarer Krimi von knapp zweihundert Seiten, auch optisch apart aufgemacht. Ganz im Gegensatz zu den komplexen, auf zig Ebenen und Schauplätzen spielenden Harry-Hole-Krimis ist die Handlung hier leicht nachvollziehbar und wohltuend stringent aufbereitet wie in ›klassischen‹ Vorbildern aus den Siebzigerjahren. Ein Retro-Krimi ist das freilich keineswegs. Er bietet vielmehr die bewährten Nesbø-Ingredienzien und genügend Stoff, um den Leser umfassend zu beeindrucken und immer wieder aufs Neue zu überraschen, denn Olav gerät heftig zwischen die Fronten der rivalisierenden Gangsterbanden und hinterlässt jede Menge »Expedierte«.
Zweifellos verbucht aber der erstaunliche Charakter des Protagonisten die meisten Überraschungspunkte zugunsten des ›neuen Nesbø‹. Olav Johansen ist ein intelligenter und amüsanter Tiefstapler mit feinem Humor und Selbstironie. Sein Erzählstil ist eingängig, kurz und bündig, präzise, sachlich und emotionslos, wartet aber auch mit poetischen Anflügen auf, wenn Literatur oder Liebe seine zarten Saiten zum Klingen bringen. Aber es dauert nicht lange, bis wir das Schauspiel dieses talentierten Selbstdarstellers durchschauen. In Wirklichkeit kann einen abgebrühten Vollprofi wie ihn rein gar nichts aus der Ruhe bringen.
Mit diesem klugen Kopf hat Jo Nesbø eine schillernde Figur geschaffen, die viel Potenzial für weitere Folgen bietet. Doch gemach – die Zukunft gehört nicht Olav Johansen. Ende Februar 2016 erscheint »Blood On Snow. Das Versteck« – ohne Olav, wohl aber wieder mit dem Fischer. Der hetzt einen neuen Gegenspieler namens Jon – nicht durch Oslo, sondern in den abseitigen Weiten des hohen Nordens, wo die Mitternachtssonne einen in den Wahnsinn treiben kann ... Jo Nesbø hält sich für die Zukunft viele Türen offen.