Ein ›Moses‹ aus Mulderigg
Die uns bis dato unbekannte britische Autorin Jess Kidd (*1973) sollte man sich unbedingt merken. Mit ihrem Erstling »Der Freund der Toten« hat sie einen köstlich amüsanten, zugleich abgrundtief düsteren, spannenden Lesegenuss vorgelegt. Der Plot – Waisenkind sucht als junger Erwachsener nach seiner Herkunft – ist nicht neu, aber Jess Kidds Bearbeitung setzt sich von anderen deutlich ab. Für ihr bestechendes Sprachtalent gilt ohne weiteres, was sie aus einem irischen Pub schildert: »Worte können fliegen. Sie sausen durch Fenster, über Zäune ... von Mund zu Ohr, von Ohr zu Mund ... unterwegs gewinnen sie an Tempo und Gewicht und Substanz und Schwerkraft. Bis sie mit einem satten Geräusch landen, Wurzeln schlagen und so schnell wachsen wie besonders unbezähmbare Bohnenranken.« Mit überbordender Fantasie schreibt sie mal poetisch, mal magisch-fantastisch, mal schnoddrig-derb, gewürzt mit irisch-folkloristischem Touch. Der Mix macht's, dass man dieses Buch begierig verschlingt.
Die Handlung spielt in einem kleinen irischen Dorf auf zwei Zeitschienen, mal in den Fünfzigern, mal in den Siebzigerjahren. Dort in der Provinz tritt ein ganzes Panoptikum schräger Typen auf – skurrile, schlampige, ruppige, mehr oder weniger sympathische und durchweg einzigartige, die man in der Art, wie sie mit ihren Mitmenschen umgehen, auf Anhieb interessant findet.
Nicht weniger originell sind die Verstorbenen des Dorfes, die nachts aus den Gemäuern hervorklettern, das Geschehen vom Rande aus beobachten und gelegentlich gar ein bisschen aktiver werden, als man hoffen dürfte. Sie »schweben zaghaft ... verharren jäh und gaffen«, aber es zieht sie nur zu den »Verwirrten«, den »Gebrochenen«, »zu denen mit großen Rissen und Lücken in ihren Geschichten, die die Toten furchtbar gern füllen würden«. Wer »wie die meisten von uns mit einem beruhigenden Mangel an Visionen gesegnet ist«, kann diese stillen Gäste nicht einmal sehen.
Protagonist Mahony jedoch entdeckt sie überall, denn seine Geschichte ist nichts als ein Flickenteppich. Schon deshalb sind die Verstorbenen ihm wohlgesonnen und bleiben in seiner Nähe.
Die Nonnen, bei denen er groß wurde, haben ihm erzählt, er sei als Baby in einem Korb »mit einer Decke aus Laub und einem Kopfkissen aus Rosenblütenblättern« vor der Tür des Waisenhauses St. Martha in Dublin abgelegt worden, und Mahony hat ihnen diese hübsche Legende, die ihn ein bisschen mit dem alttestamentarischen Moses verbindet, immer gern abgenommen. Was sie still für sich behielten, war ein Brief samt Foto aus dem Korb.
Um der Wahrheit auf die Schliche zu kommen, muss Mahony erst 26 Jahre alt werden. Da sucht Father McNamara den inzwischen berüchtigten Ehemaligen in seiner Dubliner Stammkneipe auf, übergibt ihm den verschlossenen Briefumschlag, und Mahony erfährt daraus seinen wahren Namen (Francis Sweeney) und die traurigen Tatsachen seiner Herkunft. Seine Mutter Orla war blutjung zur Schande ihres Dorfes geworden, weshalb man ihr den Jungen wegnahm und den frommen Frauen in Dublin überließ. »Ich werde mal dahin fahren, die Lage peilen«, raunt Mahony seinem Thekennachbarn zu.
Mulderigg, das Kaff, das Mahony am Abend mit Bus und Rucksack erreicht, scheint ein Idyll des Friedens und der Ordnung, wo sich die Frösche im Synchronschwimmen üben und die Mammys um Kinder und Abendessen kümmern, während die Daddys danach lechzen, dass sich endlich die Tür zum Pub öffnet. Dessen Besitzer Tadhg Kerrigan, der jede gottverdammte Seele des Dorfes kennt, durchschaut den Neuankömmling sofort als »Dichter oder Großmaul«, der »sich dringend mal waschen« müsste, und dem er seine Unschuldsbehauptung, er wolle sich hier »ein Weilchen von der Großstadt« erholen, selbstverständlich nicht abnimmt. Vielmehr gerät zum ersten Mal seit langer Zeit sein Kreislauf in Wallung. Nachdem Tadhg in Mahonys lachende Augen geblickt hat, kann selbst ein rasch heruntergerattertes stummes Gebet die »dunkelsten von Mulderrigs dunklen Träumen« nicht mehr vertreiben: Diese Augen hat Tadhg »schon mal gesehen«.
Dass Mahony hier in ein Wespennest stoßen wird und die Dorfbewohner ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit hüten, ahnen wir, seit wir gleich auf den ersten Seiten Zeugen sämtlicher Details von Orlas grausamer Ermordung im Jahre 1950 wurden. Doch niemand im Dorf will etwas von so einer Bluttat gewusst haben. Jeder behauptet, das Mädchen sei vor Jahren fortgegangen, um ihr Glück woanders zu finden, und habe ihren Bastard mitgenommen. Nur mühsam wird Mahony das Dunkel um die Geschichte seiner lebenslustigen Mutter erhellen können, die in diesem bigotten Dorf nie eine Chance hatte, sie selbst zu sein.
Bei seinen Nachforschungen steht Mahony nur eine Verbündete zur Seite, die verschrobene »alte Hexe« Mrs Cauley. Einst Muse unzähliger kolossal talentierter Künstler und selbst eine begnadete Schauspielerin, ist sie nun seit zwanzig Jahren einziger zahlender Dauergast in der baufälligen Pension, in der auch Mahony ein Zimmer bezieht. Wer die Bibliothek – das »literarische Labyrinth« aus Stapeln von Büchern, Zeitschriften, Drehbüchern nebst allerlei Quellen übler Gerüche – durchschritten hat, erreicht eine Lichtung, wo die kahlköpfige alte Frau, beschienen von einer Leselampe, in ihrem Bett residiert. Resolut und ideenreich ist sie dem jungen Mann eine große Hilfe, denn sie kennt ihre Pappenheimer. Keiner der Dorfbewohner kommt bei ihr gut weg. Die eine klaut, die andere nervt und lästert, die dritte petzt jegliches Vergehen dem Priester, und die Neugier der Nachbarin provoziert die unwürdige Greisin gern selbst, indem sie ihre Unterwäsche aus dem Fenster schwenkt.
Jess Kidd erzählt von großer Schuld, von Versuchung und abscheulichen Verbrechen. Die Beklemmung, die sich angesichts der verlogenen, verderbten, scheinheiligen Dörfler einstellt, löst sich dank der Märchenhaftigkeit der verwunschenen Fantasiewelt und der irrealen Originalität der monströsen und zugleich urkomischen Situationen, die die Autorin genüsslich ausmalt.
Die nackte Wahrheit aber kennt einzig der unbekannte Verfasser des Briefes.
Diesen gelungenen Debütroman (»Himself« , von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann grandios ins Deutsche übersetzt) habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Sommer 2017 aufgenommen.