Zu Staub
von Jane Harper
Stunden vom nächsten Haus entfernt finden die australischen Farmer Nathan und Bub ihren Bruder Cam, mutterseelenallein in der glühenden Sonne verdurstet. Hat die unerbittlich grausame Natur ihn umgebracht, oder waren es mitleidlose Menschen, verroht von den brutalen Lebensbedingungen des Outback?
Ein einsamer Tod im Outback
Wer im dicht bevölkerten Europa wohnt (118 Einwohner pro Quadratkilometer, Deutschland 225), kann sich kaum vorstellen, was es im Alltag bedeutet, im Inneren des australischen Kontinents, dem Outback zu leben. Rein rechnerisch hat dort jeder mindestens einen Quadratkilometer für sich, gefühlt aber ist man von Horizont zu Horizont allein in einer leeren Welt der Extreme. In South West Queensland, wo Jane Harpers Roman »Zu Staub« angesiedelt ist, erstrecken sich Buschland, Stein- und Sandwüsten, soweit das Auge reicht, und in diesen unendlichen Weiten regieren Hitze, Trockenheit und Einsamkeit. Will man seine Nachbarn besuchen, muss man dafür drei Stunden Autofahrt auf den wenigen Sandpisten, die das Land durchziehen, in Kauf nehmen. Ansonsten können Monate vergehen, ohne dass einem ein einziger Geländewagen begegnet.
Wer sich in so einer Gegend niederlässt, muss nicht nur körperlich hart im Nehmen sein, sondern auch eine robuste Psyche besitzen. Vor einem halben Jahrhundert nahmen Carl und Liz Bright das Wagnis auf sich, in dieser Einöde Vieh zu züchten. Jetzt ziehen ihre Herden auf ihrer gigantischen Farm, 1500 km von Brisbane entfernt, frei ihre Bahnen und suchen Wasserstellen am Grenville River auf. Ab und zu treiben die Männer die Rinder – mehr als dreitausend sind es – mit Hubschraubern und auf Motorrädern zusammen, um schlachtreife Tiere auszusondern.
Carl Bright führte die Farm mit strenger Hand. Seine drei Söhne Nathan, Cameron und Lee, ein Nachzügler, der liebevoll »Bub« gerufen wird, wagten kaum aufzumucken. Harry war seit Langem fest angestellt, gehörte quasi zur Familie und hatte sich deshalb den Beinamen »Onkel« verdient. Außerdem halfen durchziehende Backpacker und Zeitarbeiter aus. Doch seit dem unerwarteten Tod des Patriarchen hat sich Einiges in der Familie verändert. Die Farm wurde in drei Teile aufgeteilt.
Cameron, 40, blieb auf der elterlichen Farm, die der Vater erbaut hatte und gut erhalten ist. Neben Mutter Liz, Onkel Harry und zwei Backpackern leben seine Ehefrau und zwei Töchter im Haus. Seit ihm sein Bruder Nathan aus wirtschaftlichen Gründen einen Teil seines geerbten Landes verkauft hat, besitzt Cameron die größte Fläche und die größte Zahl an Tieren aus der ursprünglichen Bright-Farm.
Nathan, 43, lebt auf seiner Farm ganz allein. Nach der Scheidung ist seine Frau mit dem gemeinsamen Sohn Xander nach Brisbane gezogen. Während der Weihnachtsferien ist der Sechzehnjährige zu Besuch beim Vater.
Das Terrain von Bub, 29, grenzt über viele Kilometer an Camerons Land. Die beiden Brüder haben sich per Funk verabredet, um einen Verstärkermast am etwa vier Autostunden entfernten Lehmann’s Hill zu reparieren. Wegen einer Autopanne verspätet sich Bub, und als er endlich bei dem Mast eintrifft, ist Cameron nicht aufzufinden. Über Funk versucht Bub, einen Kontakt herzustellen, doch Stunden verstreichen, ehe endlich ein Polizeiflugzeug die Gegend großräumig absucht. Der Pilot entdeckt Camerons leblosen, völlig dehydrierten Körper an einem markanten, von Spuklegenden umwobenen Ort in der Einöde, dem »Stockman-Grab« von 1890, wohin es niemanden zieht, der dort nicht unbedingt etwas zu erledigen hat.
Was in aller Welt hat Cameron dort gesucht, zweihundert Kilometer entfernt von Lehmann’s Hill und seinem Bruder? Warum hat er mit bloßen Fingern in den heißen, trockenen Boden ein Loch gescharrt? Warum hat er seinen funktionstüchtigen Geländewagen mitsamt reichlichen Wasser- und Nahrungsvorräten verlassen, um neun Kilometer weiter auf allen Vieren kriechend das Stockman-Grab zu umkreisen? Die Polizei untersucht den Leichnam und den unheimlichen Ort, findet jedoch keinerlei Anhaltspunkt, dass Cameron einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Hat der Mann womöglich selbst den Tod gesucht?
Diese Option hält Nathan für ausgeschlossen. Schließlich stand sein Bruder mitten im Leben und hatte alles gut im Griff – was der Ältere von sich leider nicht behaupten kann. Vor allem der Streit mit seiner Ex-Frau und der Kampf um das Sorgerecht für Xander haben ihn zermürbt, psychisch labil und anfällig für Suizidgedanken gemacht. So wird Nathan zu einem gebrochenen Protagonisten, der seine eigene tragische Geschichte zu schultern hat und nun auch noch die keineswegs so klare Vergangenheit seiner Herkunftsfamilie aufarbeitet. Die Erzählung wechselt somit zwischen Rückblenden in die Vergangenheit und der Beobachtung der gegenwärtigen Ereignisse.
Wer sich von dem zunächst gemächlichen Erzählfluss treiben und nicht von vermeintlich überflüssigen Wiederholungen demotivieren lässt, sondern lieber ein offenes Auge für die zahlreichen interessanten Details bewahrt, der wird erkennen, wie der Roman von Seite zu Seite an Drive gewinnt. Sauber, eindringlich und hautnah arbeitet die Autorin nämlich heraus, was der arbeitsreiche Alltag in der staubigen, unendlichen Weite des lebensfeindlichen australischen Outback bei manchen Charakteren anrichtet. Kommen die Brights – vier Männer und eine Frau – zunächst als ganz normale Familie daher, kernig, aber herzlich wie eine Down-under-Variante der Bonanza-Cartwrights, so stößt der älteste und fragilste Sohn, indem er immer tiefer unter die Oberfläche dringt, auf immer neue Abgründe, und sie ufern bis in die Gegenwart aus.
Was Nathan selbst angeht, so weiß er natürlich, dass er seit vielen Jahren für einen schweren Fehler bezahlt, der ihn einst an den Rand der Gemeinschaft verbannt hat. So kämpft er zwar um die Liebe seines Sohnes Xander, hat aber ein gutes Gespür dafür, welche Grenzen er nicht überschreiten sollte. Der Junge wiederum ist es, der die Fragen stellt, der die Recherche um die Umstände des Todes seines Onkels Cameron anstößt und gut zuhört.
Wenn die auf dem Cover lockende Genrebezeichnung »Thriller« auch wohlwollend übertrieben ist, so steigt die Spannungskurve dieses Romans doch kontinuierlich und beträchtlich an, getragen von immer neuen Einzelheiten und neuen Personen, von denen manche durchaus ein Mordmotiv mitbringen. Am Ende erwartet uns als Höhepunkt und Auflösung ein wahrer Knüller.
Jane Harper weiß, wovon sie schreibt. 1980 in Manchester geboren, verbrachte sie ihr erstes Lebensjahrzehnt mit ihren Eltern in Australien. Später studierte sie in Südengland und arbeitete als Journalistin bei der britischen Presse, bevor sie nach Melbourne zurückkehrte und eine Anstellung bei einer dortigen Zeitung fand. 2016 erschien ihr Debütroman »The Dry« (»Hitze« ), für den sie neben zahlreichen anderen Auszeichnungen den »Gold Dagger«, den wichtigsten britischen Krimipreis, erhielt. »Force of Nature« (»Ins Dunkel« ) erschien 2017, »The Lost Man« dann 2019. Ulrike Wasel und Klaus Timmermann haben den Krimi für Rowohlt ins Deutsche übersetzt.