Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt
von Jesmyn Ward
Eine Mutter, jung und haltlos, fährt mit ihren beiden Kindern durch Mississippi, um deren Vater Michael aus dem Gefängnis abzuholen. Ein aberwitziger Roadtrip, der die Geschichte zweier Familien erzählt – einer schwarzen, einer weißen – und das ganze Elend der Südstaaten.
Die Toten zeigen den Weg
Das Mississippi-Delta, eine feucht-heiße, grüne Pflanzenwüste. Weiße, seit über zweihundert Jahren die selbsternannten Herren über das Land, die Natur und alles, was dort lebt. Schwarze, seit Generationen ausgenutzt, ihrer Würde beraubt, zermalmt. Einzelschicksale und ihre Verflechtungen, in denen sich das Allgemeine kristallisiert. Geschichten von Reisen, die an Grenzen führen, von Gewalt, Leid, Armut, kleinen Hoffnungen, großen Enttäuschungen handeln. Südstaatenepen mit diesen Elementen gibt es viele und seit Langem, aber nur wenige sind so erschütternd, so kraftvoll, so realitätsnah und so poetisch wie dieses. Der Roman von Jesmyn Ward, die manche Kritiker auf Augenhöhe mit Nobelpreisträger William Faulkner sehen, wühlt auf, deprimiert, macht wütend, lässt ratlos zurück, entzündet aber auch ein Flämmchen der Hoffnung.
Drei Generationen umfasst das Personal aus Lebenden und Toten. Zwei Familien leben in getrennten, unvereinbaren Welten. In der mittleren Generation ergibt sich eine Verbindung zwischen ihnen, doch statt einer Brücke entsteht Chaos. Denn die einen haben eine dunkle, die anderen eine helle Haut, und allein das zählt vielerorts noch heute im Süden der USA.
»Big Joseph«, einst der Sheriff des Ortes, ist ein wohlhabender Mann, den ein einfaches Credo lenkt: »Nigger bleiben Nigger.« Sein Sohn Michael findet ihn ein Relikt aus der Vergangenheit. Sein eigenes Weltbild ist flexibel genug, dass er in der Highschool die siebzehnjährige Farbige Leonie schwängert, mit ihr zusammen bleibt und ein paar Jahre später ein zweites Kind bekommt.
Die beiden Kinder, Joseph und Michaela mit Taufnamen, Jojo und Kayla im Alltag, wachsen bei ihren dunkelhäutigen Großeltern auf, die sie »Mam« und »Pop« nennen. Während Jojo »Big Joseph« in seiner ganzen Kindheit nur zwei Mal zu Gesicht bekommen hat und seine Mutter Leonie mit dem Gewehr bedroht wird, als sie das Terrain ihres Schwiegervaters betreten möchte, sind Mam und Pop für den Jungen die zentralen Bezugspersonen. Von ihnen erhält er Liebe, Fürsorge und Weisheit. Als er elf war, hat Mam ihn aufgeklärt, und zu seinem dreizehnten Geburtstag – mit dem die Romanhandlung einsetzt – hält Pop es an der Zeit, einen mutigen, verantwortungsvollen Erwachsenen aus ihm zu machen. Als eine Art Initiationsritus schlachtet er mit ihm eine Ziege.
Jojos Eltern fallen als Erzieher weitgehend aus. Michael ist oft abwesend; er arbeitet auf der Bohrinsel »Deepwater Horizon« (wo er die Katastrophe von 2010 miterlebt) und muss dann ein paar Jahre im berüchtigten Staatsgefängnis Parchman Farm im Norden von Mississippi verbringen. Leonie ist eine oberflächliche, egoistische Person, die ihr Leben achtlos und verantwortungslos führt. Mit Drogen aller Couleur verschließt sie ihre Augen. Da sie ihre Kinder bei Pop und Mam gut aufgehoben weiß, interessiert sie sich nicht einmal mehr für ihre Bedürfnisse, selbst als ihre Mutter schwer erkrankt und ans Bett gefesselt ist. Dass Bruder und Schwester wie siamesische Zwillinge aneinanderkleben, dass Jojo für Kayla alles tun würde, dass sich Kayla nur in seinen Armen wohl und behütet fühlt, löst in ihr Wut aus, vielleicht weil sie solche Geborgenheit nicht empfinden konnte.
Jojos Geburtstagsfeier endet mit einem überraschenden Anruf. Michael wird vorzeitig entlassen. Das bringt zwei Tage später einen Roadtrip zwischen Farce, Katastrophe, Wahnsinn und Absurdität in die Gänge. Gegen ihren Willen müssen auch die Kinder mit, um Michael abzuholen. Während Leonie allen möglichen Krempel in ihren ohnehin vermüllten Chevrolet stopft, denkt Jojo vorsorglich an die Reste vom Geburtstagsessen, Pop steckt ihm ein Voodoo-Ledersäckchen mit einer Feder, einem Tierzahn und einem Flusskiesel zu, und der Junge versichert ihm, dass er noch alles kann, was Pop ihm beigebracht hat, wie etwa Reifen wechseln. Dann muss noch Misty, Leonies weiße Arbeitskollegin aus der Country-Bar, abgeholt werden, denn auch ihr Ehemann sitzt in Parchman ein. Dies und die gemeinsame Abhängigkeit von Drogen jeglicher Art verbindet die beiden Frauen.
Zwei Stunden dauert die Fahrt in den Norden, unterbrochen durch ein paar Stopps für den Dope-Nachschub. Kayla kotzt sich die Seele aus dem Leib, nachdem sie (mangels Frühstück) irgendeinen Dreck vom Boden des Autos in ihren Mund gesteckt hat. Im Übrigen ist die Tour nach Parchman und zurück wie nebenbei angefüllt mit Erzählhäppchen und Erinnerungen, aus denen sich am Ende die schlüssige Geschichte einer farbigen Familie zusammenfügt, mit menschlichen Verlusten, blutigen Narben, Schmerzen, Ängsten und Leid. Es ist die Geschichte eines ganzen Volkes.
Erzählt wird all dies abwechselnd von Jojo und Leonie. Doch es gibt noch eine dritte Perspektive. Sie gehört denen, die im Unrecht starben, denen man ein Begräbnis verweigerte, die man in irgendwelchen Löchern verscharrte. Als Opfer nie gesühnter Verbrechen der Vergangenheit erheben sie eine bedeutende, kraftvolle Erzählstimme, die den Leser bis zur apokalyptischen Schlussszene in den Bann ziehen wird.
Ein solcher »unburied« ist das Kind Richie. Weil er beim Essensklau für seine hungernden Geschwister erwischt wurde, wurde er zur Zwangsarbeit in der Arbeitskolonie verurteilt. Mit zwölf war er der Jüngste in Parchman. Die Verbrechen, die ihm angetan wurden und ihn schließlich töteten, sind unaussprechlich. Und »wenn jemand auf schlimme Art stirbt …, dass selbst Gott es nicht mitansehn kann, dann bleibt der Geist zur Hälfte da und wandert herum, sehnt sich nach Frieden wie ein durstiger Mann nach Wasser«.
So kommt es, dass auch der klapperdürre Geist Richie mit von der Partie ist, eingezwängt auf dem Boden des Autos zwischen Vordersitz und Kaylas Kindersitz. Jojo besitzt die seltene Gabe, die Toten zu sehen und mit ihnen kommunizieren zu können. Er kennt Richie schon aus Pops erzählten Erinnerungen, denn auch der musste vor langer Zeit ein paar Jahre in Parchman schuften. Die schrecklichsten Details hat Pop seinem Enkel freilich erspart, und überhaupt ist seine Geschichte ein »mottenzerfressenes Hemd, zu Fetzen geschreddert: Die Form stimmt, aber die Einzelheiten sind ausradiert«. Jetzt könnte Richie Jojo erzählen, was Pop ausgelassen hat, und Richie hat selbst noch Fragen an seine Vergangenheit.
Ein anderer Verstorbener, der die Lebenden begleitet, ist Given, Leonies drei Jahre älterer Bruder. Den hat »Big Josephs« zweiter Sohn auf dem Gewissen, denn er erschoss ihn hinterrücks bei einer Jagd. Ein unglücklicher Unfall, wie es später hieß. Given erscheint Leonie nur, wenn sie im Drogenrausch ist. Dann ist er besorgt, ermahnt sie, ihr Verhalten zu ändern, ihre Geschichte anders weiterzuleben. Treu begleitet er Mam auf ihrem langsamen Weg ins Jenseits.
Die Geister all der niemals bestatteten Toten – Frauen, Männer, Mädchen, Jungs und Babys – hocken wie schwarze Silberkrähen in den Ästen eines Baums, singen und weinen, und ihre Augen sprechen, was man nicht in Worte fassen kann. Jojo kann ihren Anblick nicht ertragen, will sie mit einem Stock vertreiben, doch es gelingt ihm nicht. Erst Kaylas dahingebrabbeltes, unverständliches Wortgewirr, ihre gesungene Melodie, die sich mit dem Rauschen der Bäume, dem Geflüster der Geister verwebt, nimmt ihnen die Angst. Sie entspannen, hauchen ein »Ja«, stimmen mit Kayla ein: »nach Hause«.
Jesmyn Wards Roman »Sing, Unburied, Sing« , von Ulrike Becker ganz hervorragend übersetzt, ist ebenso außergewöhnlich wie die Autorin talentiert. Sie wurde 1977 in DeLisle, Mississippi, geboren und erhielt 2017 schon zum zweiten Mal den National Book Award for Fiction. Meisterhaft und beeindruckend, wie sie in ihren Schilderungen des Grauens, des Verbrechens und des Todes drastischen Realismus und Poesie verbindet. Mit analytischer Präzision legt sie das selbstgerechte, oft genug gesellschaftlich akzeptierte Vorgehen der Täter bloß, schonungslos beschreibt sie die mitleidlose Bestialität eines Lynchmordes, einfühlsam das Leid der Opfer. In der Aussichtslosigkeit ihres Daseins in Armut, Unterdrückung und Diskriminierung finden die Farbigen Trost bei rätselhaften Göttern, Geistwesen und Voodoo – oder suchen Zuflucht in Drogen.
Ein aufkeimender Hoffnungsschimmer ist die heranwachsende Generation. Jojo und Kayla, von ihren Großeltern bedingungslos geliebt und unterstützt, tragen das Wissen um ihre rechtlosen, misshandelten Vorfahren in ihren Seelen. Die irrsinnige Autofahrt ist ihre eigene Prüfung, bei der sie Todesängste bewältigen müssen. Kayla geht an der Auszehrung ihres entkräfteten Körpers fast zugrunde, Jojo wird von einem Polizisten in Handschellen gelegt und mit seiner Pistole am Kopf bedroht. Was sie rettet und auf eine Zukunft in einer besseren Gesellschaft hoffen lässt, sind ihre gegenseitige Verbundenheit, ihre intuitive Fürsorglichkeit, ihr Verantwortungsbewusstsein.
Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2018 aufgenommen.