Ein Leben ohne Normalität
Trudy Swenson, 56, ist Professorin am Historischen Institut in Minneapolis. Ihr Spezialgebiet ist die Geschichte des Dritten Reiches. Im Auftrag des Zentrums für Holocauststudien soll sie (im Winter 1996) Zeitzeugen interviewen. Dazu passend hält sie ein Seminar zum Thema »Die Rolle der Frauen in Nazideutschland«. Sie will hinterfragen, in welchem Ausmaß die arische Frau »fanatisch antisemitische« Täterin und »Teil der Kriegsmaschinerie« war. Für eine differenzierte Sicht, wie sie ihr am Herzen liegt, sollen ihre Studierenden genauer hinsehen: Was bedeutete es, unter den bedrohlichen Bedingungen der allumfassenden Diktatur zu leben und Entscheidungen treffen zu müssen, von denen Leben und Tod abhängen konnte? Im Rückblick ist es offensichtlich, dass die mutigen Frauen, die ihr Leben riskierten, um Juden zu helfen, das Richtige getan haben. Doch konnten nicht Situationen auftreten, in denen »der Zweck die Mittel« heiligte, in denen eine Frau zu Handlungen gezwungen war, die sie eigentlich für falsch hielt, die ihr zutiefst zuwider waren? Rechtfertigt beispielsweise die Aussicht, das eigene Leben und das anderer sichern zu können, sich auf eine Beziehung mit einem SS-Schergen einzulassen?
Trudys Fragestellung kommt nicht von ungefähr. Sie nähert sich auf diesem Weg der ihr noch unbekannten Geschichte ihrer eigenen Familie an. Das Verhältnis zu ihrer Mutter Anna (Jahrgang 1920) ist schon immer kühl-distanziert gewesen. Seit dem Tod ihres Vaters Jack drei Jahre zuvor führten sie nur noch unumgängliche Pflichtbesuche zu Annas Farm in New Heidelberg. Nachdem die Mutter zuletzt gesundheitlich und mental schwer abgebaut, sogar ihr altes Haus in Brand gesteckt hatte, brachte Trudy sie kürzlich in einem Pflegeheim unter.
Jetzt muss die Universitätsdozentin das verkommene Anwesen zum Verkauf vorbereiten. Viel Zeit kann sie dafür nicht investieren. Aber überall warten Reminiszenzen – billiger Schmuck, altmodische Kleidung, teils ungetragen, noch mit den Preisschildern versehen. In einer einzelnen Wollsocke in der untersten Schublade findet Trudy, was sie schon als Kind und Jugendliche immer wieder hervorgeholt und sich heimlich angesehen hatte: die »einzige Erinnerung an das Leben ihrer Mutter zur Zeit des Krieges«. Es ist ein goldfarbenes Metalletui, auf dem, von kleinen Diamanten gerahmt, ein silbernes Hakenkreuz prangt.
Öffnet man den Deckel, kommt eine Fotografie zum Vorschein. Anna, die junge Mutter, hält ihr Töchterchen Trudy auf dem Schoß. Das Kind trägt ein Trachtenkleid, hat die Haare zu Zöpfen geflochten. Hinter ihnen steht stolz und aufrecht ein SS-Offizier in voller Uniform, die Hand wie besitzergreifend auf Annas Schulter lastend. Seine Schirmmütze ist tief in die Stirn geschoben, so dass seine Gesichtszüge nicht zu erkennen sind. Aber Jack ist es nicht.
Als kleines Mädchen hatte Trudy ihre Mama nach dem Mann befragt: »Wo ist er? Warum ist er nicht hier bei uns? Er fehlt mir ...« Doch Anna verbot ihr, je wieder von ihm zu sprechen. Sie soll sogar jede Erinnerung an ihn auslöschen, denn »die Vergangenheit ist tot«. Anna hält sich an die Order, tabuisiert die Geschichte und weiß bis heute nicht, wer ihr wahrer Vater ist.
Jenna Blums Erstlingsroman »Those who save us« (erschienen 2004, jetzt von Yasemin Dinçer übersetzt) ist inhaltlich zweigeteilt. Zwei Handlungsstränge entwickeln sich zunächst unabhängig voneinander und werden alternierend erzählt – einer in der Gegenwart, der andere in den Jahren 1939/1940 in Weimar. Das von Trudy geleitete Projekt führt sie ganz am Ende zusammen – ein handwerklich geschicktes, aber recht konstruiert wirkendes Strukturkonzept.
Gerhard Brandt ist Anwalt in Weimar, NSDAP-Mitglied, Antisemit und politisch ambitioniert. Oft lädt er wichtige Persönlichkeiten zum Abendessen ein. Seit dem Tod seiner Frau hat die neunzehnjährige Tochter Anna sämtliche Hausarbeiten übernommen, und überdies ist sie eine hübsche Attraktion, für die sich eine erstklassige Partie finden lassen sollte. Wenn sich die gestiefelten und uniformierten Herren nach dem Essen zu geheimen Gesprächsrunden zurückziehen, ist die junge Frau freilich weder erwünscht, noch hat sie selbst irgendein politisches Interesse. Vielmehr widert sie des Vaters »geckenhaftes Speichelleckerverhalten« an.
Annas Herz schlägt für den früheren Hausarzt der Familie, den Juden Dr. Maximilian Stern. Wenn sie ihn besucht, spielen sie Schach, trinken Tee, kommen sich näher. Nicht nur sein Lächeln hat es ihr angetan, sondern auch die Kompetenz, Fürsorglichkeit und Bildung des nahezu doppelt so alten Mannes. Zwar warnt er sie, dass sie sich nach den neuen Rassegesetzen strafbar mache, wenn sie ihn aufsucht, doch die reichlich naive Anna lächelt seine begründeten Bedenken einfach weg.
Im März 1940 holt die Realität sie ein. Als die SS die Bewohner des jüdischen Viertels von Weimar verschleppt, findet Anna Max' Wohnung verwüstet und von ihm keine Spur. Sie hat Gerüchte gehört, wonach die Juden in ein Lager im nahen Buchenwald gebracht würden, aber was dort wirklich geschieht, davon hat sie keine Ahnung. Es stellt sich heraus, dass Max noch auf freiem Fuß ist und eine führende Rolle in der Widerstandsbewegung spielt. Anna versteckt und versorgt ihn auf dem Dachboden. Sie planen, mit gefälschten Papieren in die Schweiz zu flüchten und dort heimlich hergestelltes und weitergereichtes Bildmaterial über die Zustände im Lager Buchenwald zu veröffentlichen ...
In der Gegenwartshandlung lesen wir Protokolle der Interviews, die Trudy Swenson mit überlebenden Tätern und Opfern des Nazi-Regimes führt. Sie berichten von ihren Beobachtungen und vagen Vermutungen, von Gerüchten, Misstrauen und Verleumdung, von Loyalität und Verrat, von materieller Not, Verzweiflung und Gewissenskonflikten. In diesen Texten erfahren wir, ebenso wie in der weiteren Handlung um Anna Brandt, konkrete Beispiele der Demütigungen, denen Juden im Alltag ausgesetzt waren, und grausame Details der Misshandlungen, denen sie in den Lagern unterzogen wurden, teilweise im Namen »des wissenschaftlichen Fortschritts«.
Der Roman ist stark von der Biografie der Autorin geprägt. Jenna Blum, Tochter eines jüdischen Vaters und einer Mutter mit deutschen Großeltern, hat selbst intensiv über den Holocaust geforscht, Deutschland bereist und (als Interviewerin für Steven Spielbergs Stiftung Survivors of the Shoah) mit Überlebenden gesprochen. Ihre Recherchen haben keine unbekannten Fakten zutage gefördert oder neue Deutungen inspiriert, sie sind nicht einmal direkt in den Roman eingeflossen. Die Erkenntnisse kristallisieren jedoch in der fiktionalen Gestaltung der realistischen Protagonistin Anna Brandt, die mit beiden Beinen im Alltag ihrer Zeit steht. Ihre Tochter Trudy Swenson, die zweite Hauptfigur, ist keineswegs ein Ebenbild der Autorin, spiegelt aber zumindest deren eigenes Interesse daran, wie das Leben einer deutschen ›Durchschnittsfrau‹ im Nationalsozialismus ausgesehen haben mag.
Annas Leben nimmt eine drastische Wendung. Ein SS-Offizier kommt hinter die verschwörerischen Aktivitäten der Widerständler, die Lagerinsassen mit Nahrung und sogar Waffen versorgt haben. Max endet im Konzentrationslager, andere werden hingerichtet – doch Anna, die inzwischen ihre Tochter geboren hat, bewahrt der Offizier vor dem Tod. Mit allem, was er von ihr weiß, liegt ihr Leben vollständig in seiner Hand, und nur dank seines Schutzes kann sie weiterleben, sich um ihr Kind kümmern. Ihre Abhängigkeit nutzt er aus, um seine sexuellen Wunschträume mit ihr auszuleben. In drastischen Bildern schildert die Autorin die beschämenden, entwürdigenden Praktiken, die er Anna zumutet. »Alles, was ich je getan habe, habe ich für dich getan«, erklärt sie viele Jahre später ihrer Tochter Trudy.
Mit ihrem Roman leistet Jenna Blum einen Beitrag, um zu verwirklichen, was viele der befragten Zeitzeugen wünschten: »Die Welt soll wissen, was wir durchgemacht haben, damit es nie wieder geschieht.«